K. Klitgaard Povlsen (Hrsg.): Northbound

Titel
Northbound. Travels, encounters and constructions 1700-1830


Herausgeber
Klitgaard Povlsen, Karen
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Kuchenbuch, Oldenburg

Der europäische Norden, so scheint es angesichts der gegenwärtig erneut aufflackernden Debatte um die Mohammed-Karikaturen, liegt für viele dänische Kommentatoren eindeutig im Westen. Er ist Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“: einer jahrhundertealten, aufgeklärten, humanistischen „Zivilisation“, die es gegenüber Angriffen von außen zu verteidigen gilt – Angriffen durch ein antiliberales, religiöses „Anderes“. Dass diese – hier natürlich stark vergröberte – Unterscheidung nicht immer evident war, dass zum Beispiel „Asien“ und der Norden einmal in Eins fielen, das ist nur eine der Einsichten, die der Sammelband „Northbound. Travels, Encounters and Constructions 1700-1830“ bereithält. 18 Beiträge widmen sich der Konstruktion des geografischen, politischen, sprachlichen und kulturellen Raums „Norden“, wobei Reiseberichten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.1

Der überwiegende Teil der Beiträge hebt darauf ab, wie vielschichtig, teils sogar widersprüchlich historische Imaginationen vom Norden waren. So befasst sich Peter Stadius mit spanischen Darstellungen des schwedischen Königs Gustav II. Adolf in der Folge des 30-jährigen Krieges, die einerseits vor den fremden Häretikern aus dem Norden warnten, sich andererseits aber der gemeinsamen „gotischen“ Vergangenheit des spanischen und des schwedischen Adels widmeten. Ähnliche Ambivalenzen arbeitet Kerstin Langgård am Beispiel der englischsprachigen Diskurse über Inuit und Dänen in Grönland im 18. und 19. Jahrhundert heraus, die zwischen Identifikation und Superioritätsbezeugungen pendelten. Dass aber auch die „innernordische“ Realität höchst komplex war, illustriert Antje Wischmanns Beitrag zu einer protoindustriellen Werkssiedlung im Schweden des 18. Jahrhunderts: Lövstabruk – eine von der Umgebung abgeschottete Kolonie belgischstämmiger, calvinistischer Emigranten – verkörperte eine utilitaristische Vision vom sozial streng differenzierten, harmonischen und effizienten Leben.

Wie zwei Aufsätze Karen Klitgaard Povlsens zeigen, bieten insbesondere die bürgerlichen „Grand Tours“ der Aufklärungszeit einen Einblick in die Heterogenität der Bilder vom Norden, die als Reaktualisierung des zuvor Gelesenen zu verstehen sind – Reisen war gerade im 18. Jahrhundert immer zugleich Lesen und Schreiben, ein intertextuelles Wandern auf den Spuren von Vorgängern. Dass die Wahrnehmung bereister Länder aber auch von den materiellen Umständen der Fortbewegung beeinflusst war, belegt Bjarne Rogan. So waren Touren im Norwegen des späten 18. Jahrhunderts geprägt vom „Skyss“-System, das die Bauern im Norden des Landes verpflichtete, Besucher mit dem eigenen Fuhrwerk zu befördern. Diese Praxis schuf große Kontaktflächen zwischen den sozial höhergestellten Reisenden und der Landbevölkerung Norwegens, was wiederum den Reisenden suggerierte, die norwegischen Bauern lebten in einer vergleichsweise egalitären Gesellschaft. Das verkomplizierte die Auffassung vom Norden: Die Bürger im norwegischen Süden erschienen demgegenüber als vom Wohlstand korrumpierte Aufsteiger.

Hendriette Kliemann-Geisinger beschreibt den Wandel der geo- und kartografischen Einzirkelung des Nordens im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Sie widmet sich Versuchen, den Norden über naturräumliche Grenzen zu markieren, aber auch der zunehmenden Differenzierung dieses „mappings“. Während August Ludwig Schlözers „Allgemeine Nordische Geschichte“ von 1771 sich noch überwiegend mit Asien und Russland befasste, verengte sich um 1800 der Fokus – infolge der epistemischen und institutionellen Differenzierung der Wissensbereiche einerseits, des zunehmenden Interesses an den nordischen Regionen als Nationen andererseits. Einhergehend mit der Aufwertung der Sprachräume dieser „germanischen“ Länder verlagerte sich zugleich die Grenze zum „barbarischen“ Norden nach Osten. Was bei Kliemann-Geisinger anklingt, bestätigen mehrere Beiträge: Wechselwirkungen von Wissenschaft und Politik produzierten im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert neue Blicke auf den Norden. Wurde lange vor allem die zivilisatorische Rückständigkeit der Region beschrieben (und meist auf das Klima zurückgeführt), setzten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker sprach- und volksbezogene Differenzierungen durch – das mündete in die Prozesse des nation building in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. So argumentiert Jesper Hede, dass das kontinentaleuropäische Wissen von der Literatur des Nordens im 18. Jahrhundert stark von einem Zivilisationsdiskurs geprägt war, der die nordischen Länder auf einer teleologischen Achse verortete. Solche Einordnungen wurden dann von kulturell-geografischen Unterscheidungen zwischen Norden und Süden abgelöst, nicht zuletzt infolge eines neuen, organizistischen Volksbegriffs, wie ihn Bernd Henningsen in seinem Aufsatz zur Bedeutung Johann Gottfried Herders für die Konstruktion des Nordens beleuchtet. Kirsten Gomard unterstreicht dies am Beispiel des Disputs zwischen den Sprachwissenschaftlern Rasmus Rask und Jacob Grimm über die Benennung der skandinavischen Sprachen („gotisch“ oder „germanisch“?), der bereits nationalistisch überformt war. Sumarlidi R. Isleifsson schließlich beleuchtet den Wandel in der Perzeption Islands: Vom dystopischen Unort an der Peripherie der bekannten Welt wurde Island in der Romantik zu einer Art Gegengriechenland und zugleich zum Analyseobjekt von Wissenschaftlern auf der Suche nach den Ursprüngen der „germanischen“ Sprachen.

