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Titel
The Third Reich at War. How the Nazis Led Germany from Conquest to Disaster


Autor(en)
Evans, Richard J.
Erschienen
London u.a. 2008: Allen Lane
Anzahl Seiten
912 S.
Preis
30.00 £
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar I, Universität zu Köln

Ein beeindruckendes Großunternehmen hat einen krönenden Abschluss gefunden: Richard J. Evans von der Cambridge University hat zwischen 2004 und 2008 in drei Bänden die NS-Zeit in weit über 2000 Seiten erfasst und dargestellt.1 Damit liegt die bislang umfänglichste Darstellung zum Thema vor – erneut nicht von einem Deutschen geschrieben, sondern wie Ian Kershaws zweibändige Hitler-Biographie von einem Briten oder Saul Friedländers gleichfalls zwei Bände über „Das Dritten Reich und die Juden“ von einem Israeli. Für den Zweiten Weltkrieg kann man dem auf deutscher Seite nur die zehnbändige Edition des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ an die Seite stellen. Freilich brauchte dieses Gemeinschaftswerk dreißig Jahre bis zur Fertigstellung im Jahr 2008. Natürlich bedient sich auch Evans dieser Werke und der umfassenden Forschungsliteratur, aber der durch etliche frühere Bände ausgewiesene Sozialhistoriker schreibt doch eine ganz eigene Version.

Grob gesagt folgt er in seinen sieben Großkapiteln dem Ablauf der militärischen Ereignisse, sucht jedoch in jedem von ihnen andere inhaltliche Stränge unterzubringen, was zu sehr sinnvollen Vor- und Rückblicken, nicht zuletzt auch zu Verweisen auf die beiden anderen Bände führt. Der Ansatz erweist sich auf diese Weise überraschend stark als politik- bzw. militärgeschichtlich. Den einzelnen Operationen und Kriegsschauplätzen wird großes Gewicht beigemessen, die führenden Generäle werden wie auch sonst die NS-Akteure ausführlich biographisch vorgestellt. In Kapitel 1 geht es um den Krieg mit Polen, in dem zugleich die verbrecherische Eroberungs- und Besatzungspolitik abgehandelt wird. Deutlich wird dabei die je unterschiedliche Behandlung von Slawen und Juden herausgearbeitet. Zugleich wird, vom „Altreich“ ausgehend, die Euthanasiepolitik eingewoben.

Kapitel 2, „Fortunes of War“, verfolgt den Kriegsverlauf in Westeuropa bis zum Stopp des deutschen Vormarsches in der Sowjetunion bis Ende 1941. In Kapitel 3 schließt sich zwar auch der weitere militärische Krieg bis Mitte 1942 an, aber die „Endlösung“ steht hier doch stark im Fokus. Kapitel 4 behandelt vornehmlich das deutsch beherrschte Europa, die Ausbeutung und Ausplünderung im „total war“. Das fünfte Kapitel hat das Jahr 1943 als Kern, damit die Situation um und nach Stalingrad, aber auch die „Heimatfront“ und die ersten Rückzüge. Das sechste Kapitel, „German morality“ betitelt, bündelt die deutsche Gesellschaft im Krieg, inklusive Wissenschaft und Widerstand, aber auch kulturelles Leben im Reich, den 20. Juli 1944 etc. Kapitel 7, „Downfall“, behandelt die Eroberung des Reiches von außen bis zur Kapitulation, hat aber auch einen Ausblick auf die juristische Ahndung bzw. die Karrieren von NS-Personal nach dem Zweiten Weltkrieg. Viel Platz wird dabei der individuellen Interaktion der NS-Größen in den letzten Tagen der Reichskanzlei und dem Zerfall des Apparates gewidmet.

Evans selbst betont, seine Arbeit solle in einem Stück gelesen werden, da eben die Perspektive laufend wechsele. Wenn man bestimmte Sachverhalte wissen wolle, müsse man über das – bei englischen Büchern ja grundsätzlich sorgfältig gearbeitete – Register gehen. Auf diese Weise gelingt dem Autor ein hervorragendes und nuanciertes Porträt des „Dritten Reiches“ im Krieg. Er schreibt sehr anschaulich, zitiert ausführlich auf allen Ebenen – von der politischen Führung bis hin zu Alltagskommentaren, klugen und alltäglichen Beobachtungen am Rande, weiß Flüsterwitze zum Sprechen zu bringen. Viel zitiert werden Personen wie die mit einem „Juden“ verheiratete Hamburgerin Luise Solmitz, die BdM-Führerin Melitta Maschmann, der Romanist Victor Klemperer, der polnische Arzt Zygmunt Klukowski, der amerikanische Journalist William S. Shirer, um nur die wichtigsten zu nennen. Überraschend häufig folgt Evans auch den Memoiren Albert Speers, über die er schließlich selbst konstatiert, sie seinen „less than honest“ (S. 743). Auch sonst tragen Erinnerungen viel zur Anschaulichkeit bei, belegen aber zumeist konkret Sachverhalte, die bereits in der Forschung bekannt sind.

