S. Höhne u.a. (Hrsg.): Wo liegt die Ukraine?

Cover
Titel
Wo liegt die Ukraine?. Standortbestimmung einer europäischen Kultur


Herausgeber
Höhne, Steffen; Ulbricht, Justus H.
Reihe
Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Neue Folge 64
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossolinski-Liebe, Department of History and Classics, University of Alberta, Edmonton

Die Autoren der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes widmen sich einer anregenden und anspruchsvollen Frage: sie überlegen, ob „die Ukraine ein selbstverständlicher Teil Europas“ ist (S. 7).

Der Band beginnt mit Mykola Kušnirs Beitrag über die „Orange Revolution“, die zuerst viele Hoffnungen weckte, dann viele Enttäuschungen verursachte und letztendlich doch die Ukraine ein wenig in Richtung Demokratie verschob (S. 12-14). Kušnir charakterisiert die „Orange Revolution“ als eine „Pseudorevolution“ einer „Pseudoelite“, die eine „Pseudodemokratie“ etablierte (S. 14), womit er wohl recht haben dürfte.

Justus H. Ulbricht geht in seinem Beitrag der Frage nach, was eine Reise aus Weimar nach Lemberg und Czernowitz bedeute; er beantwortet sie mit Hilfe solcher literatur-, kunst-, vergangenheits- und symbolorientierten Interpreten der Realität wie Karl Schlögel, Jurij Andruchowyč und Martin Pollack. Diese Art des intellektuellen Umgangs mit der Westukraine taucht im vorliegenden Sammelband immer wieder auf. Sie hat zumindest zwei Eigenschaften, die man am besten als dynamische Geistesprozesse begreiflich machen kann: Erstens wird die gegebene und augenfällige Gegenwart als uninteressant und enttäuschend aufgegeben, um dahinter die interessante, weil bereits verklärte und mythologisierte, Vergangenheit zum Vorschein kommen zu lassen. Zweitens kann dieser Vorgang die Gegenwart so stark mit Nostalgie nach der unverfügbaren Vergangenheit aufladen, dass die Gegenwart nur durch die Perspektive dieser Vergangenheit als interessant und real empfunden wird, was entweder zur kulturellen Desorientierung führt oder bereits ein Produkt der Desorientierung ist. In Ulbrichts Beitrag ist dieser Zugang jedoch nicht so stark ausgeprägt wie in einigen anderen Beiträgen, da der Verfasser sich auch für das Nationalbewusstsein einer „jungen Nation“ (S. 20), ethnische Säuberungen, Völkermord, Deportationen, den Tag der Befreiung (S. 22), das Holodomor (die verheerende Hungersnot der Jahre 1932/33), antisowjetische Geschichtsbilder (S. 36) und einige weitere Probleme interessiert, die sich, im Gegensatz zur kakanischen Vergangenheit in der galizischen Peripherie, schlecht verklären und nostalgisieren lassen.

In Larissa Cybenkos Beitrag über die Schriftsteller Joseph Roth und Soma Morgenstern wird dagegen die galizisch-kakanische Vergangenheit und damit auch die westukrainische und österreichische Erinnerung daran, einer so starken Nostalgisierung unterzogen, dass Joseph Roth in diesem Beitrag fast wie ein pathetischer Schriftsteller wirkt, der aktiv und bewusst dem Untergang der Monarchie nachtrauert (S. 132).1 Dass „Joseph Roth nicht auf die Rolle des nostalgischen Sängers einer verlorenen (ostgalizischen) Heimat reduziert werden kann“ (S. 145, siehe auch S. 161), geht dagegen aus Winfried Adams und Christian Diemers Beiträgen deutlich hervor. Adam setzt sich auf eine theoretische und reflexive Art und Weise mit der Frage der Grenzen und Peripherien in Roths Werken auseinander, Diemer verbindet Wissenschaftliches mit Künstlerischem und gelangt so zu einer anregenden Analyse Joseph Roths und dessen eindrucksvoller Erzählung „Die Büste des Kaisers“. Überzeugend wird hier auch Roths Uneindeutigkeit herausgearbeitet, die in den „nostalgischen“ Analysen regelmäßig verloren geht (vgl. S. 149-187).