Dass solche Grenzziehungen auch innernordisch ausgehandelt wurden, verdeutlicht Karin Sanders Auseinandersetzung mit literarischen und archäologischen Positionen zur Frühgeschichte in Dänemark um 1800. Sanders zeigt, dass archäologische Funde zwar Ausgangspunkt der dänischen Romantik waren, dass die Romantiker aber durchaus nicht Grabungen befürworteten. Hier trafen aufklärerische auf nationalromantische Überzeugungen: Waren die Relikte Forschungsgegenstände oder Erinnerungen an eine mythische Vergangenheit? Stephanie Buus zeichnet einen ähnlichen Prozess am Beispiel des norwegischen Aufklärers Christen Pram nach. Pram, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine umfassende Darstellung der Bevölkerung und Wirtschaft Norwegens vorgelegt hatte, geriet nach der Abtrennung Norwegens vom dänischen Königreich 1814 zwischen die Stühle. In Dänemark erinnerte seine Arbeit an das Trauma des Gebietsverlusts, in Norwegen, wo nun die Festigung der nationalen Identität in den Vordergrund rückte, bestand kein Interesse an seiner nüchtern quantifizierenden Studie. Wo Pram – aus der Perspektive der Bürokratie des dänischen Vielvölkerstaats – beispielsweise die Armut der Landbevölkerung darstellte, sahen die Romantiker erhaltenswerte Überbleibsel des bäuerlichen Norwegen.

„Northbound“ ist eine anregende Lektüre, leidet aber an der Schwäche vieler Sammelbände: Die für sich genommen überzeugenden Beiträge stehen unvermittelt nebeneinander; das Buch ist eher durch einen multi- als durch einen interdisziplinären Ansatz ausgezeichnet; Klitgaard Povlsens Einleitung wirkt wie eine nachgeschobene Rechtfertigung einer eklektischen und teils redundanten Textsammlung. Auch die Untergliederung des Buches in zwei Teile, die sich einerseits den Konstruktionen des Nordens und andererseits Reisen in den Norden widmen, überzeugt angesichts der Verwobenheit beider Aspekte nicht. Zudem wird die im Titel angekündigte Periodisierung nicht durchgehalten; tatsächlich widmen sich mehrere Texte dem 17. und dem 20. Jahrhundert (allerdings sehr lesenswert: Peter Fjågesunds Analyse der vielschichtigen Narrative zum norwegischen Rjukan-Wasserfall, die bis in den Widerstand gegen die deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg fortwirkten). Hinzu kommen eine Reihe kleiner Übersetzungs- und Formatierungsfehler – ärgerlich ist, dass die Kurzbiografien der Beiträger erst mit dem Buchstaben H beginnen, vier der Autoren tauchen daher nicht auf.

Wenn eine Erkenntnis aus der Mehrzahl der Aufsätze zu gewinnen ist, dann jene, dass räumliche Grenzen nicht nur Konstrukte sind, sondern dass sie als solche in Wechselwirkung stehen: Politische, literarische, wissenschaftliche (und geschlechtlich konnotierte, vgl. die Beiträge von Marianne Raakilde Jespersen und Anka Ryall) Verräumlichungen dynamisieren sich gegenseitig.

Die Herausarbeitung des Konstruktionscharakters topologischer Gewissheiten macht aber auch einen gewissen Widerspruch des Sammelbandes sichtbar: Was früher im Norden lag, das ist nicht zwangsläufig das heutige Skandinavien – und doch bildet just dieses den Referenzraum der Beiträge. Hier offenbart sich die institutionelle Beharrungskraft geografischer Imaginationen, denn natürlich ist diese Ausrichtung der Tatsache geschuldet, dass die Autoren überwiegend aus der wissenschaftlichen Disziplin Nordistik/Skandinavistik stammen. Die Beschäftigung mit der Historizität „des“ Nordens kann also der Immunisierung gegenüber allzu rigiden Grenzziehungen dienen, zugleich verdeutlicht sie aber, dass Dekonstruktions- und Konstruktionsprozesse einander nicht zwangsläufig ausschließen.2

Anmerkungen:
1 Die Forschung zur kulturellen Konstruktion des Nordens ist inzwischen umfangreich, eine Bibliografie zum Thema findet sich auf <http://phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/Skandinavistik_Fennistik/Unterrichtsmaterial/Schroeder/vl_norden_ws09_10.html> (17.02.2010).
2 „Northbound“ selbst zum Beispiel entstammt einem Forschungsprojekt, das durch das NOS-HS (das Joint Committee for Nordic Research Councils for the Humanities and Social Sciences) gefördert wurde. Er ist also Ergebnis des politischen Willens zur Vernetzung der Wissenschaftler der nordischen Länder. Und zu diesen zählen laut Selbstdarstellung der Organisation: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden. Vgl. <http://nos.net.dynamicweb.dk/Brief_in_English.aspx> (17.02.2010).

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