W. Neugebauer u.a. (Hgg.): Agrarische Verfassung und politische Struktur

Titel
Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700-1918. Hartmut Harnisch zum 65. Geburtstag


Herausgeber
Neugebauer, Wolfgang; Pröve, Ralf
Reihe
Innovationen. Bibliothek zur Neueren und Neuesten Geschichte, 7
Erschienen
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Sieglerschmidt

Mit diesem Band sollen Ergebnisse eines Neuanfangs vorgelegt werden, der nach der Wiedervereinigung zur Schaffung eines Lehrstuhls für preußische Geschichte an der Humboldt Universität zu Berlin führte. Der erste und wohl einzige Inhaber dieses Lehrstuhls, Hartmut Harnisch, ist westdeutschen Historiker/innen aus der Zeit vor 1989 als Agrarhistoriker bekannt und geschätzt vornehmlich durch seine etwas abseits des marxistischen mainstream liegenden Arbeiten über die Herrschaft Boitzenburg und die kapitalistischen Agrarreformen. Die in diesem Band versammelten Arbeiten zeigen, daß die Forschungsinteressen Hartmut Harnischs ein sehr viel größeres Spektrum aufweisen, als das die engeren Forschungsgebiete vermuten lassen. Die Herausgeber verweisen im Geleitwort stolz auf die Aufbauleistung - Kärrnerarbeit - und die darüber hinaus noch erbrachte Forschungsleistung, die in zahlreichen drittmittelfinanzierten Projekten "mancherlei Anregungen für die Forschung" (11) zu geben in der Lage war.

Wie viele Festschriften krankt auch diese an der kaum zu bändigenden Vielfalt der Themen und Methoden, die es schwer macht, den einzelnen Beiträgen gerecht zu werden. So sehr der Brauch, Forscherpersönlichkeiten Dank für vielfältige Anregungen und Anstrengungen auf diese Weise auszusprechen, gerechtfertigt werden mag, vielfach tragen die Beiträge zu sehr den Mangel der Gelegenheitsarbeit an sich und werden nur selten nochmals gelesen, wenn der Rezensent sie beiseitegelegt hat.

Eine genauere Durchsicht des Manuskripts durch die Herausgeber hätte viele Druckfehler vermeiden helfen, aber auch stilistische Unebenheiten und unklare Begriffsverwendung. So wird der Diskursbegriff - im übrigen wie der der Lebenswelt - zur billigen Argumentationsmünze jenseits seiner philosophischen Schärfe, wenn damit alles bezeichnet wird, was als ein durch seinen Gegenstand abgrenzbarer Diskussionszusammenhang erkennbar ist. Schließlich bricht sich ab und zu der Zensuren verteilende Anmerkungsstil Bahn, wenn Arbeiten als brillant oder - im Superlativ - als elaboriert bezeichnet werden, eine Art der Rhetorik, die weniger der Information der Leser/innen als der Plazierung von Autor/innen im Kreis der Verständnisinnigen dient.

Im folgenden sollen die weniger bedeutsam erscheinenden Arbeiten nicht im einzelnen behandelt werden, da sie insgesamt keine wesentlichen Einsichten in die preußische Geschichte erbringen, sondern teilweise sehr stark im Deskriptiven stecken, d.h. ohne analytische Fragestellung bleiben. Einige Arbeiten verdienen dagegen eine nähere Behandlung, da sie methodisch neue Wege beschreiten und/oder Revisionen des gängigen Geschichtsbildes anbieten.

Beispiele für Forschungen mit neuartigen Fragestellungen bieten vor allem die Beiträge zur Stadtgeschichte, die damit auch einen thematischen Bezug aufweisen. Peter Franke fragt nach der Entwicklung der politischen Kultur in Preußen am Beispiel des Bürgerrechts und des bürgerlichen Wahlrechts in den Kommunen. Er macht deutlich, daß bei genauer Lektüre der Quellen Ansichten von der Kommunalverwaltung als Brückenkopf der politischen Partizipation revisionsbedürftig sind. Insgesamt warnt er daher auch in Hinsicht auf die beiden Hauptfragen vor einer unhistorischen Identifizierung, wenn ein heutiger liberaler Politikbegriff auf die Interpretation politischer Partizipation im 19. Jahrhundert angewandt wird, und mahnt die notwendige historische Differenzierung an. Damit sollen die Ansätze zur politischen Partizipation nicht geleugnet, aber relativiert werden.

