Cover
Titel
Ernst Reuter. Kommunalpolitiker und Gesellschaftsreformer


Herausgeber
Reif, Heinz; Feichtinger, Moritz
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 81
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Süß, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Ernst Reuter ist einer der interessantesten Köpfe der an eindrucksvollen Akteuren nicht eben armen deutschen Sozialdemokratie. In sein bewegtes Leben hat sich das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) wie durch ein Brennglas verdichtet eingeschrieben: im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, nach dem Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs als bolschewistischer Kommissar in Saratow und Exponent des linken KPD-Flügels mit der totalitären Versuchung konfrontiert, von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Lichtenburg misshandelt und aus seiner Heimat ins türkische Exil vertrieben, wurde Reuter als sozialdemokratischer Bürgermeister Westberlins und wortgewaltiger Streiter für die demokratische Option in der geteilten Frontstadt des Kalten Krieges rasch zu einer Ikone der Bonner Republik. Sein Bild in der Erinnerungskultur ist bis heute stark durch diese letzte Lebensphase geprägt. Daher überzeugt das Grundanliegen des von Heinz Reif und Moritz Feichtinger verantworteten Sammelbands, dem Leser einen anderen Ernst Reuter vorzustellen: einen engagierten Munizipalsozialisten und Experten für öffentliche Infrastrukturen, der den Gestaltungsraum kommunaler Selbstverwaltung als Arena sozialer Reformpolitik begriff (S. 7).

Die Ordnung der Beiträge folgt Reuters kommunalpolitischem Wirken. Im Mittelpunkt steht seine Tätigkeit als Verkehrsstadtrat im Berlin der Weimarer Republik (Wolfgang Hofmann, Felix Escher, Heinz Reif), als Oberbürgermeister von Magdeburg (Matthias Tullner), als Berater der türkischen Regierung (Ruşen Keleş, Burcu Dogramaci, Bernd Nicolai) sowie die „zweiten Berliner Jahre“ (S. 12) Reuters nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur (Dorothea Zöbl, Wolfgang Hofmann, Klaus Dettmer, Siegfried Heimann). Ergänzt werden diese Texte durch konzise Überblicke zur Frühgeschichte sozialdemokratischer Kommunalpolitik (Adelheid von Saldern) und zur kommunalen Energiewirtschaft (Karl Ditt), eine vergleichende Fallstudie zur kommunalen Finanzpolitik im Berlin und Wien der 1920er-Jahre (Detlef Lehnert) sowie einen Aufsatz des Reuter-Biographen David E. Barclay, der die von den politischen Gegnern Reuters oft instrumentalisierte Zeit als sowjetischer Kommissar im Wolgagebiet behandelt.

Nicht wenige der 15 Beiträge des Sammelbands präsentieren neue Forschungsbefunde, rücken bekannte Sichtweisen zurecht, oder wirken – wie Barclays empirisch dichte und abgewogene Argumentation – der historischen Legendenbildung entgegen. Indes sind sie in ihrer Qualität sehr unterschiedlich. Pointierte Miniaturen wie die von Heinz Reif, der den Amerikareisenden Reuter als rationalisierungsbegeisterten linken Sozialfordisten mit überschießendem Planungsoptimismus portraitiert, stehen neben Beiträgen, die ohne erkennbare Fragestellung aus gedruckten Quellen und der einschlägigen Sekundärliteratur zusammengeschrieben wurden und daher wenig Neues enthalten (Klaus Dettmer, Siegfried Heimann).

Der innovative dritte Teil fragt nach Reuters Exilerfahrung und kann sich dabei auf bisher kaum erschlossene türkische Quellen sowie das umfangreiche türkischsprachige Schrifttum Reuters stützen. Im Zentrum steht hier das ehrgeizige Projekt einer dem Westen zugewandten Fundamentalmodernisierung unter autoritären Vorzeichen, die vielen NS-Verfolgten neue Wirkungsmöglichkeiten bot. Auch wenn die Arbeit der transnationalen Mittler innerhalb eng umrissener Grenzen stattfand, zu denen etwa der Verzicht der Emigranten auf politische Betätigung und eine Berufsausübung außerhalb ihrer Lehr- und Beratungstätigkeit gehörte, zeigte sich die türkische Regierung bemerkenswert offen für das Wissen der politisch exponierten deutschen Experten. Auf dieser Basis konnten vergleichsweise „erfolgreiche Exilgeschichten“ (S. 235) entstehen.

Reuter, der rasch die Sprache seines Gastlandes lernte, arbeitete zunächst als Berater der Ministerien für Wirtschaft und Verkehr; 1938-1946 übernahm er eine Professur für Kommunalwissenschaft an der Hochschule für Politische Wissenschaften. In dieser Funktion wurde er zum Begründer der interdisziplinär arbeitenden Urbanistik in der Türkei und hatte prägenden Einfluss auf die Ausbildung der kommunalen Verwaltungselite, eine Wirkung, die sich bis in die türkische Verfassungsdiskussion der 1960er-Jahre nachzeichnen lässt. Zunächst kann ein solcher Befund überraschen. Die Beiträge verweisen jedoch immer wieder auf erstaunliche Schnittmengen und Anknüpfungspunkte zwischen Reuters pragmatischem Kommunalsozialismus und dem kemalistischen Projekt zentralstaatlich organisierter Modernisierung von oben. Wohl schwer zu belegen ist allerdings Ruşen Keleş’ kontrafaktische These, wäre „Reuter nicht so früh verstorben und […] in den späten 1950er-Jahren (sic!) zum Bundeskanzler gewählt“ worden, „stünde die Tür der Europäischen Union für die Türken und die Türkei weit offener als zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ (S. 187). Hier hätte man den Herausgebern mehr Beherztheit bei der Textredaktion gewünscht.

Fragen kann man auch, ob ein Ansatz, der sich auf die Suche nach der „innere[n] Einheit“ (S. 13) der Persönlichkeit Ernst Reuters macht, historiographisch noch zeitgemäß ist und nicht einer „biographischen Illusion“ (Pierre Bourdieu) aufsitzt, die Lebensläufe erst in der Rekonstruktion kohärent erscheinen lässt, zumal der Band selbst Argumente dafür liefert, dass die Umwege, Pfadwechsel und Kehren im Leben Reuters sein Handeln mindestens ebenso sehr prägten wie der „sozialdemokratische rote[r] Faden“ (S. 13), dem die Beiträge nachspüren. Insgesamt hinterlässt das Sammelwerk daher einen etwas zwiespältigen Eindruck.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension