Chr. Jansen; Th. Mergel (Hgg.): Die Revolutionen von 1848/49

Titel
Die Revolutionen von 1848/49. Erfahrungen - Verarbeitungen - Deutungen


Herausgeber
Jansen, Christian; Mergel, Thomas
Erschienen
Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 20,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Tacke

Revolutionen von 1848/49, in diesem Plural veranschaulicht sich das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes, der sich einer in den letzten Jahren spürbar gewordenen Trendwende der Revolutionsforschung verpflichtet fühlt. Dem singulären - politischen - Ereignis wollen die Herausgeber eine Vielzahl von - regional, sozial, konfessionell vorgeprägten - Erfahrungen, Verarbeitungen und Deutungen entgegensetzen. Den zumeist "jüngeren" HistorikerInnnen gelingt es mit ihren Fallstudien, ein heterogenes Bild von 1848/49 zu entwerfen, das trotz seiner Vielfalt einige grundlegende, strukturierende Thesen erkennen läßt.

Vor allem die von den Herausgebern in der Einleitung vertretene These, daß 1848/49 weniger als Beginn einer neuen Zeit, sondern vielmehr als Abschluß einer alten gedeutet werden sollte, zieht sich wie ein roter Faden durch viele der hier versammelten Aufsätze. Das verdeutlicht besonders gut der Aufsatz von Jonathan Sperber, der als einer von wenigen Beiträgen den Blick über deutsche Regionen und Themen hinaus wirft und die Gemeinsamkeit der europäischen Revolution (sic!) gerade darin erblickt, daß sich die Vielzahl sozialer Spannungen und Formen politischer Partizipation und Mobilisierung als "alte Revolution in neuer Zeit" niederschlägt. Neben Elementen, die in die Zukunft wiesen (wie etwa Nationalitätenkonflikte, Genossenschaftswesen, Arbeiterbewegung), erkennt er zahlreiche Anliegen der Revolutionäre - in Stadt und Land - die mindestens bis 1800 zurückreichen (etwa Konflikte um die Ausbreitung der Staatlichkeit, gegen Steuererhebungen, um die Regulierung der Waldnutzung, um die Rekrutenaushebung und Übergriffe gegen fremde Beamte). Wenn jedoch die Revolutionen (sic!) um 1848 zur Welt der Französischen Revolution gehörten, so fanden sie doch in einer veränderten Welt statt: sie erreichten eine europaweite Ausdehnung; sie fanden in einer sozio-ökonomisch veränderten Umwelt statt, die nicht mehr zünftisch-feudal, aber auch noch nicht vollkommen industriell-kapitalistisch war; sie sahen sich mit einem stärker ausgebauten Staatsapparat konfrontiert und vollzogen sich schließlich in Kenntnis der Ereignisse der Revolution von 1789, die sowohl für Befürworter als auch für Gegnern der Revolution handlungsweisend werden konnte. Insgesamt eignet sich der Überblick von Jonathan Sperber sehr gut als Einstieg in das Buch, werden doch zahlreiche von ihm angeschnittene Fragen in den einzelnen, zumeist regional oder lokal verankerten Studien wieder aufgegriffen.
Sabrina Müller hat sich die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen (vor allem dienstpflichtige) Soldaten der staatlichen Ordnungskräfte bereit waren, gegen Aufständige und Revolutionäre, die mehrheitlich ihrer eigenen sozialen Gruppe entstammten, vorzugehen bzw. unter welchen Bedingungen sie die Seite wechselten. Dieses Beispiel, das einen möglichen Identitätskonflikt zwischen der (sozialen) Zugehörigkeit zur revolutionären Gesellschaft und der (hierarchischen) Eingebundenheit in die staatliche Exekutivgewalt zum Ausgangspunkt hat, macht eindringlich deutlich, daß nicht abstrakte politische Ziele oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sondern vielmehr situationsbedingte, individuelle, oftmals traditionell geprägte Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen entscheidend waren für (politisches) Handeln.
Manfred Hettling liest den Opferkult um die Toten des 18. März und die Gedenkreden für Robert Blum in der Sprache des seit Ende des 18. Jahrhunderts sich ausbildenden Totenkults bzw. der Opferrhetorik. Er arbeitet vor allem eine dieser Rhetorik fehlende aktive Handlungskomponente heraus; der Opferkult bestätigte zwar, daß ein Bruch mit der Vergangenheit stattgefunden hatte, eröffnete jedoch keine einheitliche Zielvorstellung für die Zukunft - und blieb damit letztlich doch der Vergangenheit verhaftet.

