Cover
Titel
Deutsche und Ukrainer. 1914 - 1939


Autor(en)
Golczewski, Frank
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1085 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossolinski-Liebe, University of Alberta

Frank Golczewski historisiert in seiner Monographie ein Problem, das bisher immer nur am Rande ein Gegenstand der historischen Forschung war. Die Geschichte der deutsch-ukrainischen Beziehungen zwischen 1914 und 1939 wurde bis zum Erscheinen der rezensierten Publikation zwar nicht gänzlich vernachlässigt, sie war aber über diverse Publikationen verstreut. Publikationen, die sich explizit mit der Problematik der deutsch-ukrainischen Geschichte auseinandersetzen, decken entweder, wie Frank Grelkas Dissertation1, nur kurze Zeiträume ab oder wurden von Zeitzeugen und Akteuren dieser Geschichte wie zum Beispiel dem OUN-Mitglied Roman Il’nyc’kyj2 im Prozess des Schreibens ideologisch codiert und mit tendenziöser Sinnstiftung – im Sinne von „Reinwaschungen“ – aufgeladen.

Golczewskis Monographie ist in elf Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel führt der Autor in die Diskurse über die Ukraine bis 1914 ein, in den drei folgenden wird die sehr ereignisreiche und chaotische Geschichte des Ersten Weltkrieges und die deutsch-ukrainische Annährung und Zusammenarbeit in dieser Zeit dargestellt: Auch die Konstruktion des reiz- und wirkungsvollen Images der Ukraine als „Kornkammer“ wird hier erläutert. Im fünften und sechsten Kapitel wird die Konsolidierung der verschiedenen Gruppen und Lager der Ukrainer in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg diskutiert. Auch ukrainische Ideologen wie zum Beispiel Dmytro Doncov oder Vjačeslav Lypyns’kyj und die Auswirkung ihrer Schriften auf das Weltbild der Exilanten und der in Polen lebenden Ukrainer werden in diesen Kapiteln analysiert. Im sechsten und siebenten Kapitel setzt sich Golczewski mit den radikalen und terroristischen Organisationen UVO und OUN sowie ihrer Zusammenarbeit mit den Deutschen vor und nach 1933 auseinander und in den drei letzten Kapiteln erklärt der Autor, wie die Deutschfreundlichkeit im Laufe der Zwischenkriegszeit unter den ukrainischen Exilanten zunahm und wie diese mit dem „turn to the right“ der ukrainischen Politik zusammenhing. Imponierend ist die detaillierte und informationsreiche Beschreibung des Lebens, der Tätigkeiten und der Institutionen der ukrainischen Exilanten in Deutschland, wie zum Beispiel des 1926 in Berlin eröffneten Ukrainischen Wissenschaftlichen Institutes, die sich durch mehrere Kapitel zieht.

Der rote Faden der Publikation basiert auf der nüchternen These der „mutual exploitation“ (S. 11). Demnach kam es zur Zusammenarbeit deutscher mit ukrainischen Politikern, weil sich politische Interessen der einen Seite mit denen der anderen überschnitten: Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich beide Seiten als Opfer und Verlierer des Ersten Weltkriegs begriffen und Interesse daran entwickelten, diese historische „Ungerechtigkeit“ zu ändern. Vom Image der „Kornkammer“ angelockt zeigten deutsche Politiker Interesse an einer wirtschaftlichen Ausbeutung der Ukraine und der deutsche Nachrichtendienst an Spionagetätigkeiten der UVO und der OUN, auf der anderen Seite suchten ukrainische Politiker und Aktivisten einen Verbündeten, der sie finanziell unterstützen und ihnen zum gegeben Zeitpunkt im Kampf gegen ihre Feinde (Polen, Russen, Sowjets und zunehmend auch Juden) helfen würde.