Angesichts dieses Stilprinzips kann man sich geradezu gespannt fest lesen. Der fortgeschrittene Leser findet, wie mit leichter Hand komplexere Differenzierungen und gelegentlich auch Forschungskontroversen in einer bestimmten Deutung wiedergegeben werden. Fast durchweg findet der Rezensent dies einleuchtend. Immer wieder werden Situationen rekonstruiert, Erlebnisse referiert, kontrastiv andere Erfahrungen eingeblendet. Das geschieht auch sprachlich klar und gut erzählt. Bei etlichen Brief- oder Tagebuchzeugnissen mag sich mancher Leser nach deren Repräsentativität fragen, doch scheint dies die hierdurch gegebene Anschaulichkeit nach meinem Eindruck wett zu machen. Die uferlose Forschungsliteratur ist zum Teil bis zu entlegenen Publikationen ebenso wie die gedruckten Quellen bestens erfasst und ausgewertet. Natürlich gibt es Lücken: wäre etwa Michael Alberti zum Warthegau herangezogen worden, Johannes Hürter zur Wehrmachtelite (wird zitiert, neuerdings käme Dieter Pohl hinzu), Klaus-Dietmar Henke zur Besetzung Deutschlands durch die Amerikaner 1945, dann wäre manches zu deren Themen anders oder auch differenzierter dargelegt worden. Doch das ist angesichts des quantitativ Bewältigten schon Beckmesserei.

Lob und Respekt für eine große wissenschaftliche Leistung verstehen sich nach dem Gesagten von selbst. Dennoch sollen einige Punkte zusammengestellt werden, welche abweichende Akzente andeuten. Der internationale Kontext des Krieges, insbesondere Kalküle, Erwartungen, Handlungen, schnell wechselnde Konstellationen oder neue Optionen finden sich bei Evans kaum. Anschaulichkeit überwiegt in vielen Passagen gegenüber Erklärungen oder Motivationen. Einige Beispiele nur: Es gibt je ausführlichste Produktionsziffern für Kriegsgerät etc. Welche Optionen ergaben sich daraus für die deutsche Kriegführung im Osten und im Kalkül der Beteiligten? Was lässt sich an dem Sachverhalt erkennen, dass die deutsche Sommeroffensive erst im Mai 1942 startete? Wann war der Krieg für wen subjektiv oder gar für den rückblickenden Historiker „objektiv“ entschieden?

Roosevelt, Churchill, Stalin kommen vor – aber deren Interaktion, die Weltkriegsstrategien, auch die deutschen im Wandel, werden bestenfalls knapp angedeutet. Ähnliches gilt aber auch für den weiteren deutschen Machtbereich. Mit welchem Eigensinn dieser oder jener Verbündete oder Neutrale agierte, wird meist nur in Halbsätzen angedeutet.

Die wirtschaftliche Ausbeutung Europas wird erwähnt – mit leichter Distanz zu Götz Alys jüngeren Thesen. Aber insgesamt kommt die ökonomische Komponente etwas zu kurz. Widerstand wird mehrfach knapp erwähnt – so der christlichen Kirchen (aber weniger deren Anteil an der Stabilität des Systems), der Weg zum 20. Juli und schließlich auch das geheime Wiedererstarken der Arbeiterbewegung in der zweiten Kriegshälfte – nicht zuletzt ausführlich das gescheiterte Attentat von Georg Elser im Jahr 1939. Das geschieht an unterschiedlichen Orten im Buch. Aber insgesamt hätte man sich eine deutlichere Einordnung von Widerstand in die deutsche Gesellschaft, fernerhin auch eine klarere Diagnose der vielfältigen Verwerfungen der deutschen Gesellschaft gewünscht.

Im Schluss urteilt Evans, „popular opinion in Germany as elsewhere was commonly fickle and volatile, but by early 1945 support for the Nazis [...] had sunk to depths not plumbed since the middle of the 1920s” (S. 739). Das könnte missverstanden werden, als ob die Deutschen und die eigentlichen “Nazis” doch deutlicher zu trennen wären, als es heute üblich geworden ist. Implizit hatte er jedoch zuvor sehr viele Beispiele für eine breite und differenziert zu sehende Beteiligung der deutschen Gesellschaft am Regime gegeben. Für Evans hatten die Deutschen (an Solmitz festgemacht) die Gewaltankündigungen der Nazis von Beginn an unterschätzt, sahen sich diesen später eher passiv ausgesetzt. „The violence at the core of Nazism had in the end been turned back on Germany itself. As the German people […] cleared away the last rubble, they began to experience something like a return to normality” (S. 762) in den 1950er-Jahren. Das bedeutet ein freundliches Kompliment an die geglückte (Re)Integration der Deutschen in die zivilisierte Welt.

Die ersten Kapitel des Buches häufen ja in differenzierter Darstellung die Gräuel in den Erscheinungsformen von deutscher Besatzung und Genozid und machen dadurch eine breite gesellschaftliche Beteiligung der Deutschen (und anderer) deutlich. Konnte man sich in diesen Abschnitten zunächst an Daniel Goldhagens krude Häufungen von Verbrechen erinnern, so distanziert sich Evans dennoch hiervon in einer Fußnote. Aber wieweit und in welcher Form war die deutsche Gesellschaft oder waren wichtige Teile an dem Projekt „Eroberungs- und Vernichtungskrieg“ beteiligt? Hier hätte man sich analytischere Aussagen angesichts der ereignisnahen Narratio gewünscht. Das Verdienst von Richard Evans großer Leistung schmälert das nicht.

Anmerkung:
1 Richard Evans, The Coming of the Third Reich, London 2004; dt.: Das Dritte Reich, Bd. 1: Aufstieg, Stuttgart 2004; ders., The Third Reich in Power 1933-1939, London 2005, vgl. Jost Dülffer: Rezension zu: Evans, Richard J.: The Third Reich in Power 1933-1939. London 2005, in: H-Soz-u-Kult, 24.11.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-118>. dt.: Diktatur, 2 Bde., Stuttgart 2006.- Eine deutsche Ausgabe dieses dritten Bandes ist für Herbst 2009 angekündigt.

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