G. Kasianov u.a. (Hrsg.): A Laboratory of Transnational History

Cover
Titel
A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukranian Historiography


Herausgeber
Kasianov, Georgiy; Ther, Philipp
Erschienen
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 31,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossolinski-Liebe, Department of History and Classics, University of Alberta

In dem 2009 erschienenen Sammelband „A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography” versuchen die Herausgeber gemeinsam mit neun Beitragsautoren, das seit den frühen 1990er-Jahren in der Ukrainischen Historiographie dominierende nationale Paradigma mittels eines transnationalen Ansatzes zu hinterfragen. Der Sammelband besteht aus einer kurzen Einführung und zehn Beiträgen verschiedener Qualität, die in zwei Teilen, einem theoretisch und einem empirisch orientierten, gruppiert wurden.

In der kurzen Einführung ziehen die Herausgeber den Spannungsbogen, indem sie erstens darauf hinweisen, dass die Nation, nachdem die Epoche des Kommunismus ausgelaufen war, zum neuen Telos der ukrainischen Geschichte wurde (S. 1), und zweitens darauf, dass die transnationale Geschichte sich auf „die Beziehungen zwischen Kulturen und Gesellschaften konzentriert und die Konzentration auf eine bestimmte Kultur oder ein bestimmtes Land bewusst meidet“ (S. 3) und somit nicht unbedingt mit dem Konzept der Nation etwas gemein haben muss.

Der theoretisch orientierte Teil beginnt mit Georgiy Kasianovs Beitrag über den Prozess der Nationalisierung der ukrainischen Geschichte. Dieser Prozess begann, wie Kasianov herausarbeitet, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit historizistischen Projekten wie Mychajlo Hruševs’kyjs voluminöse „Geschichte der Ukraine-Rus’“ und er wurde Ende der 1980er-Jahren nach Jahrzehnten der Sowjetisierung der Ukraine als ein „unfinished modernization project“ wieder aktualisiert (S. 7). Im Zentrum dieses Prozesses steht die Suche nach der kanonisierten, „authentischen“ und „realen“ Geschichte, die nach dem Zerfall der Sowjetunion als ein Echo des realen Sozialismus verstanden werden kann (S. 9). Kasianov arbeitet überzeugend „basic parameters“ des nationalen Paradigmas wie Teleologismus, Essentialismus, Ethnozentrismus etc. (S. 16f.) heraus und weist auf den Beitrag der Diasporahistoriker zum nationalistischen Paradigma hin (S. 13). Sein Beitrag lässt jedoch die Leser in dem Glauben, dass die gesamte Ukraine dasselbe nationalistische Paradigma zugleich erfindet und rezipiert und dass alle Ukrainer aufgrund der einen nationalistischen Deutung der Geschichte dasselbe Bewusstsein haben müssten, was wegen großer regionaler Unterschiede, nicht nur zwischen der Ost- und Westukraine, schlicht falsch ist.1

Wie wenig das von Kasianov darstellte nationalistische Paradigma sowohl Ende des 19. Jahrhunderts wie auch heute mit der Komplexität der „ukrainischen Realität“ zu tun hat, versuchen Mark von Hagen und Andreas Kappeler zu zeigen. Mark von Hagen knüpft in seinem Beitrag „Revisiting the Histories of Ukraine“ an seinen 1995 erschienen Aufsatz „Does Ukraine Have a History?“ an, dem einige Historiker bis heute viel Aufmerksamkeit schenken und den sie als postmodern und provokativ verstehen (S. 3, 25).2 Auf der Suche nach der Frage, mit welchen Herangehensweisen und Methoden Historiker heute die Diversität der ukrainischen Geschichte besser zum Ausdruck bringen könnten, weist von Hagen auf die Geschichte der Grenzen, Regionen und Städte hin (S. 31f.).

Eine der von von Hagen eingeschlagenen ähnliche, jedoch stärker vom Evolutionsoptimismus geprägte Richtung schlägt Andreas Kappeler im Beitrag „From an Ethnonational to a Multiethnic to a Transnational Ukrainian History“ ein. Kappeler behauptet, dass das Konzept der ukrainischen Geschichte sich von einem ethnischen über einen multiethnischen zu einem transnationalen Paradigma bewegen sollte. Eine ethnonationale Herangehensweise an die Geschichte sei zu eng, um eine „umfassende, ausbalancierte Ukrainische Geschichte“ zu schreiben. Dies sollte aber eine multiethnische Herangehensweise ermöglichen, für die Kappeler plädiert (S. 60f.). „A transnational perspective, however, could mean one that overcomes national categories” (S. 66). So gesehen scheint in diesem Beitrag ein neuer, von einer multiperspektivischen Doktrin unterwanderter Telos zum Vorschein gekommen zu sein. Fraglich scheint in diesem Beitrag auch die Annahme, dass die multiethnische und transnationale Perspektive notwendig sei, um die „Geister“ der Vergangenheit in der ukrainischen und anderen benachbarten Geschichten zu überwinden (S. 72). Die transnationale oder multiethnische Perspektive kann auf dem Feld der Geschichtsaufarbeitung durchaus hilfreich sein, aber ohne einen kritischen und nicht affirmativen Umgang mit der Vergangenheit, den Kappeler in seinem Beitrag wohl nicht als erwähnenswert erachtet (vgl. S. 51-72), nutzt eine transnationale oder multiethnische Perspektive gar nichts.

