M. v. d. Linden u.a. (Hrsg.): Über Marx hinaus

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Titel
Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts


Herausgeber
van der Linden, Marcel; Roth, Karl Heinz
Erschienen
Berlin 2009: Assoziation A
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Süß, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Ein ungewöhnlicher Titel: Während die Feuilletons der Republik in Zeiten der "Krise" über die Wiederkehr von Karl Marx schwadronieren und von übervollen studentischen "Kapital"-Lektüregruppen zu berichten wissen, gehen Marcel van der Linden und Karl Hein Roth den umgekehrten Weg. Sie fragen, wohin es führt, wenn die Labour History "über Marx hinaus" denkt. Auf den ersten Blick sieht das nach der Fortsetzung orthodoxer Theorieschlachten des Alternativmilieus der 1970er-Jahre aus – Marx-Exegese als soziale Sinnsuche. Doch selbst wenn sich einige der Beiträge in diese Richtung interpretieren ließen, ist das Anliegen, das van der Linden und Roth formulieren, für die Diskussion um eine Erneuerung der Arbeiter- und Arbeitsgeschichte von einigem Interesse. Die etwas quälende Debatte um die Ehrenrettung des Marxismus nach 1989 drehen sie um und versuchen, aus einer Kritik der Politischen Ökonomie heraus Überlegungen für eine Globalgeschichte der Arbeit zu entwerfen. Das ist allemal ein lohnenswertes Unternehmen.

Es sind zunächst vor allem fünf Befunde, die die beiden Herausgeber voranstellen und denen sich die Mehrheit der insgesamt 18 Beiträge anschließt: Erstens habe Marx weniger die Arbeiterklasse als das "Kapital" untersucht und damit die soziale und politische Dimension der Emanzipationsbewegung vernachlässigt; für Widerstand und Autonomie fehlte Marx die Sensibilität. Zweitens habe sein Objektivismus und sein materialistischer Geschichtsdeterminismus keinen Spielraum für Ambivalenzen, Widersprüche und Brüche gelassen; drittens dominierte bei Marx immer nur ein bestimmter Teil der, wie die Herausgeber es nennen, "Weltarbeiterklasse", nämlich der Typus des "doppelten Lohnarbeiters", der "als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware" verfügt und nichts anderes "zu verkaufen hat". Viertens leide Marx' Politische Ökonomie unter einem "methodologischen Nationalismus", der den Konstruktionscharakter von Nationen unberücksichtigt gelassen und die Geschichte der Arbeiterbewegungen primär unter nationalstaatlichen Kategorien beschrieben habe; und schließlich sei die Geschichte der Arbeiterbewegung bei Marx vor allem eine eurozentristische, die keinen Blick für die Vielfalt an globalen Arbeits- und Ausbeutungsformen besitze. Natürlich lebt auch diese Kritik implizit von der Hoffnung auf das revolutionäre Potenzial des "Proletariats"; eine Stoßrichtung, die man nicht unbedingt teilen muss und der es gut getan hätte, ähnlich kritisch wie mit Karl Marx auch mit der eigenen Semantik des "globalen Kampfes" umzugehen.

Gleichwohl ist das Anliegen des Bandes, nach den Formen von Kontingenz, nach Subjektivität und transnationalen Erfahrungen im globalen Arbeitsprozess zu fragen, ernstzunehmen. Denn tatsächlich ist die Beobachtung bemerkenswert, dass mit dem Blick auf den "großen Meister" in den 1970er-Jahren eine Arbeitergeschichte entstanden ist, die allzu leicht eine westeuropäisch-atlantische Geschichte der "Arbeiterklasse" und ihrer Klassenbildung als "Normalfall" beschrieb, die historisch tatsächlich eher ungewöhnlich und vor allem erklärungsbedürftig war, vor allem, wenn man Richtung Asien, Lateinamerika oder Afrika schaute. Insofern ist der Band indirekt auch ein Beitrag zur Ideengeschichte der Arbeitergeschichte, ihrer Irrungen und Wirrungen, theoretischen Verwerfungen, politischen Träume und Utopien, über die sich die Autoren Rechenschaft ablegen.

