S. Oushakine: The Patriotism of Despair

Titel
The Patriotism of Despair. Nation, War, and Loss in Russia


Autor(en)
Oushakine, Serguei Alex
Reihe
Culture and Society After Socialism
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
$75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Walter Sperling, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Das Ende der Sowjetunion wird im heutigen Russland selten als Befreiung vom verhassten Regime gefeiert. Dafür gibt es, erklärt Serguei Oushakine, nicht nur politische Gründe. In seinem Buch interessiert er sich dafür, wie die Menschen sich über die neue Situation nach 1991 verständigten. Um den Zerfall der Sowjetunion bildlich zu fassen, führt er den Topos der Explosion an, den er sich beim Schriftsteller und Literaturkritiker Wiktor Schklowski geborgt hat.1 Die Explosion hat die Körper zerrissen. Doch anstatt den Schmerz herauszuschreien, sitzen die Menschen da und reden. Der historische Vergleich, den die Allegorie aus den Erinnerungen von Schklowski an die Revolution der Bolschewiki und den anschließenden Bürgerkrieg impliziert, mag hinken. Denn der Zusammenbruch des Sowjetimperiums ist mitnichten mit dem gewaltsamen Untergang des Zarenreiches zu vergleichen. Indessen scheint die Parallele dennoch gerechtfertigt, weil es die Menschen in Russland selbst waren und sind, die die Auflösung der Sowjetunion als Katastrophe deuten.

Der Ausgangsort der bestechenden Studie ist die sibirische Stadt Barnaul. Von hier aus bricht der Autor auf, um das postsowjetische Russland zu erkunden. Während seiner Feldforschung sprach Oushakine, Sozialanthropologe an der Princeton University, mit Jungen und Alten, mit Studenten, Kommunisten, Nationalisten, Tschetschenienkriegern und Müttern gefallener Soldaten. Die meisten seiner Gesprächspartner erklärten sich nicht in der Sprache des Liberalismus, sondern in zornigen Phrasen des Rassismus, Antisemitismus und Antikapitalismus. Wie die Menschen Narrative hervorbrachten, die eine Verständigung untereinander ermöglichten, und wie die Kategorien, die diese Narrative transportierten, die Selbstverortung bis in die Gegenwart hinein prägen, dies ist der rote Faden des Buches. Die vier Kapitel kreisen um die Themenkomplexe Ökonomie, Nation, Staat und Gemeinschaft.

Der Versuch, eine kapitalistische Wirtschaftsordnung anstelle der kaum noch funktionierenden sozialistischen Ordnung einzuführen, trieb die Gesellschaft als gedachte, gefühlte und gelebte Einheit auseinander. Die Fragmentierung, argumentiert Oushakine im Kapitel „Repatriating Capitalism“, war eine der prägenden Erfahrungen der 1990er-Jahre. Um dies zu veranschaulichen, beschreibt der Autor, wie in Barnaul selbst die elementaren Versorgungsnetze Schritt für Schritt zusammenbrachen. Während einzelne Stadtteile abends buchstäblich in Dunkelheit versanken, erstrahlten die neuen Konsumtempel im Glanz des Neonlichts. Der Raubtierkapitalismus, der wenige Gewinner und viele Verlierer hervorbrachte, vermochte kaum Erfolgsgeschichten – vom Durchschnittsingenieur zum Dollarmillionär – zu generieren. Stattdessen ließ er die wie auch immer fragwürdige Überzeugung aufkommen, dass „der“ Kapitalismus nichts für Russland sei. Für das Chaos wurde nicht das Fehlen von staatlich abgesicherten marktwirtschaftlichen Institutionen verantwortlich gemacht, sondern die moralische Korrumpiertheit, die der Kapitalismus unweigerlich mit sich bringe. Die „Kinder der Perestroika“ (S. 28) gewannen den Eindruck, dass „jeder lügt und stiehlt“ und dass die wahren Werte nicht in der käuflichen Gegenwart, sondern in der Vergangenheit zu suchen seien. Die Besinnung auf die sowjetische, oder besser: vorkapitalistische Zeit, betont Oushakine, ist nicht anders als ein Versuch zu verstehen, Zukunftsvisionen zu entwickeln, die die zerbrochene Gesellschaft neu vereinen sollten.

Von den so genannten „Neokommunisten“ bewegt sich Oushakine im zweiten Kapitel zu den Nationalisten, die ausschließen, nicht vereinigen wollten. Das Chaos der 1990er-Jahre sahen sie nicht als ein Phänomen, das ganz Osteuropa oder zumindest die Menschen in allen Sowjetrepubliken gleichermaßen betraf. Stattdessen deuteten sie den Zerfall der Sowjetunion als „russische Tragödie“. Während in Tallinn oder Tiflis die nationale Selbstbestimmung gefeiert wurde, machten sich die Menschen in Russland auf die Suche nach Schuldigen. Die „Anderen“, die Nichtrussen, vor allem aber diejenigen, die angeblich hinter dem Deckmantel der russischen Kultur ihre nichtrussische Provenienz verbargen, wurden aus der Diskursgemeinschaft der Verlierer ausgeschlossen. Wenn zu Beginn der 1990er-Jahre lediglich eine kleine Minderheit von Nationalisten das „Ethnotrauma“ (S. 85) Russlands beklagten, so fand dieses Narrativ später immer breiteren Zuspruch. Sowohl Vertreter des starken Staates wie Wladimir Putin als auch ehemalige Dissidenten wie Alexandr Sinowjew oder Alexandr Solschenizyn wähnten den russischen Ethnos in Gefahr. Die Ethnisierung des Nationalismus, der einst aus Vorstellungen der kulturellen und staatlichen Einheit hervorgegangen war, erhielt Einzug in die Massenmedien und wurde auch von Vertretern der Sozialwissenschaften unterstützt.

