Titel
Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands


Autor(en)
Wohlrab-Sahr, Monika; Karstein, Uta; Schmidt-Lux, Thomas
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Astrid Bärwolf, Graduiertenkolleg Generationengeschichte, Universität Göttingen

Nur rund ein Viertel der Ostdeutschen ist Mitglied in einer der beiden christlichen Kirchen Deutschlands und mehr als zwei Drittel sind konfessionslos.1 Die weitgehende Säkularisierung des ostdeutschen Raums ist global einzigartig und verschafft Ostdeutschland eine „internationale Spitzenstellung“ (S. 117), allenfalls gefolgt von Estland und Tschechien mit ähnlich massiven Einbrüchen von Kirchlichkeit und Religiosität in den letzten Jahrzehnten.

Diesem Phänomen des Wandels religiöser und weltanschaulicher Orientierungen in Ostdeutschland nähert sich das Autorenteam um die Leipziger Religions- und Kultursoziologin Monika Wohlrab-Sahr auf 375 Seiten aus zwei Richtungen. Zum einen nehmen sie unter dem Stichwort der „forcierten“ Säkularität die politischen Maßnahmen in den Blick, die zu dem sowohl rasanten als auch nachhaltigen Wandel führten: Seit der Gründung der DDR verloren die Kirchen innerhalb von nur 30 Jahren 60 Prozent ihrer Mitglieder, und auch nach der „Wende“ kam es wider Erwarten nicht zu einem religiösen Aufschwung, sondern die kirchlichen Mitgliederzahlen sanken weiter. Vor allem aber will die Studie den Säkularisierungsprozess in der DDR aus Subjektperspektive nachvollziehen, um den Erfolg der Religionspolitik der SED zu erklären. Hier stehen neben der quantitativen Dimension der genannten Prozentzahlen der Entkirchlichung im Osten vor allem Genese und sozialisatorische Nachwirkung des „säkularen Habitus“ – auch nach 1989 – im Fokus. Dabei gehen Wohlrab-Sahr, Karstein und Schmidt-Lux davon aus, dass die repressive Politik nur über subjektive Aneignungsprozesse, die das eigenständige Handeln und Deuten von Akteuren bestimmte, Macht und Wirksamkeit entfalten konnte. Die auf historischer und biografischer Forschung basierende Studie fragt nach der Logik der Säkularisierung in Ostdeutschland als einem gezielt vorangetriebenen Prozess, „der abhängig ist von spezifischen Akteurskonstellationen und Kräfteverhältnissen“ (S. 122). Sie nimmt somit die Schnittflächen und Konfliktlinien in den Blick, an denen die repressive Politik zunächst auf individuelle und kollektive Überzeugungen traf und darüber hinaus auch zur breiten Säkularisierung führte.

Die Studie fokussiert auf familiale „Akteurskonstellationen“ und zeigt an den jeweiligen Generationenkonstellationen die Tradierung von Säkularität und Religiosität innerhalb von Familien auf. Gemischte Teams aus ost- und westdeutschen Interviewern führten dazu vorwiegend biografische Familieninterviews, wenn möglich gemeinsam mit den Großeltern, der mittleren Generation und den Jüngsten, und einige ergänzende narrative Einzelinterviews. Über die Anzahl der insgesamt geführten Interviews bewahren die AutorInnen allerdings Stillschweigen.

Die in den Familieninterviews dokumentierten familialen Kommunikationsprozesse begreifen die ForscherInnen als idealtypisches Untersuchungsfeld von Generationendifferenzen, generationenübergreifenden Zusammenhängen und Dynamiken: „Der Wandel, der sich in den drei Familiengenerationen abbildet und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagerungen begründet ist, ist eng mit einem Wandel der religiösen und weltanschaulichen Orientierungen verwoben“ (S. 26). Familie wird hier als sozialer Ort und Schnittpunkt gesellschaftlicher Generationenverhältnisse gedacht, die sich wiederum über familiale Kommunikation und deren Verarbeitung von gesellschaftlichen Veränderungen dokumentieren. Und auch umgekehrt zeige der religiöse Wandel in Ostdeutschland „Formen der Bearbeitung des gesellschaftlichen Umbruchs und der dadurch veränderten Generationenverhältnisse“ (S. 27).

Unterschiedliche Perspektiven der Familienmitglieder machen so den Prozess der Generationenbildung sichtbar, der in kommunikativen Aushandlungsprozessen innerhalb der Familie über Strategien der Überblendung, Externalisierung oder Problematisierung von Unterschieden aufscheint. Die „Familie als Verweisungszusammenhang milieutypischer Selbstverständlichkeiten“ (S. 65) vermittelt und tradiert Religiosität wie auch Distanz zu Religion, so der Tenor des programmatischen Abschnitts zu „Generationenbeziehung und Familienkommunikation“. So plausibel die These von der Aneignung forcierter Säkularität als Habitus im Prozess familialer Tradierung auch ist, verwundert allerdings, dass gerade in diesem Abschnitt aussagekräftige Interviewpassagen fehlen. Nicht zuletzt bleiben dadurch die behaupteten Zusammenhänge zwischen elaborierter Generationentheorie und eigentlichem Thema unscharf.

