Deutsche und schwedische Baltikumspolitik

: „Anwalt der Balten“ oder Anwalt in eigener Sache?. Die deutsche Baltikumspolitik 1991-2004. Berlin 2008 : BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, ISBN 978-3-8305-1567-8 369 S. € 44,00

: Von Madrid nach Göteborg. Schweden und der EU-Beitritt Estlands, Lettlands und Litauens, 1995-2001. Frankfurt am Main 2008 : Peter Lang/Frankfurt am Main, ISBN 978-3-631-57523-9 X, 278 S. € 53,60

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Winkelmann, Institut für Sozialwissenschaften, Bildungs- und Sozialwissenschaften, Universität Oldenburg

Die baltischen Staaten mussten sich nach dem Ende der sowjetischen Besatzung neu orientieren und entschieden sich für den „Weg nach Europa“. Dieser wurde bis zum Beitritt der drei Länder zur NATO und EU auch durch die Wissenschaft sehr intensiv begleitet. Im Zentrum standen hier allerdings meist nur einseitig die Außenpolitik der baltischen Staaten1 oder die baltischen Staaten als Adressaten der EU-Politik.2 Weitgehend ausgeblendet wurden aber die gleichzeitig entstandenen Herausforderungen für die westlichen Staaten, die neuen Akteuren gegenüberstanden und auf die veränderte Lage reagieren mussten. In diese Lücke stoßen die beiden Arbeiten von Helge Dauchert und Ulrike Hanssen-Decker vor.

Bei beiden handelt es sich um zeitgeschichtlich orientierte Policy-Analysen der schwedischen bzw. der deutschen Außenpolitik gegenüber den baltischen Staaten. Die Dissertation von Helge Dauchert erhebt den Anspruch, die Außenpolitik der Bundesrepublik als Ganzes unter gleichzeitiger, kontrastierender Berücksichtigung der Außenpolitik der baltischen Staaten zu analysieren. Er folgt hierbei dem eher ungewöhnlichen aber interessanten Weg, die Außenpolitik eines Landes und seiner Institutionen auch als Ausdruck politischer Kultur zu verstehen. Gleichzeitig integriert Dauchert die verschiedenen theoretischen Ansätze der Internationalen Beziehungen in seine Arbeit. Die Analyse der schwedischen Außenpolitik durch Ulrike Hanssen-Decker ist zeitlich enger gefasst und behandelt die schwedische Politik seit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 und endet mit der schwedischen Ratspräsidentschaft. Hierbei konzentriert sie sich auf die Rolle Schwedens im Prozess der europäischen Osterweiterung, bezieht in ihre Studie auch die Beziehungen Schwedens zu Finnland und Dänemark mit ein und konzentriert sich dabei auf bi- und trilaterale Positionen. Die Arbeit verfolgt einen analytischen und quellenkritischen Ansatz und entspricht damit einem methodischen Grundverständnis der Geschichtswissenschaft.

Die Dissertation von Hanssen-Decker hat eine ungewöhnlich kurze Einleitung, in der Fragestellung und der Forschungsstand behandelt, aber keinerlei methodische Verfahren erläutert werden. Angesichts der fast 30 geführten Interviews (S. 249f.) ist dies nachlässig und lässt Fragen zur Methode offen. Bei Dauchert wiederum nimmt die Einleitung einen viel größeren Raum ein und setzt sich sehr ausführlich mit den verschiedenen methodischen und definitorischen Problemen auseinander (S. 24-48). Im Großen und Ganzen beziehen sich beide Autoren auf den aktuellen Forschungsstand und nutzen die zugänglichen Quellen. Dieser Quellenzugang war bei Daucherts Dissertation wegen der deutschen Sperrfristen für Dokumente (S. 44) deutlich schwieriger als bei Hanssen-Decker, die wiederum bewusst auf teilweise geschwärzte Quellen verzichtete und dadurch Teilerkenntnisse aus diesem Datenkorpus nicht nutzen wollte bzw. konnte (S. 6). Dauchert kündigt in der Einleitung den Rückgriff auf die Berichterstattung der deutschsprachigen Presse (S. 43) an. Hierdurch entsteht der hoffnungsvolle Eindruck einer sehr umfassenden und aufwändigen qualitativen Forschungsarbeit, tatsächlich finden sich aber weniger als ein Dutzend Quellen der deutschsprachigen Presse. Hier wäre angesichts fehlender offizieller Quellen mehr möglich gewesen. Dauchert erwähnt „das Interesse der deutschen Presse“ und das wachsende „mediale Wohlwollen gegenüber der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen“ (S. 94). Es bleibt offen, ob eine intensivere Berücksichtigung dieser Informationsquellen auch qualitativ bessere Ergebnisse zutage gebracht hätte.

