Strafzweck und Strafform – Wertewandel und Deutungswandel

Schulze, Reiner; Vormbaum, Thomas; Schmidt, Christine D.; Willenberg, Nicola (Hrsg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung. . Münster 2008 : Rhema Verlag, ISBN 978-3-930454-89-1 320 S. € 38,00

Stollberg-Rilinger, Barbara; Weller, Thomas (Hrsg.): Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 19.-20. Mai 2005. Münster 2007 : Rhema Verlag, ISBN 978-3-930454-76-1 XXIV, 356 S. € 42,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter-Michael Hahn, Professur für Landesgeschichte, Universität Potsdam

Es ist heute in der veröffentlichten Meinung bzw. im politischen Raum zum Gemeinplatz geworden, sich auf grundlegende „Werte“ zu berufen, um eigenes Handeln zu rechtfertigen, sein Tun entweder gegenüber einem Kontrahenten abzugrenzen oder um Gemeinsamkeit mit anderen öffentlich vorzugeben.

Bei genauem Hinsehen erweisen sich die bemühten „Werte“ jedoch oft als inhaltlich diffus, gar vieldeutig. Gleichwohl waren und sind sie ebenso billige wie wirksame Instrumente im Ringen um Einfluss und Macht, insbesondere wenn man bislang Abseitsstehende innerhalb einer Staatengemeinschaft oder in einer Gesellschaft zu mobilisieren sucht.

Dagegen sagen sie über konkrete Motive einzelner Akteure nicht unbedingt etwas aus. Weder den Zufall, die Spontaneität noch die unabhängige, das heißt ungebundene Entscheidung vermögen sie als Ausschlag gebenden Faktor im Einzelfall auszuschließen. Nur schwer vermag der Mensch zwischen Selbstbestimmung und Einfluss sorgfältig zu trennen. Überdies ist ein taktisches Verhältnis zu Werten als Handlungsmaximen nicht auszuschließen.

So müssen „Werte“ nicht zwangsläufig die verschiedenen Interessenlagen in einer bestimmten historischen Situation widerspiegeln. Schließlich besitzen sie keine feste oder gar dauerhafte Gestalt, auch wenn der gern gebrachte Begriff des „Werte-Systems“ solches nahe zu legen scheint. Sie sind nicht fest in den Ablauf jedes Handelns verwoben. Man wird daher immer aufs Neue zu ergründen haben, wie wichtig Überzeugungen für das Agieren in einem spezifischen Fall gewesen waren.

Daher fragt man sich bei der Lektüre der beiden vorliegenden Tagungsbände trotz mancher wägender Formulierung in den Einleitungen mehr als einmal, ob die hier beinah inflationär verwandten Werte-Begriffe, vor allem die in Gestalt zusammengesetzter Substantive, tatsächlich und überall in gleichem Maße zur Vertiefung unseres historischen Wissens bzw. der Erklärung historischer Vorgänge beitragen können. Um Anschauungen, Ideen und Meinungen wurde seit jeher gestritten, nicht minder haben Ehrgeiz, Gier und Macht ebenso wie Abneigung, Hass, religiöses und politisches Sendungsbewusstsein Menschen in ihrem Handeln geleitet oder verführt, um nur einige Motive zu nennen.

Schließlich gelten diese Bedenken auch für den zweiten hier verfolgten interpretatorischen Zugriff auf Vergangenheit, der mit dem Begriff der „symbolischen Kommunikation“ umschrieben ist. Gewiss hat die in den letzten Jahren gewonnene Einsicht, dass zeichenhafte und rituelle Handlungen für das Handeln vormoderner Gesellschaften von größter Bedeutung waren, unser Verständnis dieser Welten wesentlich erweitert und unseren Blick für deren Besonderheiten geschärft. Aber auch in diesem Zusammenhang gilt es, abhängig von der historischen Situation und den Akteuren zu fragen, wie wichtig es für den Fortbestand einer sozialen Ordnung war, deren grundlegende Regeln durch symbolische Handlungen ins Gedächtnis der Menschen zu rufen.

Natürlich spielte im politischen und kulturellen Ringen von abendländischer Kirche und aristokratischer Kriegergesellschaft das Gewicht der Argumente und Überzeugungen eine erhebliche Rolle, aber stets kommt es auch darauf an, welche soziale und politische Kraft dahinter steht. Ein Argument, eine Regel wiegt in einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung oftmals nur so schwer, wie die soziale Autorität desjenigen bzw. derjenigen Gruppe beschaffen ist, die sie vertritt. Der Einsatz symbolischer Praktiken vermag daran nichts grundsätzlich zu verändern.

In vielen Beiträgen dieser Tagungen, die in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht sehr breit gefächert sind, werden solche Aspekte zwar angeschnitten, aber eine eher sprachlich als gedanklich geführte Argumentation führt gelegentlich ein so kräftiges Eigenleben, dass der soziale Kontext bzw. der historische Bezug zu verschwimmen droht. Dies zeigt sich in den Texten vor allem an einer Häufung von zusammengesetzten Substantiven, deren „Wert“- Lastigkeit nicht zu überlesen ist.