Die Frage der Nostalgie nach der monarchischen Peripherie kommt, selbst wenn sie nicht expliziert thematisiert wird, auch in den Beiträgen über die moderne westukrainische Literatur von Alois Woldan und Stefan Simonek zum Vorschein. Woldan weist in seinem Beitrag sehr überzeugend nach, wie mehrsprachige und multikulturelle Literatur im Prozess der Aneignung „ukrainisiert“, bzw. auf „ukrainische Akzente“ reduziert wurde (S. 91-96). Des Weiteren erklärt er, wie die „galizische Moderne“ aus dem „sowjetischen Underground“ schlüpfte und die „ukrainische Postmoderne“ entstehen ließ (S. 98). Simonek geht an die gegenwärtige ukrainische Literatur mit den Theorien der „post-colonial studies“ heran: Dies ermöglicht ihm interessante Einblicke. Simonek stellt west- und ostukrainische Schriftsteller wie Taras Prochas’ko und Oksana Zabužko einander gegenüber und erläutert, wie verschieden oder ähnlich sie die sowjetische Realität in eine postsowjetische umkodieren. Er vergleicht auch diese inzwischen etablierten postmodernen Schriftsteller mit Autoren der jüngeren Generation wie Ljubko Dereš und Serhij Žadan. Die literarischen Welten des letzteren sind auch das Thema von Claudia Dathes Beitrag. Sie porträtiert Žadan als einen aufmerksamen und kritischen Beobachter, der sich „in erster Linie für unspektakuläre Details“ (S. 194) interessiert und kollektive Normen, Traditionen wie auch allgemeingültige Deutungen sowohl in Ost- als auch in Westeuropa hinterfragt. „Themen der Popliteratur – Drogen und Sex“ (S. 192) – verbinden ihn mit dem bereits erwähnten Ljubko Dereš.

Uwe Dathe konstatiert in seinem Beitrag, dass innerhalb der Ukraine viele Fremd- und Feindbilder existieren. Diese sind angesichts der regionalen und ideologischen Vielfältigkeit der Ukraine tatsächlich ein gewichtiges kulturpolitisches Problem. Sie gelten, wie Dathe einleuchtend betont, „als Wahrheiten schlechthin“. Sie sind „faktenarm, hochselektiv, urteilsfreudig und gefühlsstark“ (S. 52f.). Fraglich ist jedoch, ob diese Bilder mit dem Schaffen eines ukrainischen Gemeinschaftsgefühls in einem ukrainischen Nationalstaat tatsächlich verschwinden werden, wie Dathe vermutet (S. 54-56).

Steffen Höhne arbeitet das Paradigma einer kleinen, mitteleuropäischen Nation mit einer „anti-imperialen Tradition“ am Beispiel der tschechischen Literatur heraus. Die daraus hervorgehenden Befunde lassen sich allerdings nur in sehr eingeschränkter Weise auf die Ukraine übertragen. Eine solche Übertragung bleibt im Fall des jungen ukrainischen Staates problematisch, nicht weil die imperiale Vergangenheit in der Literatur instrumentalisiert wird, wie es Höhne erklärt (S. 75-82), sondern, und dies thematisiert Höhne leider nicht, weil die in der Westukraine seit den frühen 1990er-Jahren auf der regionalen Ebene, und während der Präsidentschaft von Viktor Juščenko auch auf der staatlichen Ebene, geschehene Rehabilitation von Nationalisten, Faschisten, Antisemiten und Kriegsverbrechern wie Roman Šuchevyč, Stepan Bandera und einiger weiterer dunkler Gestalten aus der OUN und UPA, als eine legitime „anti-imperiale,“ kulturpolitische Maßnahme einer jungen Nation betrachtet wird.2

Der mit Abstand problematischste, weil am wenigsten differenzierte und dazu stark politisierte Beitrag des Bandes ist jener Michael Mosers, in dem der Autor „antiukrainische sprachgeschichtliche Mythen der Gegenwart“3 herausfordern will. Er unterteilt zunächst jene Forscher, die sich mit der Ukrainischen Sprache beschäftigen, in Laien und Fachleute: Einigen seiner Fachkollegen, die er auch namentlich nennt (S. 199), attestiert Moser „eine ganze Reihe peinlicher Fehler“ oder auch „keine oder aber nur sehr mangelhafte Kenntnisse der Sprachwissenschaft“ (S. 199). Die Problematik des Altrussischen der Kiewer Rus’ und einiger Publikation über sie, belegt Moser mit solch stark politisch gefärbten und analytisch wenig aussagekräftigen Termini wie „ukrainophob“ (S. 203).4 Dies impliziert, dass der Autor sowohl die gegenwärtigen Texte über die Geschichte der ukrainischen Sprache wie auch die Vergangenheit in national-politischen Kategorien wahrnimmt und interpretiert. Des weiteren lässt der Gebrauch einer derartig stark wertenden Terminologie auch an jenem streng wissenschaftlichen Prinzip zweifeln, das Moser vier Druckseiten zuvor für sich in Anspruch nimmt, wo er sich selbst von den „Laien“ und den „vermeintlichen ‚Fachleuten‘“ distanziert (S. 199). Der Rest des Beitrags besteht hauptsächlich aus Polemik gegen Fachkollegen, die entweder nicht so viel Ukrainisch in den ostslawischen Dialekten erkennen können, wie Moser (S. 210-212) oder die dem nationalen Dichter der Ukraine Taras Ševčenko weniger Ehrerbietung erweisen, als der Autor es für angemessen hält (S. 213). Diese Fachkollegen stempelt Moser pauschal als „Ukrainophobe“ oder „ukrainophobe ‚Experten‘“ (z.B. S. 212, 213, 215, 217, 219, 220, 223, 224), ihre Arbeiten als „ukrainophob“ oder „antiukrainisch“ ab.5