Beide Autoren stellen ihrer eigentlichen Analyse einen historischen Überblick voran (Hanssen-Decker) beziehungsweise arbeiten die historischen Entwicklungen in den Gesamtansatz ein (Dauchert). Während Hanssen-Decker sich auf die Zeit seit 1940 konzentriert und diesen Zeitraum in verschiedene Etappen gliedert (S. 9-59), bezieht Helge Dauchert die historische Entwicklung seit dem Mittelalter mit ein. Er begründet dies zwar mit seinem Forschungsansatz der politischen Kulturforschung, aber zielführende Erkenntnisse sind hierdurch nicht zu erlangen. Dies macht er auch selbst ansatzweise deutlich, wenn er schreibt, dass von „Beziehungen zwischen Deutschland und den baltischen Staaten […] strenggenommen nur in diesen Jahren [1918-1940] gesprochen werden“ kann (S. 49). Ein zeitlich späterer Bezug auf die deutsch-baltischen Beziehungen wäre für Daucherts Zwecke ausreichend gewesen.

Im weiteren Verlauf der Arbeit bleibt Hanssen-Decker bei der sinnvollen Einteilung der schwedischen Regierungspolitik in mehrere Etappen. Hierbei unterteilt sie in eine erste Etappe von 1995-1997 („Start“, S. 61-128) und eine zweite von 1997 bis 2001 („Umsetzung“, S. 129-217). In der Ersten wird deutlich, dass Schweden die Erweiterung unterstützte und gleichzeitig verhalten auf die Weiterentwicklung der europäischen Verträge reagierte. Die Motive für Schwedens Außenpolitik gegenüber den baltischen Staaten seien in den Bereichen Sicherheitspolitik und die Bewältigung historischer Hypotheken wie der Anerkennung der Inkorporation der baltischen Staaten in die UdSSR zu finden, sowie in wirtschaftlichen Interessen und politischen Ambitionen im Ostseeraum. Die zweite Etappe zeigt die erweiterungspolitische Konstante der schwedischen Regierungspolitik. Auch das Engagement der Ratspräsidentschaft Schwedens für die Erweiterung in der ersten Hälfte des Jahres 2001 wird eingehend untersucht und dessen Betonung der Erweiterung attestiert und herausgehoben. Immer wieder verweist Hanssen-Decker auf die zurückhaltenden schwedischen Positionen zur Weiterentwicklung der EU und die innenpolitische Situation und verbindet die Regierungspositionen mit den Beitrittsgesuchen der baltischen Staaten zur EU. Damit kann sie die schwedische Position des gleichzeitigen Beitritts („Startlinienmodell“) seit den 1990er-Jahren nachzeichnen und offenbart auch eine ambivalente Haltung der aufeinanderfolgenden schwedischen Regierungen gegenüber der Europäischen Union. Diese zeigt sich in der zögerlichen Bereitschaft an der Weiterentwicklung der EU mitzuwirken, bei gleichzeitiger Unterstützung der Osterweiterung der Union.
Helge Dauchert unterteilt entsprechend seinem Forschungsansatz die Außenpolitik der Bundesrepublik in eine Perzeptionsanalyse (S. 49-96), die auch den historischen Überblick enthält, sowie eine Systemanalyse (S. 97-127), in der die Akteure der Außenpolitik der Bundesrepublik und der baltischen Staaten analysiert werden. In der Systemanalyse wird bereits sehr deutlich, wie gering das Interesse der Regierungen Kohl und Schröder an den baltischen Staaten war (S. 102, 122). Im folgenden Kapitel erstellt der Verfasser eine „Normenanalyse“ (S. 128-162) und betont die Bedeutung der Vergangenheit und der daraus resultierenden Einstellungen für das außenpolitische Handeln Deutschlands und der baltischen Staaten, die stark voneinander abweichen und gegenseitige Perzeptionsprobleme aufweisen (S. 154ff.). In der „Interessenanalyse“ (S. 163-218) wird auf die durchaus übereinstimmenden allgemeinen Interessen abgehoben. In dieses Kapitel wird auch ein Exkurs zu den russischen Interessen in der Region eingeschoben. Angesichts der bestehenden politischen Konflikte zwischen Russland und den baltischen Staaten und dem Ziel guter deutsch-russischer Beziehungen ein sinnvoller Einschub, der die schwierige Position der Bundesrepublik aufzeigt. In der „Machtanalyse“ (S. 219-246) verweist Dauchert, auf das eingeschränkte Machtpotential der Bundesrepublik gegenüber den baltischen Staaten. Die Studie verdeutlicht, dass die Bundesrepublik einen ‚europäischen‘ Ansatz der Außenpolitik gegenüber Estland, Lettland und Litauen verfolgt und keine eigene Konzeption für die baltischen Staaten. Die „Verhaltensanalyse“ ist gleichzeitig auch das abschließende und wertende Kapitel der Dissertation (S. 247-333). Dauchert kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik keine eigenständige Baltikumpolitik und viel stärker eine europäische Strategie verfolgte, ansonsten eher zurückhaltend war. Es wird auch deutlich, wie stark die deutsche Außenpolitik auf die Befindlichkeiten der Russischen Föderation Rücksicht genommen hat (S. 260ff.) und dadurch die baltischen Staaten irritierte und probaltische Initiativen verhinderte. Die Eingangsfrage, ob die Bundesrepublik ein „Anwalt der Balten“ sei, konnte somit eindeutig verneint werden (S. 123ff.).

