R. Maier: NS-Kriminalität vor Gericht

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Titel
NS-Kriminalität vor Gericht. Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Kassel 1945-1955


Autor(en)
Maier, Regina
Reihe
Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 155
Erschienen
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Opfermann, Aktives Museum Südwestfalen, Siegen

Die zur justiziellen Bearbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG) erschienene ältere wie jüngere Literatur basiert durchweg auf der Untersuchung der Urteile der Strafprozesse.1 Regina Maiers Studie, eine Dissertation, hat eine breitere Grundlage. Sie wertet jeweils das gesamte verfügbare Prozessmaterial von der Anzeige bis zur Haftakte aus. Räumlich und zeitlich ist ihre Untersuchung begrenzt. Maier untersucht 78 NSG-Verfahren vor den hessischen Landgerichten Kassel und Marburg von 1945 bis 1955. Akribisch geht sie dabei in die Einzelheiten, wendet sich allen Seiten des prozessualen Geschehens zu.

Einleitend stellt Maier die vom alliierten wie vom deutschen Strafrecht gesetzten normativen Bedingungen dar. Es folgt eine Kurzbeschreibung von 34 Verfahren, auf die sie sich im Weiteren häufig beziehen wird. Sie gliedert ihre Fälle nach Delikt und Chronologie – was nicht immer stimmig sein kann – in drei Gruppen: erstens Landfriedensbruch, Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung als Straftaten der Frühphase ab 1933 bis hin zu den Novemberpogromen, zweitens Körperverletzung an Zwangsarbeitern und Häftlingen und drittens Totschlag und Mord als Verbrechen der Endphase des „Dritten Reiches“.

Dem Hauptteil liegt dann die Chronologie des Verfahrensablaufs zugrunde. Beginnend mit den Details der Anzeigen führt sie über die Ermittlungen und die Anklageschrift zur Urteilsfindung und endet nach der Analyse der Revisionen mit einer Bestandsaufnahme der Strafverbüßung. Es folgt abschließend eine Betrachtung der Haltung des hessischen Ministeriums der Justiz, der US-Militärbehörden und der nordhessischen (LG Kassel) und mittelhessischen (LG Marburg) Öffentlichkeit.

Initiiert wurden die Verfahren in der Regel durch Anzeigen von NS-Opfern und deren Unterstützern, von der Militärregierung oder durch Spruchkammererkenntnisse. Nur etwa jedes fünfte Verfahren ging auf staatsanwaltliche Eigenaktivität zurück, dann wiederum oft im unvermeidlichen Gefolge eines anderen NS-Prozesses.

In den anschließenden Ermittlungen dominierten die Angaben von Entlastungszeugen und Beschuldigten aus der Mehrheitsbevölkerung schon durch deren starke quantitative Präsenz. NS-Opfer und Belastungszeugen vertraten Minderheiten, die sie als nicht ins Ausland abgewanderte NS-Überlebende nun wiederum erst recht waren. Zudem schwächten sie – anders als die Entlastungszeugen – „unter dem Druck der allgemeinen den Angeklagten günstigen Atmosphäre“ (S. 311) – im Laufe eines Verfahrens ihre ursprünglichen Aussagen nicht selten zu deren Gunsten ab. Maier stellt eine unterschiedliche Haltung der Richter gegenüber den Zeugen fest. Die Richter stellten „die Glaubwürdigkeit der Opfer-Zeugen [...] nicht selten in Abrede“, während sie „die Problematik der Behauptungen von Beschuldigten sowie von Täter- und Entlastungszeugen nicht einmal erwähnten“, und zwar bis hin zur „Unterschlagung von Beschuldigungen“ (S. 171f.).