Während die einen im Anschluss an Lew Gumiljows Theorien der Ethnogenese vom Kampf der Völker auf Leben und Tod sprachen, waren andere dazu verdammt, diesen Kampf auch auszutragen. Doch die beiden Kriege in Tschetschenien wurden nicht ums Überleben von Russen geführt. Für den Ausbruch des Krieges machte die breite Öffentlichkeit vor allem die verfehlte Politik der Jelzin-Regierung verantwortlich. In seinem dritten Kapitel sieht Oushakine den Tschetschenien-Veteranen dabei zu, wie sie sich darum bemühten, diesem verfehlten und verdrängten Krieg einen Sinn abzuringen. Ihre Sinnsuche betrieben sie vor den Augen der Öffentlichkeit und im Angesicht des Staates, den sie in die Pflicht nahmen. Selbst wenn sie als Söldner am Krieg nicht schlecht verdient hatten, betonten sie die Opfer, die sie für Staat und Vaterland erbracht hatten. Sie traten mit den Behörden in Verhandlung, mit denen sie um Privilegien als Veteranen und Unterstützung als Invaliden rangen. Wenn sie vom Staat materielle Entschädigung einforderten, so bemühten sie sich in ihren öffentlichen Auftritten um Anerkennung für das ertragene Leid.

Die Tschetschenien-Veteranen können für andere Gruppen der Bevölkerung stehen, die wie Ärzte, Rentner oder Flüchtlinge auf den Staat angewiesen waren – einen Staat, der lange nicht imstande war, die von ihm einst geweckten Erwartungen von Sicherheit, Ordnung und Sozialführsorge zu erfüllen. In Vereinigungen organisiert entwarfen die Veteranen sich als „community of loss“ (S. 190) und konnten nicht zuletzt deshalb bei anderen Bevölkerungsgruppen Sympathien gewinnen. Wie die Afghanistanveteranen zuvor engagierten sie sich in Schulen und machten auf Liedermacherfestivals (und youtube) von sich zu hören. Ihre Narrative über das Trauma Tschetschenien fanden nicht zuletzt deshalb Anklang, weil sie an den sowjetischen Helden- und Opfermythos anschlossen, der nach dem Zweiten Weltkrieg kultiviert wurde. Mit ihren Selbstrepräsentationen trugen sie, so Oushakine, dazu bei, die Gesellschaft zu militarisieren.

In seinem letzten Kapitel wendet sich Oushakine den Müttern gefallener Soldaten zu. Er fragt, wie sie mit dem Verlust ihrer Söhne umgehen und wie das Trauma des Todes sie als Trauergemeinschaft vereint. Ob ihre Söhne in Afghanistan oder in Tschetschenien starben, der Verlust blieb für die Soldatenmütter sehr lange, oftmals bis zu ihrem eigenen Tod präsent. Bei ihren hilflosen Versuchen, das Ableben der Söhne zu bewältigen, integrierten sie das Trauma in ihren Lebensalltag. Wie die Veteranen bemühten sich die Soldatenmütter gegenüber dem klammen Staat und den Mitmenschen um Aufmerksamkeit. Die Mütter riefen nicht nach Rache, sondern nach Mitgefühl. Ihre Stimmen, argumentiert Oushakine, wurden jedoch von denjenigen instrumentalisiert, die die Soldatenmörder verdammten und aus der Trauer politisches Kapital schlugen.

Indem der Autor den Patriotismus von den „Rändern“ her rekonstruiert, leistet er einen Beitrag zur Dialektik der Macht im neuen Russland, die ihre Politik vor dem Hintergrund eines „everyday patriotism of despair“ (S. 98) entfaltet. Dass er dabei die Politik aus den Augen lässt, etwa die gegenwärtig hoch
subventionierte Kulturproduktion des Patriotismus, liegt auf der Hand. Doch dies kann den Meilensteincharakter des Buches in keiner Weise schmälern. Mit sprachlicher Klarheit und beneidenswerter analytischer Schärfe zeigt Oushakine, wie die Menschen in Russland nach den „Explosionen“ der 1990er-Jahre Gemeinschaften ausgebildet haben, die ihre Kraft aus dem Negativen schöpfen. Sein Buch ist ein absolutes Muss für Historiker, Anthropologen, Soziologen, Politologen und Kulturwissenschaftler. Es erklärt anschaulich, warum die Utopie der nachmodernen liberalen Gesellschaft abseits von Europa kaum fruchtet.

Anmerkung:
1 Wiktor Schklowski, Sentimentale Reise, Frankfurt am Main 1964 (russische Erstausgabe Berlin 1923).

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