In ihrer Arbeit kommt Hanssen-Decker zu einem ambivalenten Ergebnis schwedischer Europapolitik. Zwar wird im Laufe der Arbeit immer wieder deutlich, dass Schweden eine Differenzierung von Europäischer Union und Osterweiterung vornahm, doch wäre eine stärkere Betonung der inhaltlichen Ambivalenz im Fazit angemessener gewesen. So besteht ein Problem, wenn Hanssen-Decker schreibt, dass es Schweden an einer europapolitischen Vision mangelte (S. 220), gleichzeitig der Vertrag von Nizza aber „mit schwedischen Vorstellungen d’accord“ ging (S. 185). Die Grundkonstante schwedischer Außenpolitik wird aber deutlich. Auf der einen Seite unterstützte Schweden den gleichzeitigen Beitritt der baltischen Staaten im Rahmen des Startlinienmodells und auf der anderen Seite war das Land zurückhaltend, was die Reform der europäischen Verträge betraf. Wie in der gesamten Arbeit wird auch hier ein erweiterter Kontext schwedischen Handelns deutlich, der sich im Rahmen von internationaler Koordination mit den Nachbarländern und innenpolitisch motivierter Rücksichtnahmen auszeichnet. Hanssen-Decker stellt das Engagement Schwedens in einen direkten Zusammenhang mit den Bestrebungen der EU, eine Erweiterung um die Ostseeanrainer zu erreichen, und schwedische Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen umzusetzen.

Beide Arbeiten bringen einen Beitrag zur Fortentwicklung der Forschung zu den baltischen Staaten. Leider kommt die Bedeutung der Innenpolitik für die bundesdeutsche Außenpolitik bei Dauchert etwas zu kurz. Die Arbeit bleibt damit sehr stark elitenzentriert. Hanssen-Decker lässt wiederum den institutionellen Aspekt außer Acht, den es aber zu berücksichtigen gilt. Es ist mit diesen Arbeiten auch gelungen, die bisherige Fokussierung auf das Verhalten der baltischen Staaten zu durchbrechen und die baltischen Staaten als Adressaten von Außenpolitik einzelner Staaten zu verstehen und dadurch ein kontrastierendes Bild aufzuzeigen. Außerdem bieten beide Arbeiten Ansätze, die weiterzuverfolgen sind beziehungsweise ausgebaut werden können oder sich in vergleichenden Studien wieder finden sollten. Die vorgelegten Studien eignen sich durch ihre konsequenten Strukturen, gute Lesbarkeit und die Zusammenfassungen am Ende der Kapitel auch für interessierte Laien und Studierende der Politikwissenschaft und Geschichte.

Anmerkungen:
1 Thomas Schmidt, Die Außenpolitik der baltischen Staaten. Im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Wiesbaden 2003.
2 Stefan Gänzle, Die Europäische Union als außenpolitischer Akteur. Eine Fallstudie zur EU-Politik gegenüber den baltischen Staaten und Russland, Baden-Baden 2007.

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