A. Kümmel-Schnur u.a. (Hrsg.): Bildtelegraphie

Cover
Titel
Bildtelegraphie. Eine Mediengeschichte in Patenten (1840–1930)


Herausgeber
Kümmel-Schnur, Albert; Kassung, Christian
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Müller-Pohl, Abteilung Geschichte, John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin

Der vorliegende Sammelband von Albert Kümmel-Schnur und Christian Kassung beschäftigt sich mit der Geschichte der Bildtelegrafie in Patenten. Mit Fokus auf die Zeit zwischen 1840 und 1930 widmen sich die Autoren, die aus dem Bereich der Kultur- und Medienwissenschaft, der Kunst- und Technikgeschichte wie auch dem Maschinenbau kommen, Fragen nach Materialität und Medialität von Patenten. Sie rücken ab von einer reinen Geistes-, Ideen- oder Rechtsgeschichte des geistigen Eigentums und eröffnen den Blick auf die Handlungsinitiative (agency) des Patents im Rahmen einer Akteur-Medien-Theorie.1 Der 17 Beiträge umfassende Band ist in drei Sektionen gegliedert – Institution, Apparat, Bild – und erfreut den Leser mit einer Vielzahl an technischen Abbildungen.

Die Bildtelegrafie ist in der Technik- und Mediengeschichte ein bislang wenig beachtetes Forschungsobjekt. Dies kann zum einen auf die desolate Quellenlage, zum anderen auf die fehlende materielle Überlieferung früher Apparate zurückgeführt werden. Kümmel-Schnur und Kassung machen es sich zur Aufgabe, diese Forschungslücke zu schließen. So erfährt der Leser in verschiedenen, äußerst kenntnisreich dargebotenen Beiträgen Details zu den Anfängen der Bildtelegrafie (Christian Kassung/Franz Pichler), zur Erfindung der Bildtelegrafie als diskursive Konstruktion im Urheberstreit zwischen Alexander Bain und Frederick C. Bakewell (Simone Warta) oder zur Frage der Codierung von Bildern seit Édouard Belins Erfindung eines Cheffrierapparats 1914 (Nikolas Schmidt-Voigt). Für technikhistorisch Interessierte sind diese Kapitel zur Bildtelegrafie unbedingt empfehlenswert.

Das Innovative dieser Aufsatzsammlung zur Bildtelegrafie – und der Einleitung nach auch das eigentliche Anliegen des Bandes in seiner Verortung innerhalb der deutschen Medien- und Technikgeschichte – ist der methodische Zugang über das Medium des Patents. Damit fügen sich die Herausgeber in einen breiteren anglo-amerikanischen Diskurs zur Geschichte des Patents ein, der bestimmt wird von der Dekonstruktion des Narratives des ‚einen wahren Erfinders‘. Sowohl das durch das Britische Arts and Humanities Research Council geförderte Forschungsprojekt „Owning and Disowning“ zur anglo-amerikanischen Patentkultur der Elektroindustrie zwischen 1880 und 1920 der Universitäten Leeds und Bristol wie auch die Werke von Carolyn Cooper, Geof Bowker und Charles Bazerman betonen den Aspekt der sozialen und normativen Konstruktion von Erfindungen durch Patente, die Vielschichtigkeit von Patentschriften und die große Bedeutung multipler Autorenschaft und bestimmen damit wesentlich den internationalen Diskurs zum Thema „Patent“ und „geistiges Eigentum“.2

Die Herausgeber setzen sich auf zweifache Weise von dieser etablierten Forschung ab. Zum einen über ihren theoretischen Zugang, zum anderen über ihren Anspruch eines transnationalen Forschungsprojekts. Deutlich wird dies vor allem an Kümmel-Schnurs erstem Aufsatz (von insgesamt vier in diesem Band) „Patente als Agenten von Mediengeschichte“. Anders als eben genannte Autoren der Technikgeschichte, welche geprägt durch eine sozialhistorische Herangehensweise sowie David Edgertons Ansatz der „Technology-in-use“ Technik als soziales Konstrukt sehen, kritisiert Kümmel-Schnur das Narrativ des „wahren Erfinders“ aus der Perspektive von Jacques Derridas Ereignistheorie und bietet Bruno Latours Akteursansatz als Ausweg. Ein derartiger Ansatz ist durchaus vertretbar. Es bleibt jedoch die Frage, ob nicht ein Zugang über Edgerton produktiver ist, der kritisch am Prozess des Erfindens ansetzt, statt über Derrida, der das Ereignis der Erfindung fokussiert.

