R. Henning (Hg.): Die "Jedwabne-Debatte"

Cover
Titel
Die "Jedwabne-Debatte" in polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Dokumentation


Herausgeber
Henning, Ruth
Reihe
Transodra 23
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
kostenlos
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. Leipzig (GWZO)

Über die vergangenen anderthalb Jahre erstreckte sich in Polen die heftigste historische Debatte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Gemüter erhitzten sich an nichts Geringerem als der Frage, ob das polnische Geschichtsbild einer vollständigen Revision unterzogen werden und die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus polnischer Sicht neu geschrieben werden müsse.

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand ein schmales Buch mit dem Titel „Nachbarn“ des aus Polen stammenden New Yorker Soziologen und Politologen Jan Tomasz Gross. Darin wird dargelegt, daß die gesamte jüdische Bevölkerung der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne am 10. Juli 1941 nicht etwa von den deutschen Besatzern, sondern von ihren polnischen Nachbarn ermordet worden sei, die dabei ohne Zwang und aus freien Stücken handelten.1 Die neuralgische Frage der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Holocaust war bereits früher Gegenstand polemischer Auseinandersetzungen. Diesmal jedoch wurde das traditionelle Selbstverständnis der polnischen Nation, stets Opfer der Aggression übermächtiger Nachbarn gewesen, aber aus allen historischen Anfechtungen moralisch unversehrt hervorgegangen zu sein, durch die These angegriffen, Polen seien Mittäter und Nutznießer des Holocaust gewesen.

Der Sammelband der Zeitschrift „Transodra“ dokumentiert nicht in erster Linie die historische Fachdiskussion um Gross’ Buch, als vielmehr die publizistische Debatte um seine Einordnung in den aktuellen soziokulturellen Kontext Polens, um die Konsequenzen, die für die schulische Erziehung, die Auseinandersetzung mit dem noch sehr virulenten Antisemitismus und das historische Selbstverständnis der Polen zu ziehen sind. Die hier erstmals in deutscher Übersetzung dokumentierten 53 Beiträge stammen größtenteils von polnischen Autoren, nur wenige sind in Polen erschienene Beiträge aus dem Ausland. Die Auswahl erfaßt Texte aus dem Zeitraum von Mai 2000 bis August 2001, wurde somit während der noch anhaltenden Diskussion getroffen.

Ein Kalendarium der Ereignisse von 1941, der Prozesse gegen einige der Täter in den späten 40er und frühen 50er Jahren, erster Veröffentlichungen von vor 1989 und schließlich der Debatte der Jahre 2000/01 erleichtert dem Leser die Orientierung, ebenso ein Überblick über die ausgewerteten Printmedien. Beim Lesen sind die in den Text der Beiträge eingeschobenen und sich oft wiederholenden redaktionellen Erläuterungen zu historischen Begriffen wie „Endecja“, „Heimatarmee“ u.a. etwas störend; für diesen Zweck wäre ein Glossar sinnvoller gewesen.

Es kommen ausschließlich professionelle Autoren wie Historiker, Soziologen, Journalisten, Schriftsteller und Publizisten, Geistliche und Theologen zu Wort. Was in dem Band vorgestellt wird, ist mithin eine Debatte der Intellektuellen, die nur einen Ausschnitt aus einer viel breiter geführten Diskussion darstellt. Rechtsradikale und antisemitische Stimmen hat die Redaktion wohlweislich nicht aufgenommen, obwohl sie überaus vernehmlich waren.

