C. Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust

Titel
Die Türkei, die Juden und der Holocaust.


Autor(en)
Guttstadt, Corry
Erschienen
Berlin 2008: Assoziation A
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Rother, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin

Lange hat es gedauert, bis sich die Holocaust-Forschung auch den europäischen Neutralen zugewandt hat. Zuletzt erschien eine Publikation über Portugal.1 Nun liegt endlich eine wissenschaftliche Arbeit zur Türkei vor. Zwar hatte bereits 1993 der amerikanische Türkei-Historiker Stanford Shaw ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht, doch wurden seine Ergebnisse allgemein als apologetisch verworfen.2

Leider gewährte die türkische Regierung außer Shaw jahrzehntelang keinem unabhängigen Forscher Zugang zu den einschlägigen Archiven. Dies hat sich nun partiell geändert. Der Hamburger Historikerin und Turkologin Corry Guttstadt wurde es erlaubt, die Akten des Ministerpräsidenten in Ankara auszuwerten. Verschlossen blieb auch ihr das viel wichtigere Archiv des Außenministeriums. Aber ein Anfang ist gemacht, der auf eine weitere Liberalisierung hoffen lässt.

Die Breite der Archivrecherche ist trotzdem beeindruckend. Türkische, amerikanische, belgische, deutsche, französische, israelische, italienische, niederländische, österreichische und tschechische Archive sowie Druckschriften hat Guttstadt herangezogen. Alleine schon die Berücksichtigung der einschlägigen türkischen Literatur lässt dieses Werk im deutschen Sprachraum zum Referenzpunkt künftiger Behandlung des Themas werden.

Das Buch geht aber weit über die türkische Verwicklung in die deutsche Judenverfolgung und den Holocaust hinaus. Es ist auch eine Geschichte der türkischen bzw. osmanischen Juden seit Ende des 19. Jahrhunderts (mit einem Rückblick bis 1492, als aus Spanien vertriebene Sepharden in das osmanische Reich flüchteten). Schließlich wirft die Autorin einen Blick auf das Schicksal der etwa 30.000 aus der Türkei stammenden Juden, die in der Zwischenkriegszeit in europäische Länder auswanderten. Nicht alle, aber viele von ihnen waren Sepharden – Paris wurde nun ihr neues Zentrum.

Die Errichtung des türkischen Nationalstaates unter der Führung von Kemal Atatürk bedeutete für die Juden, dass sie - wie auch andere Minderheiten, so die Kurden und die Armenier - Bürger zweiter Klasse blieben, obwohl die Verfassung die rechtliche Gleichstellung aller Bürger proklamierte und obwohl Juden in der Anfangsphase der jungtürkischen Bewegung eine wichtige Rolle gespielt hatten. Ein Teil von ihnen reagierte auf die alltägliche Diskriminierung mit verstärkten Anstrengungen, sich als treue Bürger des Landes zu beweisen. Dass ihre Ungleichbehandlung erträglicher ausfiel als in den meisten anderen neuen Nationalstaaten des Balkan und Osteuropas, erleichterte ihnen diesen Versuch. Ein anderer, großer Teil emigrierte nach Gründung der Republik. Exakte Zahlen sind nicht zu ermitteln, aber Guttstadt schätzt, dass die jüdische Gemeinde in der Zwischenkriegszeit die Hälfte ihrer Mitglieder verlor und nur noch etwa 80.000 Personen umfasste.

