R. van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums

Titel
Die Entdeckung des Individuums 1500-1800.


Autor(en)
van Dülmen, Richard
Erschienen
Frankfurt am Main 1997: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 9,45
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Tauber, Historisches Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Richard van Duelmens Buch ueber die Entdeckung des modernen Individuums beginnt mit einer erstaunlichen Bemerkung: Jacob Burckhardts Analysen der Renaissance seien "dem idealistischen Geist des 19. Jahrhunderts" verpflichtet. Nun erinnert sich der Leser der "Cultur der Renaissance in Italien" aber an die vielen Stellen in Burckhardts Epochenpanorama, wo gerade die Kleintyrannen ihre neuentdeckte Individualitaet mit Vorliebe in Gewalttaten umsetzen, wo Verbrechen aus Ruhmsucht begangen werden und wo der soeben aus den Fesseln kirchlicher Auftraggeberschaft entlassene moderne Kuenstler sogleich seine neugewonnene Freiheit dazu nutzt, exzessiv der eigenwilligen Formgebung zu froenen und dadurch den klassischen Wertekanon des Schoenen und Guten zu sprengen. Allzu idealistisch scheint also Burckhardts Verhaeltnis zum modernen Individuum nicht gewesen zu sein.

Doch van Duelmen geht noch einen Schritt weiter: Bei dem Versuch, diesen vermeintlichen Idealismus zu kritisieren, wird die Selbstentdeckungsgeschichte des "Ich" durch drei Jahrhunderte paradoxerweise noch weiter ins Positive gewendet als dies bei Burckhardt je der Fall war, so dass sie sich dem Leser als eine Teleologie der Freiheit darbietet. Bereits der Klappentext des Buches legt die Motivation fuer eine solche Sichtweise offen: "Selbsterfahrung, Selbstreflexion und Selbstbestimmung sind zentrale Bezugspunkte fuer menschliches Denken und Handeln in der heutigen Zeit." Konsequent siedelt sich die Metaphorik des Textes zwischen hegelianischer Selbstreferentialitaet ("Der Staat wie auch das Recht begannen sich als bewusste Schoepfungen der Vernunft zu begreifen", S. 126) und modernem Selbsterfahrungsvokabular an und kulminiert in der "Selbstverwirklichung" (S. 133) des modernen Geistes im 18. Jahrhundert.

Die Stationen dieses Weges "durch Nacht zum Licht" - wobei auch dem Mittelalter bereits Bemuehungen um Selbstfindung konzediert werden - fuehren durch sechs Kapitel von der "Entdeckung des Individuums im 16. Jahrhundert" (vor allem durch die kernigen Reformatoren, die dort standen und nicht anders konnten), ueber "Bekenntnis und Kontrolle", "Die Wissenschaft vom Menschen" (mit besonderem Augenmerk auf die Physiognomik als Vorstufe der Anthropologie), "Die Inszenierung des Selbst" (in Autobiographie, Tagebuch und Briefwechsel), den "Prozess der Individualisierung" (besonders in der buergerlichen Kernfamilie) hin zu "Individuum und Aufklaerung" (mit zunehmenden Entfaltungsmoeglichkeiten fuer Frauen, Kinder und Randgruppen).
Van Duelmens Staerke liegt sicherlich in der Vielzahl und Diversitaet der angesprochenen Quellengattungen, wobei weder literarische Zeugnisse noch Werke der bildenden Kunst ausgeschlossen sind. Derjenige, der sich erstmals dem Thema naehert, wird sicherlich dankbar sein fuer den knappen und konzisen Ueberblick, den das Buch bietet ebenso wie fuer eindeutige Charakterisierungen wie "Der italienische Naturforscher und Arzt Girolamo Cardano (1501-1576) war eine hoechst komplexe Figur, selbstbewusst, mit starkem Realitaetssinn und grosser Leidenschaftlichkeit" (S. 27). Fuer ihn ist es hilfreich zu erfahren, dass der pietistische Pfarrer Philipp Matthaeus Hahn "ein sehr frommer, aber komplizierter Mann" war (S. 101) und der Cardinal de Retz "ein geborener Verschwoerer" (S. 91). Auch Lektueretips wird er gerne entgegennehmen, wenn der Autor ihn wissen laesst, dass Montaignes Essais und die de Retzschen Memoiren auch "heute noch lesenswert" (S. 29 u. 91) sind. Dem Kunstinteressierten wird die Behandlung der Portraetmalerei im 16. Jahrhundert auf zweieinhalb Seiten Lust auf mehr machen.

Nur derjenige, der seine methodischen Kenntnisse ueber ego-documents nicht mehr allein aus Georg Mischs monumentaler Darstellung schoepft, wird vielleicht etwas erstaunt sein, dass Benvenuto Cellinis Autobiographie ein erinnernder Bericht "an ein angenehmes, aufregendes Leben", voller "Naivitaet" sein soll. Und diesem Leser koennte die Kategorie der Ehrlichkeit - die Autoren von Autobiographien sind nach van Duelmen "selten ganz ehrlich" (S. 87) in der Schilderung ihrer Lebenswege - zur Deutung von Kuenstlerselbststilisierungen eventuell nicht hinreichend griffig erscheinen. Zustimmen muesste allerdings auch er der Einschaetzung des Autors: "Der Mensch ist nirgendwo unmittelbar greifbar" (S. 38). Aber er kann zu sich selbst finden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension