F.E. Lehoucq u.a.: Stuffing the Ballot Box

Titel
Stuffing the Ballot Box. Fraud, Electoral Reform, and Democratization in Costa Rica


Autor(en)
Lehoucq, Fabrice E.; Molina, Iván
Reihe
Cambridge Studies in Comparative Politics
Erschienen
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
£45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Mücke, Seminar für Romanische Philologie, Georg-August-Universität Göttingen

Die politische Geschichte Lateinamerikas seit der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert ist bis vor wenigen Jahren kaum beachtet worden. Insbesondere zur Entstehung und Ausformung der politischen Institutionen liegen bis heute nur einige vereinzelte Studien vor. Die Bibliografie zu so zentralen Themen wie z.B. der Geschichte der Wahlen, der Parlamente, der Regierungspolitiken etc. weist noch immer große Lücken auf. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sich in Lateinamerika seit den 1820er Jahren liberale Nationalstaaten bildeten, in denen die genannten Institutionen eine zentrale Rolle spielen – sei es in der politischen „Imagination“, sei es in den konkreten Machtkämpfen. Unsere, von deutschen und europäischen Mustern geprägten, Vorstellungen von der Entwicklung bzw. den Entwicklungen des Nationalstaates und der westlichen Demokratie leiden darunter, dass sie von den drei Regionen im atlantischen Raum, die dem Paradigma des liberalen Nationalstaates folgten (Europa, Nordamerika ohne Mexiko, Lateinamerika), die Institutionengeschichte Lateinamerikas (und zuweilen auch Südeuropas) fast völlig übergehen. Erst seit Ende der 1980er Jahre gibt es verstärkt Bemühungen, dieses Defizit auszugleichen. Die neue Politikgeschichte hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von hervorragenden Studien hervorgebracht, deren gemeinsamen Nenner man darin finden kann, dass die politischen Geschichten im atlantischen Raum viel ähnlicher waren als vielfach angenommen. Während der Nordatlantik nicht ungebrochen demokratisch war bzw. ist (es sei nur an die Probleme bei den US-Präsidentschaftswahlen in Florida im Jahre 2000 erinnert), lässt sich die politische Geschichte Lateinamerikas keineswegs auf Caudillos, Revolutionen und Militärdiktaturen beschränken. Vielmehr spielten die verfassungsmäßigen politischen Institutionen eine viel bedeutendere Rolle in Lateinamerika als gängige Überblicksdarstellungen gelegentlich generieren.

Fabrice E. Lehoucq und Iván Molina greifen mit den Wahlen ein zentrales Thema der neuen Politikgeschichte auf und erschließen gleichzeitig Neuland, da sie – was den Umfang der gesichteten Quellen und die Tiefe der Analyse betrifft – in bisher einzigartiger Weise den Wahlbetrug analysieren. Ihr Gegenstand ist die Geschichte Costa Ricas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie beschäftigen sich also mit einem Land, das von vielen als eine Art lateinamerikanisches Musterländle betrachtet wird. Der Vergleich bezieht sich dabei nicht auf den materiellen Reichtum, sondern das Fehlen tiefgreifender sozialer, politischer und ethnischer Konflikte. Trotz aller – auch gewalttätigen Auseinandersetzungen – wurde Costa Rica im Gegensatz zu seinen mittelamerikanischen Nachbarn Nicaragua, Guatemala und El Salvador nicht durch jahrzehntelange Bürgerkriege zerrissen. Auch die Konflikte zwischen einem indianischen und/oder afroamerikanischen Bevölkerungsanteil und einer tatsächlich oder vermeintlich europastämmigen Schicht verliefen in Costa Rica weniger traumatisch als anderswo. Und schließlich unterschied sich die Sozialstruktur zumindest in den städtischen Zentren Costa Ricas von vielen anderen Ländern des Subkontinents dadurch, dass hier eine breite Mittelschicht vorhanden war, die Konflikte zwischen Arm und Reich (was nicht immer Arbeit und Kapital bedeutete) entschärfen half.

