S. Lachenicht: Hugenotten in Europa und in Nordamerika

Titel
Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Lachenicht, Susanne
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
563 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Niggemann, Frühe Neuzeit, Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg

Mit ihrer Hamburger Habilitationsschrift legt Susanne Lachenicht eine Vergleichsstudie zum hugenottischen „Refuge“ in Deutschland und in der transatlantischen Welt vor. Im Vergleich Brandenburg-Preußens mit England, Irland und den englischen Kolonien in Nordamerika stellt die Verfasserin Fragen nach der staatlichen Gestaltung und Steuerung von Immigration sowie nach Integration, Akkulturation und Assimilation der Einwanderer in den ansässigen Gesellschaften vom 16. bis an die Wende zum 19. Jahrhundert, mithin nach unterschiedlichen Konzepten im Umgang mit Einwanderung und nach den Möglichkeiten staatlicher Lenkung.

Nach einem souveränen Überblick über die Geschichte der Hugenotten in Frankreich geht die Autorin sinnvollerweise zunächst auf die Vorstellungen und Forderungen der Hugenotten selbst ein, wobei sie an die in der jüngeren Forschung bereits hervorgehobene Tatsache anknüpft, dass die Einwanderer auf die Bedingungen ihrer Aufnahme durchaus Einfluss nahmen und sich dieses Einflusses auch bewusst waren. Sehr überzeugend stellt Lachenicht die bereits seit den ersten Emigrationswellen französischer Protestanten etablierten europäischen Netzwerke dar und schildert, wie diese Netzwerke bei der Aushandlung von Aufnahmebedingungen genutzt wurden. Problematisch ist indes, dass die Hugenotten oft als recht homogen operierende Gruppe mit weitgehend gleichgerichteten Interessen erscheinen. Dies gilt etwa im Hinblick auf den vielzitierten Monarchismus, der schon seit einiger Zeit deutlich differenzierter gesehen wird.1 Als diskussionswürdig erscheint auch die Frage nach dem Stellenwert kirchlicher und religiöser Privilegien. Lachenicht setzt diesen sehr hoch an und stützt sich dabei wesentlich auf englische Quellen, während ihre Auseinandersetzung mit den brandenburgischen Vorgängen oberflächlich bleibt. Zudem steht ihre Einschätzung in einem nicht aufgelösten Spannungsverhältnis zu den von ihr in Anlehnung an Klaus Webers Ergebnisse2 konstatierten ökonomischen Zusammenhängen der Hugenottenmigration.

Das Kapitel zur Immigrationspolitik verdeutlicht, dass in Brandenburg-Preußen Kolonien im Sinne rechtlich segregierter Korporationen entstanden, während sich die privilegienrechtliche Segregation in England, Irland und Nordamerika auf die Fremdenkirchen beschränkte. Ganz neu ist das nicht, sondern bestätigt lediglich Ergebnisse der jüngeren Forschung.3 Lachenicht stellt fest, dass Einwanderer in England selbst bei erfolgter Denization oder sogar Naturalisation nicht mit den Einheimischen gleichgestellt waren, sondern bis in die dritte Generation hinein schlechter gestellt blieben. Eine echte Gleichstellungspolitik war damit – unter unterschiedlichen Vorzeichen – in keinem der Vergleichsfälle gewünscht. Interessant sind Lachenichts Ausführungen zu einem vorübergehenden Aufnahmestopp durch zahlreiche Regierungen. Hier zeigt sich besonders die auch in der neueren Literatur gelegentlich hervorgehobene Enttäuschung zu hochgesteckter Erwartungen. Die Schilderung von Konflikten zwischen der eingesessenen Bevölkerung und den Immigranten bleibt hingegen sehr kursorisch und gelangt kaum über den üblichen Hinweis auf Xenophobie und Konkurrenzangst hinaus. Dabei argumentiert die Darstellung oft zu undifferenziert; so werden etwa die tiefgreifenden Gegensätze innerhalb der großen Londoner Zünfte in die Analyse zünftiger Ablehnungstendenzen nicht einbezogen. Streitigkeiten um die jurisdiktionellen Kompetenzen etwa im Falle Magdeburgs werden nur ganz knapp angedeutet, wobei neuere Literatur ignoriert und stattdessen auf das 1885 erschienene Werk von Eduard Muret4 verwiesen wird (S. 183). Gerade im Hinblick auf die Konflikte mit Eingesessenen (S. 175) ist die unkritische Übernahme älterer Sichtweisen mit den von Lachenicht selbst beschriebenen hagiographischen Tendenzen hochproblematisch. Positiv hervorzuheben ist hingegen, dass die Verfasserin die hugenottischen Erwähltheitsvorstellungen und die daraus oftmals resultierenden Überlegenheitsgefühle in ihre Untersuchung einbezieht.

Auf einige kleinere Versehen sei zumindest am Rande hingewiesen: Martin Bucer konnte, anders als Lachenicht behauptet (S. 47), beim Regierungsantritt Maria Tudors (1553) nicht mit Johannes à Lasco ins Exil gehen, da er bereits 1551 gestorben war. Ebenso war Karl II. im Sommer 1685 bereits tot und konnte somit nicht mehr das Parlament zur Verabschiedung einer Naturalisation Act drängen (S. 113), und das von Jakob II. kurz nach seiner Thronbesteigung einberufene Parlament wurde auch nicht im unmittelbaren Kontext der Rebellion des Herzogs von Monmouth (Sommer 1685) aufgelöst (ebd.), sondern (nach Vertagungen) erst im Juli 1687. Die 1689 verabschiedete Toleration Act wurde keineswegs 1718 widerrufen (S. 116), vielmehr ging es um den Widerruf der von der Tory-Regierung 1711 und 1714 erlassenen restriktiven Gesetzgebung, mithin also um das genaue Gegenteil.

Weitaus schwerer als diese kleineren Ungenauigkeiten wiegt freilich die Tatsache, dass die größeren Zusammenhänge, in die die Immigrationspolitik einzubetten ist, bisweilen aus dem Blick geraten. Dies gilt nicht nur für den merkantilistischen Diskurs, der zweifellos die Aufnahme von Immigranten in den untersuchten Territorien wesentlich prägte, der aber nicht explizit in die Analyse einbezogen wird, sondern auch im Hinblick auf die politische Lage in Europa. Lachenicht betont sehr stark, dass das Potsdamer Edikt sich ausdrücklich an die Hugenotten richtete, während die englischen bzw. irischen Ansiedlungspatente mit Ausnahme der Deklaration Wilhelms und Marias von 1689 sich an protestantische Einwanderer insgesamt gerichtet hätten (S. 170, 202f. u.ö.). Dies ist nicht überraschend, wenn man sich die Bündnispolitik anschaut: Während Karl II. und Jakob II. kein Interesse daran haben konnten, Ludwig XIV. zu brüskieren, können die Erklärungen und Edikte Wilhelms III. und der brandenburgischen Kurfürsten als dezidierte politische Stellungnahmen gegen Frankreich gelesen werden. Dieser Aspekt wird hier eindeutig unterschätzt.

Weitaus überzeugender ist das dritte Kapitel, in dem Lachenicht vor allem anhand von Heiratsregistern und der Sprachentwicklung die Akkulturations- und Assimilationsprozesse untersucht. Das ist für Brandenburg teilweise schon von François David, Manuela Böhm und anderen geleistet worden5, wird hier jedoch im Vergleich mit England und den zur englischen Krone gehörenden Territorien fortgeführt. Dabei zeigen sich Auflösungserscheinungen gerade der kleineren Gemeinden schon im Laufe des 18. Jahrhunderts, während die größeren Gemeinden, etwa in Berlin, London oder New York, sich bis heute halten konnten. Zugleich lassen sich in unterschiedlichem Umfang Prozesse der partiellen Anpassung feststellen, wobei in England, Irland und Nordamerika zwischen den non-konformen, mehr oder minder bei der französisch-reformierten Kirchendisziplin verharrenden und den konformen, das heißt den äußerlich an die Anglikanische Liturgie angepassten Gemeinden zu unterscheiden ist. Lachenicht weist auch bei den konformen Gemeinden ein partielles Festhalten an französisch-reformierten Formen und damit eine deutliche Hybridität nach, ein Punkt, der sicher stärker in die weitere Diskussion einzubeziehen sein wird.

Am Ende steht ein mit „Epilog“ überschriebenes, aber durchaus vollwertiges Kapitel, das einerseits Ausführungen zur Erinnerungskultur und Mythenbildung, andererseits einen Ausblick auf die aktuellen Fragen erfolgreicher Immigrations- und Integrationsmodelle enthält.

Zu den wichtigsten Ergebnissen der Studie gehört, dass der Autorin zufolge die Hugenotten in allen untersuchten Aufnahmeländern gleichermaßen eine „Nation“ bildeten, die sich durch eine spezifisch französisch-kalvinistische Diasporaidentität auszeichnete und sich in allen Fällen bis ins 19. Jahrhundert halten konnte. In Brandenburg-Preußen trug insbesondere die auf Segregation und Bewahrung von Diversität gerichtete Privilegienpolitik zu einer solchen distinkten Nationsbildung bei, doch auch in England bewirkten die kirchliche Sonderexistenz und die faktische Schlechterstellung der Einwanderer und ihrer Nachfahren die Bewahrung distinkter Identitäten. Dabei beobachtet Lachenicht in unterschiedlichem Ausmaß Kreolisierungsprozesse, die zu hybriden Identitäten führten, die gerade den Wesenszug der Diaspora ausmachten. Konformitätsdruck, wie er insbesondere in England bestand, förderte die Ausbildung hybrider Identitäten weiter. Im Gegensatz zu älteren Forschungsergebnissen, wie sie etwa von Myriam Yardeni formuliert wurden, stellt die Verfasserin fest, dass die Integrations- und Assimilierungsprozesse in allen untersuchten Territorien etwa gleich lange dauerten. Durchaus in Anlehnung an neuere Tendenzen der Forschung drückt auch Lachenicht ihre Skepsis gegenüber der Vorstellung einer besonders erfolgreichen und schnellen Integration und Assimilierung der Hugenotten in den jeweiligen Gastgesellschaften aus und fragt vor diesem Hintergrund nach dem Nutzen von Assimilierungskonzepten für die moderne Migrationsproblematik. Freilich berücksichtigt sie bei dieser Übertragung von Forschungsergebnissen zur Frühen Neuzeit auf moderne Fragestellungen nicht die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftsmodelle.

Insgesamt legt Lachenicht eine Studie vor, die vor allem im Bereich der mittel- und langfristigen Integrations- und Assimilationsprozesse neue Erkenntnisse bringt und deren Wert in der vergleichenden Perspektive liegt.

Anmerkungen:
1 Klaus Malettke, Hugenotten und monarchischer Absolutismus in Frankreich, in: Francia 15 (1987), S. 299-319.
2 Klaus Weber, Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680-1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cádiz und Bordeaux, München 2004, S. 240ff.
3 Vgl. Barbara Dölemeyer, Die Aufnahmeprivilegien für Hugenotten im europäischen Refuge, in: dies. / Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Frankfurt am Main 1997, S. 303-328, hier S. 324, 326; Ulrich Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681-1697), Köln 2008, z.B. S. 113.
4 Eduard Muret, Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen, unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde, Berlin 1885.
5 François David, Les colonies des réfugiés protestants français en Brandebourg-Prusse (1685-1809): Institutions, géographie et évolution de leur peuplement, in: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français 140 (1994), S. 111-142; Manuela Böhm, Sprachenwechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert, Berlin 2010.

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