Im Rahmen ihrer transnationalen Ausrichtung bemängeln Kümmel-Schnur und Kassung zu Recht, dass der wissenschaftliche Patent-Diskurs stark auf das anglo-amerikanische Patentsystem verengt ist und die Forschung noch zu sehr in nationalen patenthistorischen ‚Containern‘ denkt. Allerdings verschenken sie diesen Punkt, indem sie ihn nicht konsequent von ihren Autoren einfordern. Keiner der Autoren widmet sich beispielsweise dezidiert dem Gedanken, dass gerade der Akt der Patentierung eine nationalistische Interpretation durch seine Zeitgenossen erfuhr, welche jedoch in transnationaler Perspektive die weltweite Verflechtung des Patentrechts und seiner Geschichte deutlich macht. In „Triumph des Symbolischen“ erwähnt Wladimir Velminski nur en passant die nationalistisch aufgeladene Patent-Patt-Situation zwischen Guglielmo Marconi und Alexander Popov als ‚Erfinder‘ des Radios (S. 238). Auch reicht es nicht aus, verschiedene nationale Narrative nebeneinander zu stellen, um daraus ein transnationales Projekt zu machen. Zwar finden sich im Band Beiträge zum britischen (zum Beispiel bei Simone Warta), deutschen (Christian Kassungs „Patent und Amt“) und sowjetischen (Wladimir Velminski) Patentsystem, doch fehlen Querverbindungen und transnationale Bezüge.

Dem Grundanliegen des Bandes, der Rolle des Patents innerhalb des Erfindungsnarratives nachzuspüren, folgen mehrere Beiträge: In „Patent und Amt“ zeichnet Christian Kassung die wechselvolle Geschichte des Kaiserlichen Patentamts zwischen 1877 und 1914 nach und betont vor allem das Patentieren als bürokratischen Akt. Er verbindet dabei geschickt die architektonische Geschichte des Amts mit administrativen Veränderungen. Marius Hug begleitet in seinem Beitrag den Patentanmelder Arthur Korn, die zentrale Figur der Bildtelegrafie. Er verdeutlicht überzeugend am Beispiel von Korns Schiffskabinenpatent, welches im Endeffekt nur „ein weiterer Korn’scher Bildtelegraph“ ist (S. 231), die These der Interdependenz verschiedener Patente innerhalb der technischen Biografie eines ‚Erfinders‘. Damit sind wir auch bei der Kernaussage des Bandes angelangt, die nicht nur die Interrelation von Patenten innerhalb eines Oeuvres betont, sondern auch argumentiert, dass es den ‚einen wahren Erfinder‘ nicht gebe. Besonders eindrücklich arbeiten dies Kassung und Pichler in ihrem Beitrag „Die Übertragung von Bildern in die Ferne“ zur Verflechtungsgeschichte der Bildtelegrafie heraus. Die Autoren zeigen, dass die Ingenieure und Erfinder oft auf bereits bewährte Strategien zurückgriffen. Arthur Korns Bildtelegraf ist somit keine genuine Neuschöpfung, sondern die Zusammenführung „sämtliche[r] technologische[r] Stränge [wie etwa einer Nernst Lampe, einem Gebezylinder, einem Drehspulengalvanometer nach Jacques-Arsène D’Arsonval und Marcel Desprez oder einem Teslatransformator] zu einem funktionierenden Apparat“ (S. 105). Die Kernaussage dieses Aufsatzes hat weitreichende Folgen für die moderne Technik- und Wissensgeschichte, zeigen die Autoren doch, dass sie nicht allein auf Basis von Apparaten und Geräten betrieben werden kann, sondern diese über Patentschriften in ihre Einzelteile zerlegen muss.

