W. Tischner: Katholische Kirche in der SBZ/DDR

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Titel
Katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945-1951.


Autor(en)
Tischner, Wolfgang
Reihe
Veröffentlichungen der Komission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen 90
Erschienen
Paderborn 2001: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
629 S.
Preis
€ 88,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Schulte-Umberg, Kommission für Zeitgeschichte, Bonn

Studien zur Geschichte von katholischer Kirche und Katholizismus in der DDR finden eher wenig Aufmerksamkeit, sofern sie sich nicht zum Teil oder zur Gänze mit der Stasi-Problematik befassen. Dies ist bedauerlich, denn die Religion war in der DDR „der einzige Bereich mit einer relativen Selbständigkeit“ (M. R. Lepsius). Warum aber konnte diese verhältnismäßige Autonomie unter den Bedingungen des SED-Staates überhaupt gelingen? Eine Grundbedingung war für Kirche und Katholiken der Aufbau und Erhalt kirchlich-katholischer Strukturen, die sich unter den Bedingungen der SBZ/DDR als überlebensfähig erwiesen - eine Einsicht, die sich zu nicht geringen Teilen der Lektüre der hier zu besprechenden Studie verdankt.

In seiner Leipziger zeitgeschichtlichen Dissertation unternimmt es Wolfgang Tischner, die Genese und Entwicklung kirchlich-katholischer Strukturen für die SBZ/DDR 1945-1951 im Sinne einer „histoire religieuse“ (S. 28) nachzuzeichnen. Ziel ist es, die Teilbereiche - also die Amtskirche, die katholische Partei, Sozialisationsinstanzen, den sozialen Katholizismus und die katholische Presse - sämtlich in den Blick zu nehmen. Bei einiger Kenntnis der Katholizismusforschung wäre zu vermuten, dass wie in vielen ähnlich ausgerichteten Studien zu Kirche und Katholiken in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert das Forschungsmodell ‘katholisches Milieu’ Anwendung finden würde. Tischner geht jedoch aus vom ausführlich vorgestellten Modell einer funktional differenzierten Subgesellschaft (S. 29-40), das „gesellschaftliche Binnenstrukturen unterhalb der Schwelle eines voll ausgebildeten sozialmoralischen Milieus Lepsius’scher Prägung“ (S. 562) erfasst. Der Ansatz unterhalb der Schwelle des Milieus trägt mit Recht den gänzlich anders gelagerten Bedingungen im Raum der SBZ/DDR Rechnung. Denn erstens hatte sich hier unter den Bedingungen der Diaspora - bis auf das thüringische Eichsfeld und die Lausitz waren die Katholiken seit Jahrhunderten eine konfessionelle Minderheit - bis 1945 kein katholisches Milieu ausgebildet. Zweitens steht das Forschungsmodell katholisches Milieu im Zeichen des Modernisierungsparadigmas, es wird nach der gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Basis eher langfristiger Entwicklungen gefragt. Wie Tischners Studie jedoch eindringlich belegt, steht das kirchlich-katholische Leben in der SBZ/DDR im Zeichen der Politik. Daran sollte sich bis 1989 im Grunde nichts ändern. Wer nach der Binnenstruktur von Kirche - oder den Kirchen - in der SBZ/DDR fragt, sollte daher wie Tischner einen Zugriff wählen, der die eher kurzfristigen sozial-kulturellen Folgen politischer Entwicklungen zu erfassen erlaubt.

Auf breiter Quellenbasis untersucht Tischner Genese und Entwicklung kirchlich-katholischen Lebens unter den Bedingungen von Kriegsende, Besatzungsherrschaft, beginnendem Kaltem Krieg und früher DDR. Am Beginn stehen die Religions- und Kirchenpolitik der Machthaber und das Verhalten der Amtskirche (S. 45-198), es folgen Abschnitte über die Ost-CDU (S. 199-245), das Schulwesen und innerkirchliche Ausbildungswege (S. 246-385), die Caritas und den humanitären Einsatz für Kriegsgefangene bzw. Internierte (S. 386-476) sowie über das katholische Presse-, Rundfunk- und Verlagswesen (S. 477-562).