Im letzten theoretisch orientierten Beitrag definiert und erklärt Philipp Ther das transnationale Paradigma und sein politisches Potenzial für die Ukraine. Politisch ist die Ukraine für Ther bereits genügend vereint, um ohne eine mythische nationale Geschichte auszukommen und sich dem transnationalen Paradigma zu öffnen, was ihr bei der Integration in die EU helfen könnte (S. 85). Theoretisch ist die nationale Geschichte „nicht notwendig nationalistisch aber [sie] marginalisiert und schließt Minderheiten und nicht-dominante Gruppen aus“ (S. 83). Das transnationale Paradigma hingegen „konzentriert sich auf Beziehungen zwischen Kulturen, Gesellschaften oder Gruppen der Gesellschaften und überschreitet bewusst die Grenzen einer Kultur oder eines Landes“ (S. 86).

Der empirisch orientierte Teil beginnt mit Natalia Yakovenkos etymologischen Beitrag über solche Namen wie „Rosia, Russland, Rus’, Ruthenien oder Roxolonia,“ die in der vormodernen Zeit als Bezeichnungen für „the Ukrainian territories“ im Gebrauch waren, aber im Laufe der Zeit die Konkurrenz gegen den Namen „Ukraine“ verloren und heute entweder marginal, im anderen Kontext oder gar nicht als Name für „the Ukrainian territories“ gebraucht werden. Oleksiy Tolochko geht der Frage der so genannten kurzen Geschichte der Ukraine nach. Diese wurde vom ukrainischen Adel in der vom Russischen Reich verwalteten Ostukraine tradiert. Sie entstand einige Jahrzehnte vor der „langen“, historizistischen Geschichte der Ukraine, für die der Name Hruševs’kyj steht, und wurde von dieser in die Vergessenheit gedrängt. Alexei Miller und Oksana Ostapchuk befassen sich mit der Bedeutung des lateinischen und kyrillischen Alphabets für die nationalen Diskurse in der Ukraine sowie mit der Sprachpolitik des Russischen und Habsburgischen Imperiums. John-Paul Himka trägt zum Sammelband mit einem Text über den Film „Between Hitler and Stalin: Ukraine in World War II – The Untold Story“ bei, in dem er sich mit der vom „victimization narrative“ unterwanderten Erinnerung der ukrainischen Diaspora kritisch auseinandersetzt und auf die nationalistischen und antisemitischen Botschaften dieses Filmes hinweist. Yaroslav Hrytsak versucht nachzuweisen, dass man mit den gängigen Theorien des Nationalismus nur rudimentär den ukrainischen Nationalismus erklären kann. Anhand einer soziologischen Studie über die westukrainische Stadt L’viv und die ostukrainische Stadt Donec’k geht Hrytsak der Frage der unterschiedlichen Identitäten in der Ukraine nach. Roman Szporluk versucht im letzen Beitrag des Sammelbandes die Entstehung der modernen Ukraine zu erklären, indem er „europäische“, nach Szporluk meistens „deutsche“, polnische oder russische Einflüsse auf die ukrainischen Gebiete betont.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Herausgeber des Sammelbandes die nationale Herangehensweise mit dem transnationalen Konzept erfolgreich überholt haben. Ob diese Herangehensweise jedoch zu einer Lösung der zahlreichen Probleme der sich verkomplizierenden – da bis heute nicht ansatzweise aufgearbeiteten, dafür aber grundsätzlich mythologisierten – ukrainischen Geschichte beitragen kann und wird, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Vorauszusehen ist jedoch, dass die Erweiterung des Adjektivs „national“ um solche Präfixe wie „trans-“, „multi-“, „inter-“, oder „unter-“ (S. 61) und die damit zusammenhängende Umstellung der Methoden und Herangehensweisen nicht zwangsläufig dazu führen muss. Dies kommt auch dann zum Ausdruck, wenn man Himkas kritischen und nicht affirmativen Beitrag, der ohne die transnationale Herangehensweise auskommt und trotzdem problematische Fragen der ukrainischen Geschichte artikuliert und bewältigt, mit Kappelers weniger kritischen und stärker affirmativen Beitrag, der ostentativ für Transnationalismus und Multiperspektivität plädiert, vergleicht. Kappelers Beitrag lässt nämlich die Leser in dem Glauben, dass die unaufgearbeitete ukrainische Geschichte sich alleine durch die Anwendung des transnationalen Ansatzes entnationalisieren, entantisemitisieren, entviktimisieren und entmythologisieren würde, während Himkas Beitrag diese Ziele praktisch umsetzt, ohne von den trans- oder multiorientierten Methoden Gebrauch zu machen oder für sie zu plädieren.

Anmerkungen:
1 Zum regional unterschiedlichen historischen Bewusstsein in der Ukraine heute siehe zum Beispiel: John-Paul Himka, Making Sense of Suffering. Holocaust and Holodomor in Ukrainian Historical Culture/Holod 1932–1933 rr. v Ukraini iak henotsyd (Rezension), in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History. Vol. 8, Nr. 3, 2007, S. 690-691; oder auch den Beitrag von Yaroslav Hrytsak „On the Relevance and Irrelevance of Nationalism in Contemporary Ukraine“ im rezensierten Sammelband.
2 Mark von Hagen, Does Ukraine Have a History?, in: Slavic Review 54 (1995) 3, S. 658-673.

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