Ähnlich ideologiekritisch ist die Fragerichtung von Ralf Pröve, der in der älteren Stadtgeschichte (tlw. bis in die 70er Jahre dieses Jahrhunderts hinein) eine Rückprojektion demokratischen Gemeinsinns in die Stadt des Mittelalters sieht. Die daraus folgende Darstellung der politischen Kultur der frühneuzeitlichen Stadt als einer Verfallsgeschichte überschätzt den Einfluß absolutistischer Territorien und unterschätzt die vorhandenen und genutzten Handlungsspielräume der Städte. Zugleich werden die Städteordnungen des 19. Jahrhunderts, insbesondere auch die Steinsche von 1808, vor diesem Hintergrund überschätzt bzw. der Fortschritt dieser Städteordnungen mit den schlechten vorherigen Zuständen begründet. Demgegenüber wird plausibel gemacht, daß zumindest die Steinsche Städteordnung eher konservativ angelegt war und spätestens im politischen Klima nach 1815 in restaurativer Absicht erheblich geändert wurde. Das blieb nicht ohne zahlreiche, widerständige Versuche bürgerlicher Selbstbehauptung.

Einen hervorragenden Beleg für diese überfällige und notwendige Revision der Stadtgeschichte gibt auch Brigitte Meier, die die Stadtbewohner der sog. Sattelzeit als Subjekte der Stadtgeschichte vorstellt, welche durchaus vorhandene Partizipationschancen zu nutzen wußten. Der kirchlich verwaltete und für die Modernisierung wichtige Bildungsbereich dient ihr als Beispiel. Dabei zeigt sich, daß die Bemühungen städtischer Obrigkeiten um die Verbesserung der Bildungseinrichtungen zur Einebnung der standesgemäßen Bildungsgrenzen und zur positiven Resonanz auf die staatliche Modernisierungpolitik im 19. Jahrhundert führen. Pietismus und die sich verbreitende Einstellung, daß das ungebildete Volk gebildet werden könne, bereiten den Weg für Volksbildungskonzepte, die im Gegensatz zur Abschottungstendenz des 17. und 18. Jahrhunderts stehen. Die lesenswerten allgemeinen, anfänglichen Überlegungen, die frei von konfessioneller Perspektive sind, vielmehr die von der katholischen wie der protestantischen Kirche als notwendig erachtete Christianisierung betonen, treten in Widerspruch zu der weiteren Erörterung der Bedeutung von Reformation und Pietismus. Hier scheint die alte Webersche konfessionelle Perspektive doch wieder auf.

Bernd Kölling wertet erstmals die Gerichtsakten zum Prozeß um den sog. Xantener Ritualmord von 1892 aus. Er macht deutlich, daß mit solchem Material die situative Einbettung sozialer Verhaltensweisen und die Situationsbedingtheit der von einzelnen Personen erzählten Geschichten Mentalitäten wie Antisemitismus relativiert, da Mentalität eine Konsistenz der Auffassung unterstellt, die häufig nicht nachzuweisen ist. Geschichten und Ideologeme werden als Versatzstücke bei unterschiedlichen Gelegenheiten genutzt. Dieser methodologisch weiterführende Befund sollte zu einer Revision unserer Vorstellungen über kollektive Einstellungen führen, die allerdings historische Forschung nicht einfacher macht.

Wolfgang Neugebauer zeichnet die frühen Ansätze strukturgeschichtlicher Forschung zur preußischen Geschichte nach. Wolfgang Neugebauer belegt materialreich einen Wechsel in der grundsätzlichen Ausrichtung borussischer Geschichtsschreibung. Bernhard Erdmannsdörffers Darstellung der deutschen Geschichte, veröffentlicht 1892/1893, gilt ihm als klar formulierter Bruch mit der bis Johann Gustav Droysen und Heinrich von Treitschke dauernden borussischen Sichtweise, die mit ihrer Konzentration auf (außen)politische Verhältnisse eine lineare borussische Mythologie schuf. Am Beispiel der Verwaltungs- und Rechtshistoriker Siegfried Isaacsohn, Ernst von Meier, Conrad Bornhak sowie Adolf Stölzel und der Agrar- bzw. Siedlungshistoriker Georg Friedrich Knapp und August Meitzen zeigt Neugebauer, daß bereits lange vor der institutionellen Etablierung einer strukturgeschichtlichen Betrachtungsweise mit der Begründung der Acta Borussica, die Gustav Schmoller erfolgreich betrieb, durch deren Arbeiten grundlegende Änderungen eingetreten waren, die Schmoller den Weg bereiteten. Die anfangs geäußerte Ansicht, es handle sich hier um einen wesentlichen Paradigmenwechsel - im Kuhnschen Sinne -, wird am Schluß doch relativiert, wenn deutlich gemacht wird, daß zwar die borussische Teleologie verlassen und Strukturen - sehr aus der Hand in Gegensatz zur Ereignisgeschichte gesetzt - behandelt wurden, gleichwohl aber der Etatismus eine Begleiterscheinung borussischer Geschichtsschreibung blieb.

Den meisten der letztgenannten Arbeiten liegen abgeschlossene Habilitationsprojekte zugrunde, die sehr wohl erkennen lassen, daß das anfangs angeführte Forschungskolloquium ein Ort fruchtbarer Diskussionen gewesen ist. Von diesen Forschungen werden mit Sicherheit auch die eingangs versprochenen Impulse für weitere Forschungen zur preußischen Geschichte ausgehen.

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