S. Siegel: Figuren der Ordnung um 1600

Cover
Titel
Tabula. Figuren der Ordnung um 1600


Autor(en)
Siegel, Steffen
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arndt Brendecke, Abteilung Geschichte und Kulturen Lateinamerikas, Historisches Institut, Universität Bern

Steffen Siegel untersucht in seiner bildwissenschaftlichen Berliner Dissertation von 2007 ein seltenes Tafelwerk. Es handelt sich um die 1587 in Paris erschienenen Tableaux des weitgehend unbekannten, humanistisch gebildeten Landadeligen Christoph de Savigny. Die Tableaux stellen die wichtigsten Bereiche des Wissens auf 17 Doppelseiten überblicksartig vor Augen. Linksseitig werden nacheinander die Enzyklopädik als Ganzes, dann die Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Optik, Musik, Kosmographie, Astrologie, Geographie, Physik, Medizin, Ethik, Jurisprudenz, Historie und Theologie erklärt. Auf der jeweils gegenüberliegenden rechten Seite wird das entsprechende Wissensgebiet diagrammatisch erschlossen: 17 Baumdiagramme erstrecken sich, gefasst in einem ovalen Schmuckrahmen, vom Allgemeinen (ganz links) bis zum Besonderen (ganz rechts). Das Werk wurde bereits in digitalisierter Form von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel publiziert1 und wird nun in der Mitte dieses beeindruckend schön gestalteten Bandes des Akademie Verlags reproduziert.

Siegels eigentliche Leistung, eine Studie über Tafelwerke als „Figuren der Ordnung um 1600“, rahmt die Edition. Sie handelt in fünf großen Kapiteln die Kontexte ab, in die das Werk vernünftigerweise einzuordnen ist, mehr noch: Jeder dieser fünf Exkurse erörtert Grundfragen der frühneuzeitlichen Wissensgeschichte, reflektiert den Forschungsstand und spitzt die bisherigen Erkenntnisse zu, um sie dann wieder prüfend an Savignys Tableaux heranzuführen. Dieses Oszillieren zwischen einer Fallstudie und einer generellen Reflexion über tafelartige Ordnungssysteme hat ambivalente Folgen. Über weite Passagen liefert es einen guten Anlass, das Nachdenken über die Geschichte tafelartiger Ordnungen historisch zu verankern und den Leser mit auf die gedankliche Erkundungsreise zu nehmen. Auch ist die Gründlichkeit, mit der auf diese Weise Savignys Tableaux zu Leibe gerückt wird, kaum zu übertreffen. Dennoch: Das Buch käme ganz ohne dieses eine Beispiel aus, weil es Siegel eigentlich um die generellen Fragen einer Geschichte synoptischer Ordnungsentwürfe geht. Zuerst also zur generellen Erkundungsreise, dann zu Siegels Beispiel.

Siegel gelingt es, die Grundfragen der Wissensgeschichte der letzten Jahrzehnte auf hohem Niveau und mit klarer Sprache zu referieren: Für die ‚panepistemologischen‘ Entwürfe der Vormoderne hebt er die Spannung zwischen zwei unvereinbaren Zielen hervor, nämlich ihrem Streben nach Vollständigkeit (totum) und universaler Geschlossenheit (unum). Ebenso werden Foucaults Thesen zum tableau dargelegt, das Problem der Sichtbarkeit und Sagbarkeit des Wissens diskutiert und einzelne Praktiken des Umgangs mit der Fülle des Wissens, wie Exzerpier- und Verzettelungstechniken, Bibliographien und Bücherräder, vorgestellt. Siegel zieht den Schluss, dass man die besondere Kompetenz humanistischer Gelehrsamkeit nur erklären kann, wenn man ihren „kombinatorischen Gebrauch sichtbarer Zeichen“ (S. 47) entschlüsselt. Der Rest des Buches wendet sich dementsprechend dem Problem der Sichtbarkeit zu.