Im letzten Beitrag des Sammelbandes informiert Hans Thill über Eindrücke, Erfahrungen und Ergebnisse eines Workshops, bei dem Gedichte ukrainischer Lyriker ins Deutsche übersetzt wurden.

Die starke Seite des vorliegenden Sammelbandes ist die eindrucksvolle und überzeugende Auseinandersetzung mit der postsowjetischen, ukrainischen Literatur, die schwache ist der unkritische und manchmal nostalgische Umgang mit dem Verhältnis zwischen der galizisch-kakanischen Vergangenheit und der ukrainischen Gegenwart, sowie die Ausblendung einiger wichtiger politischer und historischer Fragen, die bei der „Standortbestimmung einer europäischen Kultur“ weder ignoriert noch instrumentalisiert (Moser) werden sollten, weil sie selbst ein Teil dieser Kultur sind.

Anmerkungen:
1 Für Nostalgie siehe z.B.: Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001, S. XV.
2 Siehe dazu z.B.: Timothy Snyder, A Fascist Hero in Democratic Kiev, in: The New York Review of Books, <http://blogs.nybooks.com/post/409476895/a-fascist-hero-in-democratic-kiev> (24.2.2010) oder auch: Grzegorz Rossolinski-Liebe, Obraz Stepana Bandery v pol’s’kij nacjonal’nij scidomosti, in: Zaxid.net, <http://www.zaxid.net/article/32864/> (22.3.2009). Für Gegenposition siehe: Jaroslav Hrycak, Klopoty z pamjattju, in Zaxid.net, <http://www.zaxid.net/article/60958/> (12.4.2010).
3 So auch der Titel des Beitrags. Moser erklärt jedoch nicht, was er unter „Mythos“ versteht. Dem Beitrag ist zu entnehmen, dass er damit das Gegenteil von Wahrheit oder Wissenschaftlichkeit meint. Für eine komplexere und differenzierte Relation zwischen Mythos und Wissenschaft siehe z.B.: Robert A. Segal, Theorizing About Myth, Amherst 1999, S. 7-18.
4 Einige weitere politisch gefärbte Begriffe in Mosers Beitrag sind z.B. „antiukrainisch“ bereits im Titel oder „antigalizisch“ (S. 210). Die Bedeutung des letzteren erschließt sich mir nicht.
5 Das konfrontationsmotivierte Suchen nach und Finden von unzähligen „Ukrainophoben,“ sowohl im Internet (S. 218) als auch in der Fachliteratur, von denen sich einige als Antisemiten entpuppen, die hinter der „ukrainischen Bewegung“ auch Juden konstatieren (S. 220-221), indiziert nicht nur das Aufspüren einer „ukrainophoben“ Verschwörungstheorie, sondern es lässt den Beitrag selbst – durch das triumphierende, immer im Namen der Wissenschaft geschehende Entlarven von „Ukrainophobien“ – wie eine unzeitgemäße, verschwörungstheorieähnliche Praxis wirken. Der Beitrag kommt einer Ideologiekritik nicht nahe, weil er das behandelnde Problem weder hinterfragt noch dekonstruiert, sondern er schlägt in eine Art Gegenideologie um. Für einen mehr differenzierenden und weniger politisierenden Beitrag über die Uneindeutigkeit der ukrainischen Identität und Sprachlichkeit siehe z.B.: John-Paul Himka, The Basic Historiographical Identity Formations in Ukraine. A Typology, in: Harvard Ukrainian Studies 28, no. 1-4 (2006), S. 483-500.

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