Lehoucq und Molina zeigen in ihrer Arbeit, wie sich in Costa Rica im Wechselspiel zwischen Wahlbetrug und Wahlreform in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein mehr oder weniger demokratisches Wahlsystem entwickelte. Ihre zentrale Frage lautet, warum die politischen Eliten Reformen einführten, die den Wahlbetrug erschwerten, obwohl es doch dieselbe Gruppe war, die von diesem Betrug profitierte. Lehoucq und Molina zeigen überzeugend, dass es in der Regel Situationen von Machtbalance waren, in denen sich konkurrierende politische Kräfte von einer Wahlreform mittelfristig Vorteile gegenüber den anderen Parteien versprachen. Das Augenmerk von Lehoucq und Molina liegt also weniger auf den sozialen Veränderungen als vielmehr auf der Eigendynamik des politischen Systems. Die Wechselwirkungen mit den Entwicklungen und Strukturen der gesamten Gesellschaft werden von den Autoren zwar angesprochen, stehen aber nicht im Mittelpunkt ihres Interesses. Hierin liegt aber angesichts der oben skizzierten Forschungsdefizite gerade eine der Stärken des Buches: es behandelt die innere Dynamik der politischen Institutionen. So müssen sie weder idealisierte Vorkämpfer für die Demokratie kreieren, noch eine sozioökonomische Entwicklung konstruieren, aus der sich die politischen Reformen quasi mechanisch ergaben.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Das erste Kapitel analysiert die Jahre zwischen 1901 und 1912. Wahlen waren indirekt, die Stimmabgabe nicht geheim, und in Zweifelsfällen entschieden Exekutive und Legislative gemeinsam, ob ein Wahlergebnis gültig war oder annulliert werden musste. Lehoucq und Molina zeigen, dass in den ländlichen Gebieten deutlich häufiger Wahlbetrug angezeigt wurde als in den Städten. Sie führen dies nicht allein auf die Sozialstrukturen zurück (die auf dem Land stärker von sozialen Konflikten geprägt waren), sondern auf die Tatsache, dass auf dem Land in der Regel nur ein Abgeordneter pro Wahlkreis gewählt wurde, in den städtischen aber häufig mehrere. Die gemeinsame Wahlbeurteilung durch Kongress und Regierung diente – den Autoren zufolge – keineswegs einer stärkeren Transparenz des Wahlprozesses, sondern hatte in erster Linie zur Folge, dass das Interesse der Exekutive, die Wahlen zum Kongress zu kontrollieren, gesteigert wurde. Im zweiten Kapitel wird die Frage diskutiert, warum es trotz verschiedener Ansätze zunächst nicht gelang, die Wahlgesetzgebung zu reformieren. Hier heben die Verfasser hervor, dass "saubere" Wahlen den Wahlausgang unsicherer machten und daher in der politischen Klasse wenig Interesse bestand, die Wahlverfahren zu ändern. Die Einführung der direkten Wahl widerspricht dieser These nicht, auch wenn sie die Möglichkeiten des Wahlbetrugs reduzierte. Sie diente in erster Linie einer stärkeren Kontrolle des Wahlprozesses, da durch sie die ihrerseits nicht immer kontrollierbaren Wahlmännergremien überflüssig wurden. Gleichzeitig wurde es damit aber auch für die Präsidenten schwerer, einen ihnen geneigten Nachfolger durchzusetzen, da dieser sich nun auch in direkten Wahlen bewähren musste.

Das dritte Kapitel beschreibt diese Schwierigkeiten in den ersten zehn Jahren nach Einführung der direkten Wahl, 1913 bis 1923. Am Ende dieser Periode war es der dominierenden Republikanischen Partei nur durch offenkundige Wahlfälschung möglich, ihren Kandidaten, Jiménez, in das Präsidentenamt zu heben. Dies führte zu massiven Protesten, die zwar keine Wahlannullierung durchsetzen konnten, aber immerhin zur Konsequenz hatten, dass der neue Präsident eine weitreichende Wahlreform in Angriff nahm. Die Reform erfolgte in zwei Schritten: 1925 und 1927. Ihre wichtigsten Elemente waren die Einführung der geheimen Wahl, gedruckter Stimmzettel und einer Wahlkommission. Die Einrichtung der Wahlkommission bedeutete zwar einen Fortschritt gegenüber dem vorherigen System; das neue Gremium blieb aber in einer Weise abhängig von Exekutive und Legislative, die die Leitung und Bewertung von Wahlen als ein politisch besonders umkämpftes Terrain fortbestehen ließ und damit zu einem der Schwachpunkte des Verfassungssystems machte. Der Wahlbetrug in den zwanzig Jahren nach der Reform nahm nicht ab, sondern verstärkte sich, wie das fünfte Kapitel zeigt. Insbesondere die Vernichtung, die Fälschung und der Austausch von Wahlzetteln sowie die massive Einschüchterung von Wählern wurden beklagt. Wie in den Jahrzehnten vor der Reform waren weder der Kongress noch die Exekutive willens oder in der Lage, den Wahlbetrug einzudämmen.

Es war wieder ein Präsident, der unter dem Vorwurf des Wahlbetrugs an die Macht gekommen war, welcher eine weitreichende Wahlreform in Angriff nahm. Das Wahlgesetz von 1946 stärkte die neue Wahlbehörde und erschwerte durch eine Reihe von Bestimmungen den Einfluss der Parteien auf die Stimmabgabe und –auszählung. Warum verzichtete die politische Klasse auf ihre Möglichkeit, die Wahlen betrügerisch zu manipulieren? Lehoucq und Molina argumentieren, dass die zugespitzten politischen Konflikte in den 1940er Jahren es sinnvoll erscheinen ließen, die Auseinandersetzungen in gemäßigterer Form weiterzuführen. Es bestand Übereinstimmung darüber, dass eine weitere Eskalation der politischen Elite parteiübergreifend mehr geschadet als genutzt hätte. Paradoxerweise führten die ersten Wahlen unter dem reformierten Wahlrecht gerade zu jener Polarisierung, welche die Reform hatte vermeiden sollen. Der Bürgerkrieg von 1948 hatte aber nicht die Rücknahme der Wahlreform zur Folge, sondern leitete ganz im Gegenteil noch erheblich weitergehende Reformen ein: Zum einen wurde endlich das Frauenwahlrecht eingeführt. Zum anderen erhielt die Wahlbehörde als oberstes Überwachungsorgan völlige Unabhängigkeit von Exekutive und Legislative. Zusammen mit dem Gesetz von 1946 bildete diese Reform die Grundlage für die vergleichsweise demokratische Wahlgeschichte Costa Ricas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Lehoucq und Molina ist ein großer Wurf gelungen. Auf der Grundlage von mehr als 1300 Vorwürfen von Wahlbetrug beschreiben sie die Kultur des Wählens und Wahlfälschens in bisher nicht da gewesener Weise. Sie können die Bedeutung der Wahlreformen ganz neu beurteilen, da diese sich erst durch ihre genauen Kenntnisse des Wahlprozesses erschließt. Zusammen mit den wenigen größeren Studien zur Wahlfälschung in den nordamerikanischen und europäischen Ländern ist die Arbeit von Lehoucq und Molina damit eine unverzichtbare Referenz für jeden, der sich für die Geschichte der Wahlen in der atlantischen Welt interessiert.

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