Golczewskis Darstellung der deutsch-ukrainischen Problematik im europäischen Rahmen ist hervorragend gelungen: Die starke Einbeziehung der polnischen, russischen und sowjetischen Geschichte mit Konzentration auf die sie verbindenden Schnittstellen erweist sich als überaus fruchtbar. Auch die Differenzierung innerhalb der nationalen Geschichte und die Aufdeckung von Zwiespältigkeiten und Feindschaften innerhalb des „nationalen“ Geschehens, wie etwa des Bündnisses westukrainischer Militärtruppen mit den Feinden ostukrainischer Politiker (der Ukrainischen Galizischen Armee mit der Denikin-Armee und teilweise später auch mit der Roten Armee) und umgekehrt (Józef Piłsudski mit dem Ostukrainer Simon Petljuras, der bereit war, die Westukraine den Polen zu überlassen) während der chaotischen Nachkriegszeit 1919-1920, zeugt von einem feinen und kritischen Umgang mit den nationalen Geschichten im europäischen Rahmen (S. 384-387, 389-391).

Golczewskis Monographie basiert auf sehr gründlichem Quellenstudium. Der Autor recherchierte in siebzehn Archiven und sichtete eine bemerkenswerte Zahl von Dokumenten, deren Auswertung ihm erlaubt, sowohl die Halbwahrheiten der Ideologen als auch einige historiographische Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Die auf Primärquellen basierende Dekodierung des dominierenden ideologischen Narratives der ehemaligen OUN-Aktivisten oder -Sympathisanten wie Il’nyc’kyj, Petro Mirčuk, Mykola Klymyšn oder Volodymyr Kosyk ist eine weitere beachtliche Stärke der Monographie.

Weniger überzeugend ist jedoch die Auswahl der Sekundärliteratur. Dass Golczewski spezialisierte Aufsätze wie Bohdan Cybulskis Text3 über die Befreiungsversuche von Stepan Bandera aus polnischen Gefängnissen nicht berücksichtigt, ist verständlich, weil man sich nicht unendlich in Detailfragen vertiefen kann, dass er aber auch grundlegende Publikationen wie Timothy Snyders „Sketches from a Secret War“4 umgeht, ist weniger verständlich und sicherlich nicht von Vorteil für die analytische Tiefe der in der Monographie behandelten Fragen.

Die in der Einleitung geäußerte Absicht, die gegenseitige Beeinflussung von Diskursen und Geschehen zu untersuchen (S. 10), wird leider nicht in allen Kapiteln durchgehalten. Teile der Monographie sind sehr interessant geschrieben und haben ein hohes Reflexionsniveau: Die Erklärung des Petljura-Kultes (S. 497-505) oder die Charakterisierung des ukrainischen Faschismus sind Meisterstücke einer reflexiven Historiographie (S. 571-592). Einige andere Abschnitte jedoch wie zum Beispiel Teile des zweiten, vierten und zehnten Kapitels sind stark im Genre der weniger ansprechenden Diplomatiegeschichte verfasst, in der das ganze Geschehen aus der Perspektive einiger weniger Diplomaten oder Staatsmännern (Vertretern der Nation) dargestellt wird. Bedeutend und relevant ist hier nur, was diese Repräsentanten der Nationen schreiben, sagen oder tun, unbedeutend ist, was außerhalb der Sphäre des Politischen geschieht. Der Autor gibt zwar an, dass er sich auf die „politische Ebene“ und eine „relativ eng beschränkte Zahl von Personen“ begrenzen möchte, die „als repräsentativ für den Teil der Kulturgruppe angesehen werde“ (S. 10), ob jedoch die Charakterzüge oder Verhaltensauffälligkeiten einiger weniger Diplomaten und politischer Aktivisten Priorität bei der Aufarbeitung der untersuchenden Problematik genießen sollten, ist eine Frage, die der Leser selbst beantworten muss.

Die Frage der politischen Diplomatie hängt mit einer weiteren schwierigen Frage nach dem Nationalen und der Repräsentation von Kollektiven zusammen. Golczewski betont zwar einige Male, dass es ihm nicht um die Beziehungen zwischen „DEN“ Deutschen und „DEN“ Ukrainern oder um eine „Nationalgeschichte“ gehe (S. 9-11, 16), aber die Voraussetzung einer ontologischen Existenz von „den“ Deutschen, Ukrainern, Polen etc. kommt in der Monographie doch manchmal zum Vorschein. Dies passiert möglicherweise deshalb, weil eine bi- oder transnationale Geschichte, wozu man auch Golczewskis Monographie zählen müsste, eine ontologische Existenz von ethnischen Gruppen oder Nationen in gewissem Sinn voraussetzt, um überhaupt funktionsfähig zu sein, selbst wenn dabei betont wird, dass mit „konstruierten Kommunitäten“ (S. 9) argumentiert wird. So werden gerne Präfixe wie „pro“ oder „anti“ vor nationalen Adjektiven wie deutsch, polnisch oder ukrainisch gestellt, was zwar das Denken und Handeln der von nationalistischen Ideen und Idealen getragenen Individuen wiedergibt, sie aber weder durchbricht noch überwindet (siehe zum Beispiel S. 52: „Und auch der Abdruck eines Vortrags […] war antipolnisch, antirussisch und gemäß pro-ukrainisch […]“).