Bezeichnend für einen Teil der Entwicklung sind die Ausführungen über die Caritas und die von ihr getragenen Einrichtungen. Die um ihrer Bestandssicherung willen in die kirchliche Verwaltung integrierte Organisation konnte sich einen „ungewöhnlich großen Spielraum“ (S. 567) sichern. Durch die Bekämpfung sozialer Not nach Kriegsende, durch ihr weiteres Engagement im Bereich der Sozialfürsorge und der medizinischen Einrichtungen sowie den Warentransfer von West nach Ost vermochte sie grundlegende soziale Bedürfnisse effektiv abzudecken. Bei aller Abneigung gegen Kirche und Religion als konkurrierender Deutungsmacht wollte (und konnte?) der SED-Staat bis zu seinem Ende auf diese Institution nicht verzichten. Aufbau und Gestaltung der Caritas wurden in hohem Maß von aus Schlesien vertriebenen Führungskräften vorangetrieben. Pars pro toto kann dies auf die Kirche in der SBZ/DDR insgesamt übertragen werden. Durch die in den Raum der SBZ/DDR geflohenen und vertriebenen katholischen Ostpreußen, Pommern und Schlesier kam es zu einem Anwachsen des Katholikenanteils von etwa 2% 1945 auf etwa 14% im Jahr 1949, die Katholikenzahl nahm binnen weniger Jahre um 156 % zu. Der Ausbau der kirchlich-katholischen Strukturen war daher eine Notwendigkeit, sofern Kirche ihre Deutungskompetenz wahren und ein von katholisch-konfessionellen Normen geprägtes Leben möglich sein sollte. Die Caritas stellt einen der Teilbereiche dar, in dem dieser Ausbau binnen relativ kurzer Zeit gelang.

Der enge Bezug zur Institution Kirche erwies sich insgesamt und langfristig wie bei der Caritas als Notwendigkeit, da Besatzungsmacht und SED-Staat das Entstehen und Fortleben solcher faktisch weit in den gesellschaftlichen Raum hineinwirkenden Institutionen eher unter dem Vorzeichen einer Ausübung kirchlicher Funktionen zu tolerieren bereit waren. Wie weit bzw. wie eng die Grenzen jeweils gezogen wurden, bestimmte die jeweilige Ausprägung des Staat-Kirche-Verhältnisses in der SBZ/DDR. Dem Verhalten der kirchlichen Amtsträger bzw. dem engen Kreis der kirchenpolitischen Entscheidungsträger kam damit eine entscheidende Rolle zu. Hier kann Tischner zeigen, dass die Grundlinien keineswegs von Anbeginn klar waren. Im Grunde dauerten kirchenpolitische Grundmuster fort, die schon unter den Bedingungen der NS-Zeit relevant waren. Auf der einen Seite standen Vertreter eines eher offensiv-öffentlichen Vorgehens, vertreten durch den Berliner Kardinal Preysing, und eines eher konziliatorischen, auf bilaterale Staat-Kirche Verhandlungen setzenden Kurses, der durch den Meißener Bischof und Geschäftsträger des Commissariats der Fuldaer Bischofskonferenz, Heinrich Wienken vertreten wurde. Die Linie Preysings gewann mit Unterstützung Pius XII. durch die Kaltstellung Wienkens zu Beginn der 1950er-Jahre zwar die Oberhand, wurde unter Preysings Nachfolger Weskamm (Bischof von Berlin 1951-1957) jedoch im Sinne eines nicht gerade das Licht der Öffentlichkeit suchenden Kurses wieder eingeschränkt.

Wie von anderer Seite dargelegt wurde, stand der Kurswechsel Weskamms nicht allein im Zeichen kirchenpolitischer Strategie, sondern einer theologischen Neuorientierung, die sich auf die Auffassung von Kirche und deren gesellschaftlicher Rolle auswirkte.1 Zu überlegen wäre, welche theologischen Grundmuster das Handeln der kirchenpolitischen Entscheidungsträger zuvor geprägt haben. Weiter ist zu bemerken, dass anders als verschiedentlich von Tischner angedeutet die Kirchenpolitik von Weskamms Nachfolger Julius Döpfner (Bischof von Berlin 1957-1961) nicht einfach das Wiederaufleben der Kirchenpolitik Preysings bedeutete. Diesen Irrtum teilt Tischner freilich mit anderen Studien zur Geschichte der katholischen Kirche in der DDR 2 bzw. zu Döpfner 3. Doch schmälert dieses Bedenken keineswegs die Forschungsleistung Tischners, sondern zeigt nur die Notwendigkeit, ebenso wie in seiner Studie, die sich ja auf den Zeitraum von 1945 bis 1951 konzentriert, die relevanten Quellen eingehender heranzuziehen als dies bisher geschehen ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Pilvousek, Josef, „Eine Gärtnerei im Norden“. Wilhelm Weskamm und die mitteldeutsche Diaspora, in: Diaspora - Zeugnis von Christen für Christen. 150 Jahre Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, hg. vom Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, Paderborn 1999, S. 275-286.
2 Vgl. Schäfer, Bernd, Staat und katholische Kirche in der DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 8), Köln 1998, S. 117-170.
3 Vgl. Wittstadt, Klaus, Julius Kardinal Döpfner (1913-1976). Anwalt Gottes und der Menschen, München 2001, S. 122-168.

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