Uninteressiert waren sie auch an den NS-Biografien der Entlastungszeugen. So vermieden sie es, Befangenheit annehmen zu müssen, wie sie in vielen Fällen nahegelegen und sicher nicht selten auf sie selbst zugetroffen hätte. Auf diesem Weg waren die Weichen für milde Urteile gestellt. Maier bemerkt, dass kaum einmal der Strafzweck thematisiert wurde. Da die umgestaltete politische, gesellschaftliche und Rechtsordnung sowohl die Spezial- als auch (zumindest) die negative Generalprävention obsolet gemacht hatten, wären das vor allem Sühne und Schuldausgleich gewesen. Maier geht ausführlich der Strafzumessung nach. Strafverschärfende Gesichtspunkte (Leiden der Opfer, „Schaden für deutsches Volk“) wurden gering gewichtet und selten angeführt, strafmildernde („allgemeine Zeitverhältnisse“, Handeln auf Befehl) dagegen hoch und häufig.

Zu einem im Vorspann eines Urteils bekundeten „Entsetzen“ über Gewalttaten stand das Urteil regelmäßig in scharfem Widerspruch. Die Verfahren endeten überwiegend mit Freisprüchen und Verfahrenseinstellungen, und zwar in krasser Abweichung von der Urteilspraxis zur sonstigen westdeutschen Kriminalität. Die Sanktionierung fiel umso zurückhaltender aus, je höher die höchstmögliche Strafe bei einem Delikt lag. Die meisten Freisprüche – 23 von 33 – ergingen bei Totschlag und Mord. „Lebenslänglich“ erhielt bei diesen zwei Straftatbeständen nur ein Täter. Fünf der zehn ursprünglich deshalb Angeklagten wurden wegen geringer zu ahndender Delikte verurteilt. Unbeachtlich der Deliktart lagen die Strafen meist am unteren Rand des Strafrahmens.

Man sollte meinen, hier sei viel staatsanwaltlicher Anlass für eine Überprüfung der Urteile gewesen. Tatsächlich waren sich aber Richter und Staatsanwälte bei der Strafzumessung am Ende ausnahmslos einig. Während die Straftäter trotz nachsichtiger Urteile revisionsfreudig in die nächste Instanz eintraten, musste die Staatsanwaltschaft vom Justizministerium zum Revisionsantrag geradezu gezwungen werden. Beim Strafmaß richtete sich die obergerichtliche Kritik nie gegen überzogene Härte, sie galt ausnahmslos überzogener Duldsamkeit. Bei Rücküberweisungen zur erneuten Hauptverhandlung beharrten die Landgerichte dann durchgängig auf ihrer alten Entscheidung. Energisch bis hin zur Rücktrittsdrohung setzten die Richter ihre Linie „nachsichtiger Ahndung“ (S. 327) gegen den Widerspruch von oben fort, was für ein Milieu traditioneller Staatshörigkeit wie das der zeitgenössischen Justiz schon etwas heißen soll.

Hinter der Strafzumessung blieb die faktische Strafverbüßung indessen weit zurück. Zwar waren die Unterlagen lückenhaft, aber es ist zu erkennen, dass nur ein sehr kleiner Teil der Täter seine Strafe voll verbüßte. Da die Strafen regelmäßig ganz unten angesetzt waren, waren sie so angelegt, dass die Täter zahlreich von der lange schon diskutierten „Weihnachtsamnestie“ des Jahres 1949 profitierten. Andere traten die Haft aus anderen Gründen nie an. Wer aber einsitzen musste, wurde doch meist entweder nach Verbüßung der für die bedingte Entlassung vorgeschriebenen Mindestzeit auf freien Fuß gesetzt, wenn nicht schon früher.

Maier zeigt, wie in jeder Verfahrensphase unabhängig von der prozessualen Rolle das Verhalten der Juristen darauf ausgerichtet war, den Straftätern entgegenzukommen. Diese Angeklagten bildeten in der Sichtweise von Staatsanwälten und Richtern, von den Verteidigern zu schweigen, eine Gruppe Beschuldigter eigener Art, ausgestattet mit einem gesellschaftlichen wie justiziellen Generalbonus. Als „Kriminelle“ galten sie hier wie im allgemeinen Alltagsverständnis nicht. Zwanglos ergibt sich für die von Maier untersuchten Fälle, dass das justizielle Bestreben, diese Klienten davonkommen zu lassen, erfolgreich war. Staatsanwälten und Richtern gelang bei der strafrechtlichen Bearbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen die weitgehende „Sanktionsverweigerung“ (Kerstin Freudiger).