Nicht korrekt oder ungenau sind nur ganz wenige Behauptungen des Autors, was überdies wegen des enormen Umfangs der Studie kaum ins Gewicht fällt: Eine dieser fragwürdigen Aussagen ist die Annahme, dass Dmytro Doncov in den 1910er-Jahren „ein bisher in der ukrainischen öffentlichen Nationalbewegung unerhörtes Maximalprogramm“ formulierte, mit dem er „erstmals öffentlich die vollständige Separierung der Ukraine von Russland“ forderte (S. 60-61). Dieser Annahme kann man unter anderem deshalb nicht zustimmen, weil bereits mehr als ein Jahrzehnt zuvor, mit dem Beginn der Rezeption der „heroischen Moderne“ in der Ukraine, Gestalten wie Mykola Michnovs’kyj mit Losungen wie „Die Ukraine für die Ukrainer!“ oder „Heirate keine fremde Frau, weil deine Kinder deine Feinde sein werden…“ sogar radikalere separationsorientierte Forderungen in die Öffentlichkeit getragen hatten.5

Auch die Behauptung, dass bis zum Tod des ersten Führers der OUN, Ievhen Konovaelc’s im Jahre 1938 in offiziellen Texten der OUN nicht die Rede vom „Führer“ (vožd’) war, geht an der Realität vorbei. So steht zum Beispiel in Mykola Scibors'kyjs Entwurf der Verfassung für den OUN-Staat „Naciokratia“ von 1935, der ein durch und durch offizieller Text war, der Begriff „Führer der Nation" (vožd’ naciji) gleich am Anfang des dritten Absatzes (S. 943).6 Der semantische Unterschied zwischen vožd’ und providnyk trifft zwar in der von Golczewski behandelten Periode zu (S. 943), ändert sich aber in der anrückenden Kriegszeit mit dem Versuch der OUN-B, das eigene Führerprinzip auf dem Konzept des providnyks aufzubauen, was wir erwartungsvoll im Folgeband lesen werden (S. 1017).

Abschließend kann man resümieren, dass Frank Golczewski eine der mit Abstand verlässlichsten Monographien über die deutsch-ukrainische Geschichte zwischen 1914 und 1939 geschrieben hat. Eine sehr gründliche Quellenforschung ermöglichte dem Autor ein neues, frisches Licht auf die untersuchte Thematik zu werfen und scheinbare Selbstverständlichkeiten der Historiographie und ideologische Halbwahrheiten der mit der OUN sympathisierenden oder auch ihr zugehörigen Historiker zu hinterfragen und zu dekonstruieren.

Anmerkungen:
1 Frank Grelka, Die ukrainische Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/1942, Wiesbaden 2005.
2 Roman Il’nyc’kyj, Deutschland und die Ukraine 1934-1945. Tatsachen europäischer Ostpolitik, Bd. 1-2, München 1958.
3 Bohdan Cybulski, Stepan Bandera w więzieniach II Rzeczypospolitej i próby uwolnienia go przez OUN, in: Acta Universitatis Wratislaviensis 1033 (1989), S. 67-96.
4 Timothy Snyder, Sketches from a Secret War. A Polish Artist’s Mission to Liberate Ukraine, New Haven 2005.
5 Roman Koval, Heroi, shcho ne zmih vriatuvaty Backivščyny, in: Roman Koval (Hrsg.), Mykola Michnovskyi. Samostiina Ukraїna, Kyїv 2003, S. 9.
6 Mykola Scibors’kyj, Narys projektuosnovnych zakoniv konstytuciji ukrajin’s’koj deržavy, in: Central’nyj Deržavnyj Archiv Vyščych Orhaniv Vlady ta Upravlinnja Ukrajiny: fond. 3833, opys. 1, sprava. 7, Bl. 2.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension