V. Berghahn: Industriegesellschaft und Kulturtransfer

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Titel
Industriegesellschaft und Kulturtransfer. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Berghahn, Volker
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 182
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Institut für Geschichtswissenschaft, Abt. VSWG, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Volker Berghahn, der seit 1988 in den USA und seit 1998 an der Columbia University in New York lehrt, gehört fraglos – und nicht nur aufgrund seiner Biographie – zu den besten Kennern der europäisch-amerikanischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Im Fokus seiner Forschungen stand dabei weniger klassische Diplomatiegeschichte, sondern in erster Linie die Frage nach Prozessen und Adaptionen durch gesellschaftliche Eliten. Noch vor der "kulturalistischen Wende" und früher als viele andere forschte er zu "Amerikanisierung", zu Wirtschaftseliten und zum Transfer von Denk- und Handlungsweisen.

Der vorliegende Band versammelt nun fünfzehn bereits früher publizierte Beiträge Berghahns, die im Kern von amerikanischen Einflüssen auf die deutsche Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte handeln, und zwar in zweifacher Hinsicht: In einem ersten Teil mit drei Beiträgen geht es um "Integration des Kulturellen" in die (deutsche) Wirtschafts- und Unternehmensgeschichtsschreibung. Der mit acht Beiträgen größte Teil folgt mit der Betrachtung konkreter Auswirkungen und Muster der "Amerikanisierung" des deutschen Wirtschaftssystems nach dem Zweiten Weltkrieg, ehe im abschließenden dritten Teil auf Institutionen des Kulturtransfers wie das Aspen-Institut und die Ford-Foundation eingegangen wird.

Die Auswahl der Beiträge überzeugt durchaus, bewegen sie sich doch allesamt im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Ordnung, Mentalitäten bzw. Handlungsmaximen individueller und kollektiver Akteure sowie der Adaption von Ordnungsideen. Der im Titel prominent hervorgehobene Kulturtransfer ist dabei nicht nur als gleichsam geographischer Prozess – vornehmlich als Transfer von den USA nach Deutschland – zu verstehen, sondern insbesondere auch im Sinne von Transfers zwischen den und innerhalb der (Wirtschafts-)Eliten. So handeln gleich mehrere Beiträge von der "hegemonialen" Ruhrindustrie und ihren über das Jahr 1945 hinaus strukturbestimmenden Vorstellungen, die erst allmählich durch amerikanische Einflüsse überformt worden seien.

Berghahn versteht "Amerikanisierung" als kulturellen Prozess, der sich weniger konkret durch die Übernahme von Institutionen und Organisationsformen äußerte, sondern der viel eher mittelbar das Denken und Handeln der Akteure veränderte. Zwar arbeitet er im letzten Teil des Bandes zum Beispiel anhand der Netzwerke des "Brückenbauers" Shepard Stone die Bedeutung einzelner Institutionen und Personen für die Organisation des kulturellen Austausches heraus, doch war dies weniger Ergebnis eines amerikanischen Sendungsbewusstseins als im Grunde die organisatorische Basis für intellektuelle Kommunikation. Sie ging über parteipolitische und weltanschauliche Grenzen hinaus, beschränkte sich freilich auf solche Akteure, die sich an liberalen und demokratischen Prinzipien orientierten: Zu Stones Netzwerk gehörten beispielsweise mit Marion Gräfin Dönhoff, Theodor Heuss, Eugen Kogon und Carlo Schmid prägende Intellektuelle der jungen Bundesrepublik.

Lässt sich an solchen Beispielen das Bestreben der Amerikaner, ihre Ideen im kommunikativen Austausch zu vermitteln, recht konkret fassen, fragen die übrigen Beiträge in langfristiger Perspektive häufig nach allmählichen Veränderungen im Denken und Handeln der Akteure. Mehrfach hinterfragt Berghahn beispielsweise Abelshausers Analyse1, der Marshallplan habe nur geringe realwirtschaftliche Effekte gehabt, und verweist stattdessen auf die prägende Wirkung, die das amerikanische Hilfsprogramm sowie die damit verbundenen liberalen Wirtschaftsordnungsvorstellungen für die westdeutsche Mentalität gehabt hätten. Er stellt demnach der realgeschichtlichen und im konkreten Fall gar quantifizierend-beweisbaren Ebene eine Deutungsebene an die Seite, die zeigt, dass eine kulturalistische Erweiterung der Wirtschaftsgeschichte insbesondere gewinnbringend sein kann, wenn sie konkrete Ergebnisse aufgreift und zum Ausgangspunkt ihrer Deutung macht.

Man mag aber am gewählten Beispiel erkennen, dass die abgedruckten Beiträge vorwiegend auf ältere Debatten Bezug nehmen. Dies ist angesichts der Konzeption des Bandes als Anthologie, die einen verdienten Wissenschaftler würdigt, auch nicht verwunderlich. Zwar haben Berghahns Analysen den Vorteil, bisweilen eine erfreuliche große Distanz zur Vehemenz der (deutsch-)deutschen Spezialdebatten namentlich um die Rolle der Unternehmer vor und während des "Dritten Reichs" aufzuweisen, doch Neues präsentiert der Band leider nicht. Beispielsweise handelt es sich bei zwei Beiträgen (5 und 12) um den Wiederabdruck von Kapiteln aus "Unternehmer und Politik"2. Diese Synthese ist nach wie vor lesenswert, spiegelt aber den aktuellen Forschungsstand nicht wider. Die meisten Aufsätze stammen zwar aus dem letzten Jahrzehnt, doch die früheren Beiträge wurden ebenso wie die aktuelleren allenfalls punktuell aktualisiert bzw. um Literaturverweise ergänzt. Das ist insofern zu bedauern, als beispielsweise gerade in den letzten Jahren diverse unternehmenshistorische Arbeiten zur Adaption amerikanischer Managementmethoden erschienen sind3, aber auch solche, die Zweifel an einer durchgängigen Amerikanisierung wecken.4

Dies ist freilich eher Hinweis als Kritik, denn eine Anthologie hat eine andere Zielsetzung als eine Monographie oder ein thematischer Sammelband. Dass Volker Berghahn mit den hier zusammengestellten Beiträgen zahlreiche Forschungen angeregt oder befruchtet hat, steht außer Frage. Dass diese Forschungen nun über das hinausgehen, was in Berghahns "Werkschau" wiedergegeben ist, lässt sich durchaus auch als Bestätigung für seine thematische Schwerpunktsetzung deuten. Möglicherweise hätte jedoch eine kritische Wirkungsgeschichte, die den Beiträgen statt der retrospektiven Selbsteinordnung Berghahns vorangestellt worden wäre, den Nutzen des Buches noch erhöhen können. Dessen Lektüre lohnt – trotz der konzeptionsbedingten Defizite – allemal und selbst der Spezialist wird empirisch zwar nichts Neuem, aber doch zahlreichen klugen Gedanken begegnen. Dafür sorgt alleine der klare und gut lesbare Stil Berghahns.

Anmerkungen:
1 Werner Abelshauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945 – 1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone, Stuttgart 1975.
2 Volker Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1985.
3 Christian Kleinschmidt, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950 – 1985, Berlin 2002; Susanne Hilger, "Amerikanisierung" deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler-Benz (1945/49 – 1975), Stuttgart 2004.
4 Clemens Reichel, Vom Verbund zum Konzern. Die Metallgesellschaft AG 1945–1975, Darmstadt 2008.

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