Maier findet ihre Erklärungen für diese Tendenzen im politischen Raum und im gesellschaftlichen Diskurs. Nur die Minderheit der NS-Verfolgten und ihrer Unterstützer habe Sühne und Schuldausgleich eingefordert: eine einsame Stimme gegen einen mehrheitsgesellschaftlichen Chor der Schlussstrichbefürworter, geeint durch über 1945 hinweg tradierten „Antisemitismus, Rassismus und Antikommunismus sowie der Auffassung, selbst Opfer zu sein“ (S. 306). Die Justiz habe, so Maier, als Teil dieser „Öffentlichkeit“ gehandelt und geurteilt. Das ist naheliegend, bedenkt man nur einmal die Dichte der ehemaligen „Parteigenossen“ in den westalliierten Besatzungszonen: nach 1945 höher als zuvor und in den Prozessjahren kontinuierlich weiter zunehmend. Wenn Maier abschließend ihr Untersuchungsergebnis in diesen Rahmen einordnet, bezieht sie sich jedoch nicht nur auf die Literatur, sondern zugleich und mit zahlreichen Referenzen auf Aussagen in den Verfahren selbst.

Die Studie von Regina Maier legt nahe, dass Juristen am Werk waren, die ihre Entscheidungen an vergangenheitspolitischen Intentionen ausrichteten, wie sie zum Beispiel im Straffreiheitsgesetz von 1949 zum Ausdruck kommen. Explizite Aussagen dazu in Verfahren sind naturgemäß selten. In einer Amnestieentscheidung in einem der zwei Verfahren zum Genozid an der Gruppe der Roma, die seit 1948 bis heute stattfanden und mit Verurteilungen endeten, stellte das an den Gerichtsbezirk des LG Marburg angrenzende LG Siegen 1950 fest, das Straffreiheitsgesetz wolle „hinter Jahre der Not, Sittenverwilderung und Rechtsverwirrung einen Schlussstein [so!] setzen“. Diese „staatspolitische Zielsetzung“ nötige zu einer Auslegung, die „die aussergewöhnlichen Massnahmen einer grosszügigen Befriedigung [so!] und Versöhnung“ auf keinen Fall „verwischen“ dürfe.2 Sprachlich missraten, ist diese Aussage in ihrem Inhalt sehr erhellend.

Gut hätte es daher der Arbeit getan, wenn Maier anhand der NS-Biografien der involvierten Juristen die Frage mit aufgenommen hätte, ob bzw. inwieweit es eine biografische Schnittmenge mit den Angeklagten und ihren Unterstützern gab, wie breit sie war und ob es sich bei den Urteilen nicht auch um eine Form juristischer Selbstverteidigung handelte.

Bei aller Zustimmung bleibt doch anzumerken, dass die Verfasserin besser mehr Abstand zur Diktion der Prozessmaterialien hergestellt hätte. Ohne ein Zeichen der Distanz übernimmt sie kontaminiertes Wortgut wie „Fremdarbeiter“ oder „Russen“ bzw. „Russland“. Die VVN war (und ist) kein „Verein“, sondern eine „Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes“. „Endphasenverbrechen“ ist – ob nun als Plural von Phasen oder mit „n“ als Fugenelement – ganz unüblich. Warum auch das Wort in Anführungszeichen setzen? Der Schreibstil ist wenig lesefreundlich und durch einen Büro-Ton bestimmt. Es wimmelt von Nominalisierungen, von „diesbezüglich“, „seitens“, „dem entgegen“, „getätigten Anzeigen“ usw. Und den vom Dativ bedrängten Genitiv setzt man nicht in seine Rechte ein, wenn man das Opfer seinerseits als Täter agieren lässt.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 33), Tübingen 2002, oder die vom NRW-Justizministerium herausgegebene, bislang in 17 Bänden (1993-2008) erschienene Schriftenreihe „Juristische Zeitgeschichte“.
2 Zit. nach: Ulrich Friedrich Opfermann, „Schlussstein hinter Jahre der Sittenverwilderung und Rechtsverwirrung“. Der Berleburger Zigeuner-Prozess, in: Antiziganismuskritik 2,1 (2009) (in Vorb.).

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