Der Band ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten geht es um zumeist historisch argumentierende Diagnosen der Entstehung des kapitalistischen Arbeitszeitregimes, um Arbeitsmigration, weibliche Reproduktionsarbeit und neue Formen der "Selbsterziehung" der Arbeiterschaft, wie sie Detlef Hartmann am Beispiel der Arbeitsämter und neuer Managementtechniken beschreibt. Subir Sinha zeigt, wie sehr eine am starren marxistischen Klassenkonzept orientierte indische Arbeitergeschichte Ökonomie als gleichsam "natürliche" Kategorie konstruierte und wie dringend geboten es ist, den Begriff des "Arbeiters" mit Blick auf die Migrationserfahrungen neu zu durchdenken. Und Silvia Federici weist auf die geschlechtsspezifischen Blindstellen einer Politischen Ökonomie hin, die die weibliche Reproduktionsarbeit unberücksichtigt lässt. Ihr Thema, die Altenpflegearbeit, ist dafür ein treffliches Beispiel und die "Globalisierung der Altenpflege" seit den 1980er-Jahren ein Desiderat der Forschung, das sie indes empirisch kaum zu füllen vermag. Gerade an diesem Beitrag wird ein Problem des gesamten Bandes deutlich, dass nämlich der "Triumph des Neoliberalismus" viel beklagt, aber zu wenig "gezeigt" wird und sich bisweilen die Sprache der Globalisierungskritik wie Mehltau über die einzelnen Beiträge legt. Da geht es um Altenpflege, aber weder die Pflegekräfte noch die Gepflegten kommen darin vor, geschweige denn der Versuch, ihre Erfahrungen in die Geschichte des Wohlfahrtsstaates einzubinden. Welche Arbeit verrichtet wird, bleibt ebenso undeutlich wie die alten und neuen Formen von Abhängigkeiten, Belastungen und Ausbeutung. Letztlich wird hier von neuem eine Arbeiter- und Arbeitsgeschichte ohne Subjekte erzählt.

Der zweite Teil fragt nach der Bedeutung der Marxschen Arbeitswertheorie und ihrer analytischen Kraft für die Beschreibung des Kapitalismus, wobei das Urteil überwiegend skeptisch ausfällt. Anregend ist vor allem jene (post-)operationistische Kapitalismuskritik, die wie Carlo Vercellone mit Blick auf die Debatten um das Ende des "Golden Age" auf die zentrale Bedeutung wissensbasierter Ökonomie hinweist und den neuen, produktiven Wert immaterieller und intellektueller Arbeit betont. Einer der zentralen Begriffe, der als Klammer dient, heißt "proletarisches Multiversum". Damit ist die Vielschichtigkeit von Arbeits- und Migrationserfahrungen im globalen Verwertungs- und Ausbeutungsprozess gemeint, zu deren wichtigsten Kennzeichen eine "ungeheure Mobilität" (S. 562) gehöre; freie Lohnarbeit, so bilanzieren die Herausgeber, verliere in dieser Perspektive ihre bislang hegemoniale Stellung. Zugleich öffne sich die Arbeitsgeschichte stärker als bisher allen Fragen der Reproduktionsarbeit.

Nun wird man sagen können, dass nicht für alle diese Überlegungen die Kritik des "Kapitals" notwendig ist. Und in der Debatte um die Zukunft der Arbeitergeschichte, die ja inzwischen selbst ihre eigene Geschichte hat, sind viele dieser Kritikpunkte bereits formuliert worden. Dafür braucht es keine Marx-Exegese. Gleichwohl liefert der Band einige bemerkenswerte Einsichten insbesondere in die italienischen Kontroversen um den Operationismus. Aber es gibt doch eine merkwürdige Schieflage zwischen der Kritik am "subjektarmen" Marx und dem vielfach fehlenden empirischen Versuch, dieses revolutionäre Subjekt tatsächlich zu beschreiben. Was "Arbeiter" machen, wo und wie sie arbeiten, wie genau Ausbeutung empfunden und erfahren, wie sie gedeutet und kritisiert wird – das wird zumeist (eine Ausnahme ist unter anderem Subir Sinha) aus der Vogelperspektive begutachtet. Nur angedeutet werden all die semantischen Fußangeln, die mit dem Begriff der globalen "Arbeit" verbunden sind, und was ein Arbeiter im "Postfordismus" eigentlich sein könnte, bleibt offen. So erfährt man alles über die Vor- und Nachteile der Arbeitswerttheorie, aber kaum etwas über die betriebliche Praxis des Akkumulationsprozesses, nichts über die Macht im Unternehmen, in den Produktionshallen, ländlichen Arbeitsassoziationen oder Kooperativen.

"Über Marx hinaus" zu denken wäre ein wichtiges Anliegen, denn Arbeits- und Arbeitergeschichte könnte in den Debatten um die Periodisierung der Zeit "nach dem Boom" einen wichtigen Beitrag leisten – sowohl mit Blick auf die Erfahrungsgeschichte unterschiedlicher Gruppen abhängig Beschäftigter wie auch als Sonde für den grundsätzlichen Wandel der Produktionsregime seit den 1970er-Jahren. Aber wohl nicht so.

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