Über die rechtsextremen und antisemitischen Massenmedien in Polen und ihre Äußerungen zum „Fall Jedwabne“ informiert dagegen ein sehr instruktiver, eigens für den Band geschriebener Beitrag von Gabriele Lesser, der auch einige einschlägige Textproben bringt. Dabei bleibt strittig, wieweit der Einfluß des rechtsradikalen Spektrums reicht. Gabriele Lesser beziffert die Gesamtauflage der Massenmedien rechtsnationalen bis radikal-antisemitischen Charakters mit 720-750.000 und spricht ihnen sogar ein demokratiegefährdendes Potential zu. Ein von den deutschen Verhältnissen abweichendes Charakteristikum ist, daß antisemitische Äußerungen in Polen kein absoluter Tabubruch sind. Zwischen den Positionen nationalkonservativer Autoren, wie sie auch in dem Band abgedruckt sind, und den Rechtsradikalen gibt es fließende Übergänge.

An die Spitze der historischen Kritik an Gross’ Fallstudie hat sich der Lubliner Historiker Tomasz Strzembosz gesetzt. Seine in den Band aufgenommenen Beiträge repräsentieren die defensive Position, in die sich besonders der konservative Flügel der polnischen Geschichtswissenschaft gedrängt sieht. Strzembosz zweifelt an Gross’ These von der polnischen Alleintäterschaft und hält ihr überdies eine Auflistung der Beispiele einer vermeintlichen „jüdischen Kollaboration“ mit den Sowjets, des „Verrats der Juden“ am polnischen Staat im Augenblick seiner gewaltsamen Zerschlagung im September 1939 entgegen. Abgesehen davon, daß Strzembosz’ Ausführungen an dieser Stelle historisch-handwerklich mehr als fragwürdig sind (wie Israel Gutman in seiner Replik so scharfsinnig wie –züngig nachweist), stellt sich der Eindruck ein, daß es Strzembosz um eine schlichte Aufrechnung des historischen Verschuldens geht, die zugunsten der Polen ausfällt. Es ist kein Zufall, daß sich die Antisemiten oft auf Strzembosz berufen.

Die fachwissenschaftliche Diskussion drehte sich lange im Kreis, weil das Quellenmaterial und die Augenzeugenaussagen höchst unterschiedliche Schlußfolgerungen über den Tathergang und seine engeren und weiteren historischen Umstände zuzulassen schienen. In einem „Weißbuch“ wird das polnische „Institut des Nationalen Gedenkens“ die Ergebnisse seiner Untersuchung des Massakers von Jedwabne bekanntgeben. Aus den ersten Vorabveröffentlichungen ist jedoch zu entnehmen, daß an den grundsätzlichen Aussagen von Gross’ Buch nicht zu rütteln ist:2 Die Anwesenheit eines deutschen Einsatzkommandos konnte nicht nachgewiesen werden, und an der selbständigen Täterschaft der polnischen „Nachbarn“ kann inzwischen kein ernsthafter Zweifel mehr bestehen.

Umso dringlicher stellt sich die Frage nach dem historischen Kontext des Gemetzels, nach den konkreten Motiven der Täter und dem genauen Tathergang. Der Beitrag des Historikers Dariusz Stola stellt unter Beweis, was trotz eingeschränkter Quellenbasis an Analyse der Abläufe möglich ist: Mit geradezu kriminalistischem Spürsinn erstellt er eine überzeugende Rekonstruktion des Tatverlaufs und weist nach, wieso eine relativ kleine Gruppe von fanatisierten und entschlossenen Tätern bei passivem bis aktiv-unterstützendem Verhalten der Bevölkerungsmehrheit tatsächlich in der Lage war, ohne Schußwaffen und technische Hilfsmittel im Ablauf eines Tages eine große Anzahl von Menschen umzubringen. In Stolas Interpretation besaß der Massenmord sowohl gegenüber herkömmlichen Pogromen als auch gegenüber der Mordaktivität der deutschen Einsatzgruppen „Pioniercharakter“: einerseits durch die Totalität der Vernichtung (alle Juden wurden ermordet, während sich die Einsatzgruppen in der ersten Phase des Überfalls auf die Sowjetunion auf jüdische Männer, bolschewistische Kommissare usw. konzentrierten), andererseits durch seine Selektivität (nichtjüdische Sowjetkollaborateure wurden verschont). Stola sieht in der Region den Sonderfall eines Gebietes, in dem vor dem Krieg die antisemitische polnische Nationaldemokratie einflußreich war und sich nach Kriegsausbruch die deutsche, dann die sowjetische, dann erneut deutsche Besatzung abwechselten und sich die totalitären Ideologien und Systeme in eskalierender Form auswirkten: Faktoren, welche den Massenmord letztlich nicht verständlich machen, ihn aber doch zu erklären helfen. Stolas Studie liefert nach, was in Gross Buch an analytischer Durchdringung des Tatherganges und ausgewogener historischer Kontextualisierung fehlt, obwohl sich Stola im Ganzen gesehen durchaus an Gross’ Interpretation anschließt. Dennoch wird gleichzeitig ein klassisches intellektuelles Dilemma deutlich: Die Emotionalität, die Gross’ Buch im Übermaß kennzeichnet, kann der nüchterne Denkstil Stolas nicht vermitteln. Der Vorwurf der rationalistischen Gefühlsärme liegt nahe.