Siegel durchläuft die Geschichte der Diagramme, führt hübsche Begriffe ein, wie den der „arboresken Struktur“, und zieht so langsam den ‚Ring enger‘, in dem sich sein zentrales Beispiel befindet. Es muss nicht wundern, dass Savignys Tableaux dem Druck einer solchen analytischen Umzingelung nicht an allen Fronten Stand halten kann. Da alles gedeutet werden will, muss alles auch Bedeutung haben. Aber dachten Savigny, sein Drucker oder der Kupferstecher wirklich so gründlich darüber nach, ob sie die Linie zwischen zwei Begriffen geschweift (nicht gerade!) gezogen haben? Siegel tut es, obwohl ihm die pragmatische Seite und flexible Gestaltung graphischer Wissensdarstellungen, etwa des Mittelalters, gut vertraut ist. Erfordert der Umstand, dass Savigny seine Wissenstafeln in einem wieder verwendbaren ovalen Schmuckrahmen drucken ließ, einen Exkurs über „Parergon als Ergon“ (S. 133), also das „Beiwerk als Werk“? Mit dem „Beiwerk“ ist der Rahmen gemeint und mit dem „Werk“ seine Leistung, ein Drinnen und ein Draußen zu unterscheiden. So werden Kant und Derrida bemüht, um einen ovalen Wechselrahmen zu diskutieren. Der aber war, wie Siegel selbst darlegt, in der Druckwerkstatt schlicht die beste Lösung, um das Werk kostengünstig, aber doch optisch ansprechend herzustellen: Die 17 Wissenstafeln ließen sich so in den immer gleichen Wechselrahmen montieren.

Die Qualität von Siegels Arbeit besteht darin, dass er beide Seiten präsent hält: Die Reflexion über Grundprobleme der Wissensdarstellung wird immer wieder auf den Boden historischer Praktiken und Umstände zurückbezogen. Das ist der richtige Weg, um neue Perspektiven zu gewinnen, doch muss man ihn zu Ende gehen. Manch wichtige Frage der Wissenspraxis und des historischen Hintergrundes des Werkes wird kaum gestellt oder nur knapp behandelt: Was hat es bedeutet, dass die Tableaux im Verlagshaus Gourmont entstanden, gegenüber vom Pariser Collège Royale, und dies eineinhalb Jahrzehnte nach dem Tod von Petrus Ramus? Worauf deuten die erhaltenen Bindevarianten, die leeren Rückseiten der Tafeln hin? Warum wird der Spur des Schülers und Testamentsverwalters von Ramus, jenes „Monsieur [Nicolas] Bergeron advocat en parlement“, nicht weiter nachgegangen, der nicht nur die Tafel der Theologie hinzufügte (S. 17, 130), sondern, wie es in einer Vorbemerkung der Drucker heißt (Tafel 2), entscheidend auf das Buch Einfluss nahm? Hier fehlen Antworten, was sich auch durch kluge Exkurse über Copia oder das Bücherrad nicht überspielen lässt.

Siegels Buch schafft so, gewissermaßen en passant, zwar einen bemerkenswerten Überblick über die Geschichte graphisch-diagrammatischer Wissensdarstellungen der Frühen Neuzeit. Aber er organisiert sein Werk selbst ‚als Beiwerk‘ und erliegt in einigen entscheidenden Fragen der Bedeutsamkeits-Suggestion der Gattung. Diese hat Gregor Blech unnachahmlich zum Ausdruck gebracht, als er seinen Nucleus historiae et chronologiae universalis (1660) mit der Behauptung eröffnete, dass alles durchdacht und von größter Bedeutung sei: „nihil superflue, nihil otiose positum: significantia omnia“.2 Das Postulat totaler Signifikanz wäre jedoch selbst zu historisieren, anstatt es vorauszusetzen (und sich dann daran abzuarbeiten). Das Geschäft der Analyse und Deutung eines solchen Werkes gewänne dann die Souveränität, sich auch mit seinen vielen Unzulänglichkeiten, seiner höchst relativen Bedeutung – auch für das Wissen der Zeit – auseinanderzusetzen. Es könnte das so schwer fassbare Phänomen ‚Wissen‘ in Szenarien seines tatsächlichen Gebrauchs zerlegen. Dazu müsste man sich von einem emphatischen Wissensbegriff befreien, mit denen wissenshistorische Arbeiten häufig ihre eigene Bedeutung postulieren, anstatt alle Kraft in die Analyse des Gegenstands zu investieren. Ein Stück weit ist Siegels Buch jedoch auch einfach Kunst: Die Intensität seiner Auseinandersetzung mit dem Gegenstand mündet offenbar bewusst nicht nur in Analyse, sondern immer auch in eine imitatio seiner Struktur. Dass Siegel sein zentrales Beispiel, die Tableaux mit den so kenntnisreichen Kapiteln zu tafelartigen Ordnungssystemen mehr umkränzt als erschließt, dass sein Werk im Grunde Beiwerk bleibt, ist der Preis, den man für das schöne Buch zu zahlen hat.

Anmerkungen:
1 Christofle de Savigny, Tableavx Accomplis De Tous Les Arts Liberavx (…), Paris 1587 [Electronic ed.], in: Wolfenbütteler Digitale Bibliothek, <http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/o-1-2f-helmst> (23.02.2010).
2 Gregor Blech, Nucleus historiae et chronologiae universalis, qua sacrae, qua profanae, Braunschweig 1660, B1b.

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