Besonders hervorzuheben ist das vielversprechende, prosopographisch konzipierte Forschungsprojekt über das politische Verhalten der Esslinger Bevölkerung während der Revolution, das Carola Lipp vorstellt. Mittels einer Netzwerkanalyse, die Auskunft gibt über Vereinsmitgliedschaften, kommunalpolitische Aktivitäten und parteipolitische Organisierung, aber auch über die Beteiligung an Petitionen sowie die Teilnahme bzw. Abstinenz bei Wahlen kommt sie zu (der Ausdruck sei in diesem Kontext erlaubt) 'revolutionären', wenn auch unmittelbar einleuchtenden Ergebnissen. Zunächst kann sie die These einer Fundamentalpolitisierung während der Revolution widerlegen, indem sie herausarbeitet, daß während der Revolution vor allem die bereits zuvor lokalpolitisch aktiven und eingebundenen Bevölkerungsgruppen aktiver wurden. Nicht allein die Mitgliedschaft in einem Verein zählte; vor allem Personen, die sich bereits vorher in mehreren Vereinen, Gemeindeämtern und Bürgerinteressengruppen engagiert hatten, intensivierten 1848 ihre politischen Aktivitäten. Politisches Engagement erscheint als soziopolitische Disposition und Reproduktion lokalpolitischer Kompetenz und Macht. Politische Abstinenz (bei Wahlen), und das ist ein besonders interessantes Ergebnis, das auch andere Forschungen im Bereich der politischen Kultur beeinflussen sollte, wird in Esslingen nicht oder nur bedingt durch soziale Zugehörigkeit oder politische Ausrichtung beeinflußt, sondern folgt vielmehr der Logik und Struktur alltäglicher Kommunikation: Fast alle Nichtwähler in Esslingen hatten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft mindestens einen anderen Nichtwähler, mit dem sie sich offenbar abgesprochen und in ihrem Verhalten gegenseitig bestärkt haben. Außerpolitische, und wenn man so will, traditionelle, Faktoren - soziale Beziehungen, Freundschaften und verwandtschaftliche Verhältnisse - bestimmen politisches Verhalten in deutlich stärkerem Masse, als es die Revolutionsforschung (aber etwa auch Vereins-, Parteien- und Wahlforschung) wahrhaben wollte.
Susanne Rouette wendet sich dem bürgerlichen, vor allem durch Riehls Interpretationen verfestigten Bild der Bauern zu und zeigt, daß sich seit etwa 1830 ein Bild des politisch naiven, bewahrenden und traditionellen - defizitären - Bauern herauskristallisiert hat. Dieses Bild, das die Autorin als Gegen- und Spiegelbild des modernen Bürgers interpretiert, hat sich 1848 nicht verändert, sondern eher noch verfestigt; es hat darüber hinaus bis nahezu in die Gegenwart hinein, die Wahrnehmung der Bauern in der historischen Erforschung der Revolution bestimmt.

Kontinuitäten im Verhalten und in der Wahrnehmung weisen auch Christiane Eifert den Landräten der Provinz Brandenburg und Andreas Neemann den politischen Repräsentanten des sächsischen Landtages nach, wobei letzterer vor allem herausarbeitet, daß regionale, nicht notwendigerweise mit den Landesgrenzen übereinstimmende Spezifika und Traditionen und damit die Herausbildung regionaler politischer Milieus für das politische Verhalten während der Revolution von entscheidender Bedeutung waren.

Einen regionalen Blick auf die Revolution werfen auch Thomas Götz und Hans Heiss in ihrem Beitrag über Tirol. Wie die Autoren zurecht feststellen, bietet Tirol mit seinem Ineinandergreifen konfessioneller, politischer und Nationalitätenkonflikte "die eindrucksvollste Antithese gegen eine quasi-teleologische, auf den Nationalstaat fixierte Geschichtsschreibung" und belegt die Fruchtbarkeit eines Blicks über die engen kleindeutschen Grenzen des späteren Kaiserreichs.

Einen von den anderen Aufsätzen abweichenden Akzent setzt Rüdiger Hachtmann in seiner Analyse der politischen Sprache Berlins; die Großstadt läßt weniger die Vergangenheit, sondern die Zukunft in den Blick geraten. Damit widerspricht dieser Beitrag nicht der Grundannahme des Buches, sondern unterstützt gerade die These von der heterogenen Erfahrung der Ereignisse. Der Autor zeigt, daß sich sowohl bei den Berliner Arbeitern und Unternehmern im Verlauf der Revolution eine neue politisch-soziale Sprache auszubilden begann, die die Wahrnehmung von Klassengegensätzen und die Ausbildung eines dichotomen Klassenbewußtsein widerspiegelte, während die Handwerksmeister ihre Grundeinstellung während der Revolution kaum veränderten, sich vor allem um ihren Statuserhalt sorgten und sich dadurch nur noch enger an die Obrigkeit klammerten. Rüdiger Hachtmann mißt der von ihm herausgearbeiteten sprachlichen Veränderung 1848 "epochale Bedeutung" für die Entwicklung von Klassenbewußtsein zu, wenn er auch ausdrücklich betont, daß 1848 nur ein Beginn war, und dieser Wandel weder bruchlos war noch sämtliche Individuen betraf.