Bei der Mehrzahl der Texte beeindruckt das hohe Reflexions- und Argumentationsniveau. Viele Autorinnen und Autoren beziehen sich ausdrücklich auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland, ohne diese als Modell für den Umgang mit einer problematischen Geschichte zu verabsolutieren. Jenseits der nationalkonservativen Positionen besteht Konsens darüber, daß die Denkfigur des nationalen Kollektivs („die Juden“ versus „die Polen“) zu unsachgemäßen Schlußfolgerungen und pauschalisierten Schuldvorwürfen führt und überwunden werden muß, um zeitgemäßere Anworten auf die Frage nach der individuellen (strafrechtlich definierten) und kollektiven (politischen, moralischen) Verantwortung für ein historisches Verschulden zu finden. Die ambivalenten Äußerungen von einflußreichen Vertretern des öffentlichen Lebens, wie insbesondere einigen Angehörigen der katholischen Kirchenhierarchie mit Kardinal-Primas Józef Glemp an der Spitze, werden als Rückfall in eine überholte Denkstruktur kritisiert, die ein Bekenntnis der eigenen Schuld von einem vorherigen Schuldbekenntnis der Gegenseite abhängig macht.

Freilich gibt es auch Stimmen, die sich an den Kanon normativer Werte klammern, wie er traditionell aus einem ausschließlich auf die tatsächlichen oder vermeintlichen kulturellen und historischen Verdienste gestützten, mythisierten Geschichtsbild abgeleitet wurde. Dem wird entgegengehalten, daß eine moderne Gesellschaft sich der Aufgabe stellen muß, auch unangenehme und abschreckende Wahrheiten in ihre historische Erinnerung zu integrieren, um ein realistischeres Verhältnis zur eigenen Existenz zu gewinnen. In der Durchsetzung solcher Positionen liegt der spezifische Modernisierungseffekt, den viele Kommentatoren der Jedwabne-Debatte für die polnische Gesellschaft nachsagen. Ob er sich in den Selbstverständigungsdiskursen der polnischen Gesellschaft dauerhaft bemerkbar macht oder der positive Eindruck nur der Textauswahl dieses lesenswerten Bandes geschuldet ist, bleibt abzuwarten.

Anmerkungen:
1 Die polnische Ausgabe erschien im Mai 2000: Jan Tomasz Gross, Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka [Nachbarn. Geschichte der Vernichtung eines jüdischen Städtchens]. Sejny 2000; die deutsche Ausgabe im September 2001: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. Mit einem Vorwort von Adam Michnik. München 2001.
2 Siehe zuletzt die Meldung: Jedwabne. Amunicja znaleziona przy ekshumacji nie była użyta przeciwko Żydom [Die bei der Exhumierung gefundene Munition wurde nicht gegen die Juden eingesetzt], in: Rzeczpospolita, 18.4.2002.

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