M. J. Rodrigues (Hrsg.): Europe, Globalization and the Lisbon Agenda

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Titel
Europe, Globalization and the Lisbon Agenda.


Herausgeber
Rodrigues, Maria João
Erschienen
Cheltenham 2009: Edward Elgar
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 21,84
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Heli Meisterson, Universität Leipzig

Die im März 2000 durch die europäischen Staats- und Regierungschefs verabschiedete Lissabon Agenda entstand als ambitionierte programmatische Strategie der Europäischen Union (EU), um die Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten langfristig zu stärken und zu sichern. Im Einklang mit den „Europäischen Werten“1 sollten die Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund einer zunehmend globalisierten Wirtschaftswelt geschaffen werden. Das auf 10 Jahre ausgelegte Programm erhob den Anspruch einer wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erneuerung in einer innovativen Wissensgesellschaft. In dem Anfang 2009 erschienenen Sammelband „Europe, Globalization and the Lisbon Agenda“ kommen verschiedene Autoren zu Wort, die sich in ihren Beiträgen rückblickend, analysierend und reflektierend mit der Entstehung und Umsetzung der Lissabon Agenda befassen.

Das Buch – entstanden im Ergebnis von mehreren Workshops zwischen 2006 und 2008 in Brüssel und Lissabon – soll, wie die Herausgeberin Maria João Rodrigues selbst schreibt, als Illustration eines fortwährenden Dialoges zwischen den politischen Lenkern und akademischen Perspektiven verstanden werden (S. xi). Mit weiteren Vorschlägen und neuen Zukunftsvisionen verweist die Autorengruppe zudem auf die Notwendigkeit, ursprüngliche Strategien und Zielstellungen der Lissabon Agenda zu erneuern. Das Strategiedokument „Europa 2020“ erscheint 2010 als ein weiterführendes Papier mit Blick auf die Folgedekade der Lissabon Agenda und geht weitgehend auf den gleichen Berater- und Autorenkreis zurück, dem auch die Herausgeberin als „Mutter der Lissabon-Strategie“, sowie weitere Autoren des Buches, angehören.

Bei der Beurteilung des vorliegenden Sammelbandes gilt es, insbesondere dessen Erscheinungsdatum zu beachten, denn es ist davon auszugehen, dass die Aspekte und Auswirkungen der sich in 2008-2009 ausbreitenden globalen Wirtschaftskrise in weiten Teilen keinen Eingang mehr in das Buch finden konnten.

Das in vier Kapitel gegliederte Buch behandelt im ersten Kapitel die Entwicklung der Lissabon Agenda auf der europäischen Ebene und im zweiten die Lissabon Agenda und nationale Vielfalt. Das dritte Kapitel widmet sich der externen Dimension der Agenda, im vierten Kapitel kommen die Fragen der Europäischen Governance zur Sprache. Den Anhang bilden eine Auswahl offizieller Dokumente und eine thematisch sortierte Liste von weiteren Grundsatzdokumenten.

Maria João Rodrigues rahmt jedes Kapitel mit einer eigenen grundsätzlichen Einführung und anschließenden Zusammenfassung ein. Sie nimmt dabei Bezug auf Aspekte aus den Beiträgen der Autoren und auf die relevanten Diskussionen innerhalb der Workshops. Die Artikel stehen somit durchaus im gegenseitigen Dialog und sind übersichtlich gegliedert. Hilfreiche Tabellen und zusammenfassende Auflistungen ergänzen zwar das Bild, jedoch fehlt es an empirisch fundierten Analysen oder aktuellen Statistiken über die tatsächliche Entwicklung und Umsetzung der Strategie 2. Das Fehlen geeigneter Monitoringinstrumente gilt im Allgemeinen als einer der Hauptkritikpunkte der Ergebnisse der Lissabon Agenda.

Der erste Teil des Sammelbandes befasst sich im Wesentlichen mit der gesamteuropäischen Sicht auf die Fragen makroökonomischer Zusammenhänge und Bedeutung einer verstärkt auf Innovation und Wachstum ausgerichteten Wirtschaftspolitik und behandelt das Themenfeld der Sozialpolitik. Bereits in der Einleitung des Buches wird anhand der Darstellung der Bandbreite der betroffenen Politikfelder deutlich, wie umfassend die Lissabonner Strategie tatsächlich konzipiert ist 3.
Wie sich im weiteren Verlauf der Lektüre herausstellen wird, ist sich die Autorengruppe in ihrem Glauben an Innovation als unerschöpfliche Quelle für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit weitgehend einig – er zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Erfrischend wirkt in diesem Zusammenhang der kritische Beitrag von Luc Soete. Er weist darauf hin, dass die Lissabon Agenda mit einem unilateralen Fokus auf Innovation und Wissen eine eurozentristische Herangehensweise vertritt und eine Revision angesichts der globalen Natur der Wissens-Akkumulation nötig wäre (S. 47).
Janine Goetschy erinnert in ihrem Text daran, dass sich mit Lissabonner Strategie die Hoffnung verband, die ökonomische und soziale Identität der europäischen Volkswirtschaft deutlicher und holistischer auszuprägen (S. 74f.). Definiert werden hierzu zwei Hauptthemen für die Zukunft des Sozialen Europas: Flexicurity-Debatten und die globale Rolle der EU als Trendsetter für soziale Standards (S. 83-86).