Sehr viel eingängiger für die Verbindung der engeren Perspektive auf Religion und Säkularität und des weiten Feldes der Generationenbeziehungen sind dagegen die Interviewzitate in den weiteren thematisch gegliederten Kapiteln des Buches, in denen die Veränderungen zwischen den Generationen entlang von Konfliktdimensionen von Säkularisierungsprozessen untersucht werden. Wohlrab-Sahr, Karstein und Schmidt-Lux entwerfen Religion und Kirche als ein Feld in der DDR, zu dem man sich verhalten musste. Vom Staat bekämpft und entwertet, wurden Kirche und Religion in grundlegender Konkurrenz zur Politik konzipiert. Kirchenkampf von oben und eine prononcierte „Mitgliedschaftslogik“ der SED mündeten für viele im Entscheidungszwang für Staat oder Kirche. Einen noch verbreiteterer Umgang mit diesem nach der Exklusionslogik geführten Kampf um Loyalitäten, den zum Teil auch die Kirche führte, fassen die AutorInnen begrifflich mit „Sphärendifferenzierung“ nach dem biblischen Deutungsmuster „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ und greifen damit die Rede von der „Nischengesellschaft“ auf. In diesem Konflikt erscheint in der Betrachtung der generationellen Dynamik Religion zunehmend als Ausnahme von der selbstverständlichen säkularen Regel. Sie spiegelt sich in den Interviews in der wiederholten Erzählung von der selbstverständlichen Teilnahme an der Jugendweihe, während die Teilnahme an kirchlichen Übergangsriten erklärungsbedürftig war. Der andere grundlegende Konflikt, den der Staat seinen Bürgern aufbürdete, bestand in der Gegenüberstellung von Religion und Wissenschaft. Sie kommt in dem Interviewzitat „Juri Gagarin hat Gott nicht angetroffen“ exemplarisch zum Ausdruck. Der häufige Rekurs auf diese sozialistische Ikone wissenschaftlich-technischer Fortschrittsgläubigkeit führt das Anliegen der Studie, die Wirkmächtigkeit staatlicher Politik bis in private Überzeugungen nachzuvollziehen, par excellence vor. Wissenschaftliche Weltanschauung, in der einzig Wahrheit und Erkenntnis lag, bis hin zum Szientismus wurde – verbunden mit einer antireligiösen Grundhaltung, die Religion als Aberglaube und falsches Wissen verkaufte – zum totalen Deutungsprinzip.

Ausgehend von diesen Verunglimpfungsstrategien verfolgen Wohlrab-Sahr, Karstein und Schmidt-Lux den individuellen Umgang mit den klassischen religiösen Fragen und den (Ersatz-)Transzendierungsformen der sozialistischen Gesellschaft. In Anlehnung an Thomas Luckmann entwickeln sie eine Theorie mittlerer und großer Transzendenzen. In den mittleren Transzendenzen, die Fragen nach Sinnhaftigkeit und Identität in einem von christlicher Semantik weitgehend entleerten Raum verhandeln, dokumentieren sich die System-Umwelt-Verhältnisse der DDR- und Nachwendezeit sowie ihre kulturelle Semantiken. So behaupten die AutorInnen „Gemeinschaft“, „Arbeit“ und „Ehrlichkeit“ als Semantiken ostdeutscher Identität und als kollektive Ideale in einer Gesellschaft, die anstelle einer Jenseitsorientierung die Diesseitsorientierung einer sozialistischen Utopie und eines säkularistischen Materialismus vorgab. Dabei hält die dominante Perspektive des szientistischen Atheismus auch für die harte Frage des Endes einer Person keine Ausflucht parat. Im Sinne der großen Transzendenz seien volkstümlich bagatellisierende Verheißungen des Christentums vor dem Hintergrund von Säkularisierungs- und Verwissenschaftlichungsprozessen allerdings auch diskreditiert gewesen.

Die sehr dichte Studie vermittelt eindringlich den Prozess eines der „erfolgreichsten Projekte“ der DDR. Hervorzuheben ist die historische Dimension der Untersuchung, die longue durée-Prozesse ebenso in den Blick nimmt wie auch aus theoretischer Perspektive herkömmliche Deutungen gegen den Strich bürstet. So finden sich aufschlussreiche Erklärungen für den weiteren Bedeutungsverlust der Kirchen nach 1989. Parallel dazu erläutern sie „agnostische Spiritualität“ als eine Haltung und Form moderner Religiosität, der sich insbesondere die jüngste Generation in der postsozialistischen Gesellschaft zuwendet. Hier wird die säkularisierungstheoretisch geltende Regel: „je jünger, desto säkularer“, die sich im Vergleich der Großeltern und der mittleren Generation noch anwenden ließ, in ihr Gegenteil verkehrt. Dies gelingt insbesondere durch die generationenvergleichende Perspektive, die sich durch die einzelnen Kapitel zieht und macht somit die oben kritisierte Unverbundenheit zwischen Generationentheorie und dem Thema der Studie größtenteils wett.

Was fehlt, sind – etwa im Unterschied zu den USA – Verweise auf die spezifisch europäische Säkularisierung, die allenfalls kurz angerissen wird, sowie der direkte Vergleich mit der Entwicklung des staatsnahen Protestantismus in Westdeutschland. Diese erweiterte Perspektive und Einbettung hätte noch plausibler machen können, dass der ostdeutsche Kampf gegen Religion auf einen Zeitgeist traf, der auch in der Bundesrepublik zu Mitgliederschwund und Glaubensverlust führte. Neben diesem etwas insularen Blick auf den totalitären Weltanschauungsstaat DDR konzentrieren sich die AutorInnen ausschließlich auf die großen christlichen Konfessionen, ohne dabei allerdings zwischen Ausprägung und Bedeutung protestantischer und katholischer Milieus zu differenzieren.

Insgesamt vergegenwärtigt die eloquente und schwungvoll geschriebene Studie, die bereits im Titel auf „Säkularität“ statt „Säkularisierung“ verweist, umfassend, warum der schnelle und anhaltende Prozess in Ostdeutschland mittlerweile eingetretene Selbstverständlichkeit und zu einem säkularen Habitus geronnen ist.

Anmerkung:
1 Die Rezension erscheint 2010 auch in "Sociologus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie".

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/