Meike Sophia Baader behandelt die Fröbelschen Kindergärten im Hinblick auf die Rolle, die Erziehung und Religion für die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft beigemessen wurden. Die Autorin betont, daß die Kindergärten - es gab 1848 in Deutschland 44 Neugründungen - ständeübergreifend und überkonfessionell konzipiert waren. (Allerdings hätte sich die Leserin an dieser Stelle mehr Informationen über die praktische Arbeit der Kindergärten gewünscht: Wurden diese Ziele eingelöst?) Die Kindergärten reagierten darüber hinaus auf veränderte soziale Verhältnisse, wie die zunehmende weibliche Erwerbstätigkeit und Nachfrage nach Beschäftigungsfeldern für bürgerliche Frauen. Die von den Kindergärten praktizierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung folgte einer Zuordnung zu (männlicher) Politik einerseits und (weiblicher) politisierter Pädagogik andererseits.

Diese Feststellung läßt sich kritisch auf das vorliegende Buch übertragen: Obwohl die Herausgeber in ihrer Einleitung neben der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, Regionen, Konfessionen und Generationen zweimal auf das Geschlecht als handlungs- und werteprägenden Faktor hinweisen, behandelt fast keiner der Beiträge diese Frage. Außer einem Hinweis von Jonathan Sperber auf die Gründung von Frauenvereinen während der Revolution, tauchen in der großen und kleinen Politik der Revolution nur Männer auf - ohne daß diese Besonderheit von den AutorInnen reflektiert wird -; nur der Beitrag der Fragen der Erziehung behandelt, beschäftigt sich (natürlich?) mit der Frage der Geschlechtszugehörigkeit. Die Frage, wie sich Geschlechtszugehörigkeit auf Wahrnehmungen und Deutungen der Revolution auswirkten und wie die Frage nach dem Geschlecht auch für die Revolutionsforschung fruchtbar gemacht werden kann, bleibt in dem Sammelband offen.

Christian Jansen, Thomas Mergel und Philipp Sarasin wenden sich schließlich der Erinnerung zu bzw. beleuchten den Ort, den die Revolution im kollektiven Gedächtnis eingenommen hat. Diese Beiträge belegen, jeder auf seine Art, die Thesen von Maurice Halbwachs: erstens sind immer konkurrierende soziale Gruppen an der Produktion der Erinnerung beteiligt und zweitens tritt neben das aktive Erinnern immer auch ein Prozeß des kollektiven Vergessens. Während sich Christian Jansen vor allem der unmittelbaren Verarbeitung der revolutionären Ereignisse bei den (linken) Akteuren selbst zuwendet, betrachtet Thomas Mergel die (vor allem historiographische) Erinnerung an die Revolution in den sozialmoralischen Milieus des Kaiserreichs. Keines der von ihm untersuchten Milieus (der Nationalliberalen, Sozialdemokraten und Katholiken) verfügte während des Kaiserreichs über eine einheitliche Deutung der Revolution, sondern innerhalb jedes Milieus konkurrierten zwei voneinander abweichende Interpretationen, wenn sie auch jeweils über ausreichende Gemeinsamkeiten verfügten, die die Unterscheidung in Milieus gerechtfertigt erscheint.

Philipp Sarasin behandelt schließlich die fehlende Erinnerung an die Revolution in der Schweiz. Obwohl die Schweiz als einziges Land in Europa auf eine - im Sinne der unmittelbar politischen Ergebnisse - erfolgreiche Revolution zurückblicken konnte, haben die Ereignisse im kollektiven Gedächtnis des Landes keinen Platz eingenommen. Die mögliche Erinnerung an den Sonderbundskrieg und damit an soziale Konflikte innerhalb der modernen Gesellschaft beförderte einen Prozeß des kollektiven Verdrängens zugunsten einer aktiven "Deckerinnerung" an die Befreiungskriege des Mittelalters und die Mythen um Tell, Rütli und Winkelried. Mit dem Vergessen von 1847/48 und der Hinwendung ins Mittelalter, so resümiert Philipp Sarasin die Kosten dieser Entwicklung, fehlt der Schweiz eine populäre Sprache der Modernität.
Insgesamt vermitteln die Beiträge in diesem Band ein anschauliches Bild einer neue Fragen stellenden Revolutionsforschung. Der Blick auf die Heterogenität der Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungen eröffnet viele Einblicke in das Geschehen 1848.

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