Wie schwer es fällt, den Werte-Wandel und dessen Sichtbarkeit im Zuge der Formierung der modernen Welt als zentrales Erkenntnisziel im Auge zu behalten, verdeutlichen im ersten Tagungsband (Strafzweck und Strafform) einzelne Beiträge zu Strafformen und Strafvorstellungen. So erfahren wir, um nur ein Beispiel herauszugreifen, dass in der frühneuzeitlichen Literatur zur Strafjustiz sehr wohl Unterschiede zu beobachten waren, die auf deren konfessionelle Orientierung zurückzuführen seien (S. 41-43). An anderer Stelle dagegen wird einschränkend betont, dass diese nur mentalitätsprägend gewesen sei, um ergänzend anzumerken, „inwieweit die Judikatur calvinistischer Staaten sich von denen römisch-katholischer oder lutherischer Herrschaften unterschied, wäre noch näher zu ermitteln“ (S. 56).

Ob ihrer öffentlichen Umstände und ihrer formalen Begründung hätten sich natürlich Hinrichtungen ganz besonders als Untersuchungsgegenstand für die eingangs beschriebenen Forschungsstrategien geeignet. Die Mehrzahl der Autoren geht auf das Theater des Schreckens mehr oder minder explizit ein. Insbesondere ein „krisen“-reicher Beitrag zu England sticht ins Auge, der den sich ausbreitenden Zweifel an der Notwendigkeit, eine Todesstrafe öffentlich vollziehen zu müssen, als Ausdruck von Traditionsverlust deutet, weil von diesem Akt keine präventive oder erzieherische Wirkung mehr ausgegangen sei (S. 263). Wie es dazu gekommen ist, wird allerdings bei der Darstellung vor allem der religiös geprägten Schriftsteller nicht recht deutlich. Wesentlicher klarer sieht der Leser dagegen in einem präzisen Beitrag zur Strafpraxis in Kurmainz (1770-1815). Auf einer breiten Datengrundlage wird die dortige Strafpraxis analysiert, die schließlich vor allem im Zeichen von Prävention und Abschreckung gestanden habe. Allerdings fügt der Autor einschränkend hinzu: „Diese Entwicklung kann gleichwohl kaum als ein linearer, durch Strafrechtswissenschaft und Reformdiskussion angeleiteter Modernisierungsprozess charakterisiert werden.“ (S. 231) Eine Studie zur preußischen Hinrichtungspraxis beleuchtet unter anderem in einem Detail, dem Glockenläuten, wie zäh sich Gebräuche bzw. symbolische Praktiken erhalten konnten, auch wenn deren ursprünglicher Sinn längst verloren gegangen und mit neuer Bedeutung belegt worden war (S. 267f., 291f.).

Schließlich illustrieren im zweiten Tagungsband (Wertekonflikte – Deutungskonflikte), der vor allem kulturellen und politischen Konflikten gewidmet ist, zwei gedankenreiche Studien, dass es auch durchaus ertragreich sein kann, den jeweiligen Werte-Horizont der Akteure und deren symbolisches Handeln ausführlich zu beleuchten. In dem einen Fall geht es um den Besuch eines deutschen Königs am Pariser Hof um 1400 (S. 85-104) und im andern Fall um die Gesandtschaft eines päpstlichen Legaten an den Pariser Hof im Jahre 1625 und dessen penible Behandlung durch hochrangige Vertreter der französischen Amtsträgerschaft (S. 271-300).

Hier zeigt sich, dass sich in höchsten Kreisen von Papstkirche und französischem Hof in Jahrhunderten ein sehr verfeinertes und fixiertes Wissen herausgebildet hatte, um im Umgang mit auswärtigen Mächten mittels zeremonieller Praktiken in jeder Situation des Miteinanders angemessen reagieren zu können. Während bei der Schilderung der verschiedenen Pariser Ereignisse um 1400 der kalkulierte Regelbruch und dessen unterschiedliche Wahrnehmung durch die höfische Umwelt als eine erfolgreiche politische Strategie im Vordergrund steht (S. 85-104), tritt bei der Behandlung eines Kardinalnepoten durch gelehrte Amtsträger ins Blickfeld, wie sich letztere das erforderliche Wissen angeeignet hatten, um angemessenes zeremonielles Handeln mit der beharrlichen Verfolgung der Interessen ihres Königs, aber auch gelegentlich mit sehr persönlichen Belangen in Einklang zu bringen (S. 271-299). Es zeigte sich ferner, dass in diesem Fall eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der zeremoniellen Praxis in Vergangenheit und Gegenwart durch die beteiligten Amtsträger sowie eine reiche praktische Erfahrung im Umgang mit ständischen Konventionen die Voraussetzung für sachgerechtes und flexibles Handeln bildete.

Insgesamt wird man daher den Ertrag dieser Bände als zwiespältig zu betrachten haben. Einerseits verdeutlichen sie die vielfältigen Chancen und Möglichkeiten einer komplexen Forschungsstrategie, andererseits zeigen sie auch auf, dass aktuelle Anleihen nicht für jeden historischen Sachverhalt in dem Umfang fruchtbar zu machen sind, wie man es sich vielleicht aus verständlichen Gründen wünschen mag.

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