Mit dem Eindruck spürbarer Ernüchterung wehrt sich Ádám Török mit seinem Textbeitrag im zweiten Teil des Buches gegen Kategorisierungen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse in den neuen Mitgliedsstaaten pauschal als „osteuropäisch“ qualifizieren. Seinem Beitrag vor- und nachstehend finden sich Verweise auf die Vielfalt der „Wirklichkeit“, die unter vier Idealtypen des Kapitalismus unterscheidet (Tabelle 8.1, S. 139-142). Deren Abweichungen von einem zu erzielenden idealisierten Meta-Typus des Kapitalismus (Tabelle 8.2, S. 143-146) zu überwinden wäre die Aufgabe der nationalen Reformen. Nationale Unterschiede werden nochmals verdeutlicht, wenn „nordischer“ als eines der stilisierten Idealtypen keine Entwicklungsauflagen erhält, wo hingegen der „osteuropäische“ Kapitalismus als Idealtypus zwar nicht kategorisiert wird, jedoch im folgenden Entwicklungsbedarf attestiert bekommt (s. Rodrigues, Kapitel 12.4, S. 190ff. und Tabelle 12.2, S. 193-197).

Die externe Dimension der Lissabon Agenda spielte in der Originalfassung der Strategie zunächst keine große Rolle. Vielmehr ging es damals darum, Europa in die wettbewerbsfähigste Region der Welt zu verwandeln (s. Lundvall, S. 209). Der Entwicklung der externen Dimension widmet sich der dritte Teil des Buches mit einem Aufruf zu notwendiger Nachbesserung. Die EU – „ein pluralistisches regionales Wissens-Gesellschaft-‚Laboratorium’“ – könne anhand des europäischen Demokratisierungsmodells eine Alternative zu der gescheiterten liberalen, nur auf auswärtigen Handel fokussierten ‚globalization for all’-Auffassung bieten (s. Teló, S. 242). Bengt-Åke Lundvall bringt es auf den Punkt: „It [...] becomes increasingly important to stimulate challenger countries to develop further their labour market, social security, education and research institutions, as well as the regulatory systems for environment and energy unsing Europe as a model. This implies a much more ambitious agenda than setting and enforcing social and environmental standards with the aim of increasing the costs of challenger producers.“ (S. 211). Das klingt nobel, doch da man im europäischen „Laboratorium“ noch nicht zu erwünschten Ergebnissen gekommen ist, scheint die selbstbewusste Kühnheit etwas wunderlich, den globalen „Herausforderern“, aber auch „Nachhilfe-Partnern“ (s. Lundvall, S. 221) neben den Standards, Modellen und Zielen auch das Instrumentarium anbieten zu wollen. Etwa die Offene Methode der Koordinierung (s. Teló, S. 236), die als äußerst umstritten gilt und die Erwartungen nicht erfüllt hat.

Der vierte und letzte Teil des Sammelbandes legt das Hauptaugenmerk insbesondere auf die Bedeutung der Verwaltungsstrukturen in der EU. Die Europäische Governance als ein entscheidender Aspekt der Lissabonner Strategie. In diesem Zusammenhang wird im Besonderen dem Erkennen grundlegender Probleme eine erhöhte Bedeutung zugewiesen. Die Rolle der öffentlichen Verwaltung sei unterschätzt und nicht ausreichend analysiert worden, heißt es. Wolfgang Drechsler schildert in seinem Beitrag einen Paradigmenwechsel im Bereich der öffentlichen Verwaltung von dem neoliberalen „The New Public Management“ hin zu einem neuen „Neo-Weberian State“. In ihren Vorträgen und Interviews hat Maria João Rodrigues stets zurückgewiesen, die Lissabon Agenda als gescheitert zu bezeichnen, vielmehr habe diese eine Reihe von Politikfeldern positiv beeinflusst und die Globalisierung als eine Chance behandelt. Sie fügt jedoch hinzu, dass die Implementierung der Strategie unzureichend sei und vor allem stärkere politische und finanzielle Instrumente nötig seien 4.

Vor dem Hintergrund einer sich immer stärker verändernden Welt ist vieles, das einstmals als langfristige europäische Strategie ausgelegt war, von der Realität globaler Einflüsse überholt und teils durch Beständigkeit der regionalen und nationalen Wirklichkeit gehemmt worden. In diesem Dilemma steckt wohl auch dieser Sammelband. Wie es scheint, sind sich Autoren und Herausgeberin dessen bewusst. Die Antwort lautet jedoch nicht Resignation, sondern Neuorientierung: „even if the Lisbon Treaty does in fact open up greater scope for a better implemented Lissabon Agenda, the future remains very much an open book“ (S. 314).

Anmerkungen:
1 Die europäischen Werte beziehen sich in diesem Buch vor allem auf die sozialen Standards, wobei auch gefragt wird, inwieweit ein einheitliches europäisches soziales Modell überhaupt existiert. Gleichzeitig gilt es, dieses Modell zu reformieren, um Nachhaltigkeit zu gewähren.

Anmerkungen:
2 Z.B. werden kaum konkret Mitgliedsstaaten der EU genannt, wenn über Erfolg oder Misserfolg der Umsetzung der gesetzten Ziele berichtet wird. Möglicherweise liegt dies an fehlenden Daten und Analysen, oder an akademisch-politischer Pietät des Nicht-Rügen-Wollens.
3 siehe etwa Tabelle I.1, S.6f., oder auch Tabelle I.2, S.16 mit der Darstellung von (relativen!) Erfolgen und Misserfolgen der Agenda aus der Sicht von 2007. Hilfreich ist die thematisch gegliederte Liste der offiziellen Dokumente im Anhang 4 (S.383-395).
4 Rodrigues: EU needs 'greener' Lisbon Agenda,
<http://www.euractiv.com/en/enterprise-jobs/rodrigues-eu-needs-greener-lisbon-agenda/article-180822> (30.11.2010); Maria João Rodrigues: EU 2020. Priorities and Challenges in the coming years“ <http://www.youtube.com/watch?v=84ekuw_a7n0> (30.11.2010).

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