Unter der Überschrift „Bild“ widmen sich im dritten Abschnitt des Bandes mehrere Beiträge den Visualisierungstechniken von Patenten im Spannungsverhältnis von Text, Diagramm und Patentzeichnung. Aufbauend auf dem kunsthistorischen Beitrag „Künste und Maschinen“ zur dualen Rezeption technischer Zeichnungen am Beispiel Leonardo da Vincis von Steffen Bogen, erarbeiten Kümmel-Schnur in „Technischer Gleichlauf zwischen Sendung und Empfang“ und Thomas Hensel in „Energetisierte Lineamente“ die medienhistorische Relevanz von Patentzeichnungen für die Forschung. In der Patentzeichnung Alexander Bains zum ersten Kopiertelegrafen fallen somit nicht nur Kunst und Natur oder signa und res zusammen, sondern auch Botschaft und Medium (S. 304). Die Beiträge innerhalb dieser Sektion zeigen eindrücklich, dass es für die Forschung durchaus produktiv ist, Patente nicht nur als ‚Text‘, sondern auch als ‚Bild‘ zu begreifen.

Mit ihrem Sammelband beschreiten Albert Kümmel-Schnur und Christian Kassung mutig und erfolgreich neue Wege in der Mediengeschichte. Sie leisten einen essenziellen Beitrag zur Akteur-Medien-Theorie und machen den Ansatz der Materialität und Medialität von Patenten für die Forschung nutzbar. Die Schwachstelle des Bandes ist sein Versuch, sowohl Fragen des Patents wie auch der Bildtelegrafie beantworten zu wollen. Beides wird in den Beiträgen nicht konsequent durchexerziert; somit entstehen Mischformen und ein eklektisches Entweder-oder. Beispielsweise spielen nicht in allen Beiträgen das Patent oder der Bildtelegraf eine zentrale Rolle. Bereits in ihrer Einleitung stellen sich die Herausgeber der Frage, ob es sich bei ihrer Definition von Bildtelegrafie wirklich um ein Medium handelt oder ob so unterschiedliche Apparate wie copying telegraphs, Pantelegrafie, Teleautofie und Zwischenklischeemethode nicht als unterschiedliche Medien begriffen werden müssen. Während sich hier aus technischer Sicht durchaus noch für die Einheit des Mediums argumentieren lässt, ist die Verknüpfung zu Werner Siemens’ Guttapercha-Presse nicht mehr zwingend über die Überschrift ‚Bildtelegrafie‘ herzustellen. Auch mit Bezug auf das Patent geht der Band ähnlich eklektisch vor. In manchen Beiträgen wird es auf eine reine Quelle der Analyse reduziert und weder auf seine Medialität noch seine Materialität hin untersucht. Zudem bleiben einige relevante Fragen offen. Beispielsweise haben sich die Herausgeber bewusst gegen einen rechtshistorischen Beitrag zur Patentgeschichte entschieden. Zwar wird dieser Aspekt in den meisten Beiträgen ‚mitbehandelt‘, allerdings bleiben Fragen nach der normativen Kraft des Patents wie auch die der ‚Wirkmacht‘ des Marktes auf die Patentkultur unbeantwortet.

Insgesamt leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur Platzierung der Netzwerktheorie innerhalb der Mediengeschichte. Hinsichtlich einer Patentgeschichte oder auch einer Geschichte des Bildtelegrafen bleibt es jedoch hinter den Erwartungen, die der Titel weckt, zurück. Aus Sicht der Rezensentin hätte der Band an Aussagekraft gewonnen, wenn sich die Herausgeber entweder für eine Geschichte der Bildtelegrafie oder für eine Geschichte in Patenten entschieden hätten. Dennoch ist er für alle, die sich für ein praktisches Beispiel der Akteur-Medien-Theorie und die Nutzbarmachung des Mediums „Patent“ für die Mediengeschichte interessieren, uneingeschränkt empfehlenswert.

Anmerkungen:
1 Zur Akteur-Medien Theorie vor allem der Band Tristan Thielmann / Erhard Schüttpelz / Peter Gendolla (Hrsg.), Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld 2013.
2 Carolyn C. Cooper, Social Construction of Invention through Patent Management: Thomas Blanchard’s Woodworking Machinery, in: Technology and Culture 32 (1991), 4, S. 960–998; Geof Bowker, What’s in a Patent? in: Wiebe E. Bijker / John Law (Hrsg.), Shaping Technology/Building Society, Cambridge 1994, S. 53–74; Charles Bazerman, The Languages of Edison’s Light, Cambridge 1999.

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