Hitlers Machtübernahme stieß in der türkischen Öffentlichkeit und in der Regierung überwiegend auf Sympathien. Gemeinsam sah man sich als Opfer der Versailler Verträge. Wirtschaftlich war die Verflechtung eng, denn Deutschland war in den 1930er-Jahren der wichtigste Handelspartner der Türkei. Und auch der scharfe Antikommunismus verband. Umso bestürzter war Ankara über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, zumal wegen der gemeinsamen Grenze mit der UdSSR. Der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 stellte die alten freundschaftlichen Beziehungen zu Berlin wieder her. Die Türkei gestattete deutschen Kriegsschiffen die Fahrt durch die Dardanellen und band sowjetische Kräfte durch die Verlegung eigener Divisionen an die Kaukasus-Grenze. Die Türkei hatte aber noch einen weiteren Grund, den deutschen Angriff zu befürworten: Damit verschwand die Gefahr, von der Wehrmacht, die in Nordgriechenland an der türkischen Grenze stand, angegriffen zu werden. Erst als sich das Kriegsglück gewendet hatte, rückte die Türkei unter alliiertem Druck von Deutschland ab. Im August 1944 brach sie die diplomatischen Beziehungen ab, im Februar 1945 erklärte sie Deutschland formal den Krieg, ohne aber tatsächlich in ihn einzutreten.

Angesichts der eher freundschaftlichen Beziehungen zwischen Hitler-Deutschland und der Türkei, an deren Spitze bis zu seinem Tod 1938 Kemal Atatürk stand, wirkt es paradox, dass prominente Gegner des Dritten Reiches, an ihrer Spitze Ernst Reuter, dort Zuflucht fanden, mehr noch, dort mit offenen Armen aufgenommen wurden. So sieht jedenfalls das in Deutschland verbreitete Bild des Exillandes Türkei aus. Guttstadt bestätigt dies für Fälle wie den von Reuter, doch ordnet sie dies ein in die allgemeine Flüchtlingspolitik der Türkei, wodurch sich das Bild doch deutlich verändert. Damit leistet sie nebenbei einen wichtigen Beitrag zur Emigrationsforschung. Sie kann zeigen, dass die Türkei nur aus Nützlichkeitserwägungen Fachleute wie Reuter aufnahm, zugleich aber vielen anderen Flüchtlingen die Einreise, ja sogar den Transit verweigerte. Nur 500-600 Juden aus "Großdeutschland" fanden legal Exil in der Türkei.

In den 1930er-Jahren nahmen die Angriffe auf und die Diskriminierung von Juden in der Türkei zu. Vorrangig war dies der Radikalisierung des türkischen Nationalismus geschuldet. Aber weiterhin war die Lage nicht mit der in Osteuropa oder in NS-Deutschland vergleichbar. Der Versuch des "Dritten Reiches", seinen rassischen Antisemitismus auch in der Türkei populär zu machen, hatte hingegen kaum Erfolg. Dennoch bedeutete all dies für die türkischen Juden einen tiefen Einschnitt. Die Regierung trat antijüdischen Übergriffen auf Geschäfte und Wohnhäuser nicht entgegen. Im Gegenteil: Zwischen 1941 und 1944 erließ sie zwei Maßnahmen gegen nichtmuslimische Minderheiten, von denen Juden besonders stark betroffen waren: eine enteignungsgleiche Vermögenssteuer und Zwangsarbeitsdienst. Für viele türkische Juden war damit der Zeitpunkt erreicht, von dem ab sie ihre Zukunft in Palästina sahen. Etwa 4.500 gelang die Ausreise bereits während des Krieges, nach Gründung des Staates Israel folgte ihnen die Mehrheit der türkischen Juden.

Nach Palästina wollten auch Zehntausende (oder noch mehr) Juden auf der Flucht vor der Verfolgung durch Deutschland oder die Verbündeten des "Dritten Reiches". Dafür mussten sie gleich durch mehrere Nadelöhre: die Türkei, Syrien und schließlich die Grenze Palästinas. Oder sie riskierten den gefährlichen Seeweg. Von 1938-1940 untersagte die Türkei grundsätzlich nicht nur die Einreise, sondern auch den Transit von Juden, während zugleich um türkisch-muslimische Einwanderer aus den Balkanstaaten geworben wurde. Danach wurden die Beschränkungen etwas gelockert. Von Herbst 1940 bis Sommer 1941 durften 4.850 Juden durch das Land nach Palästina, ab Sommer 1944 weitere 6.800. 1942 und 1943, als der Holocaust in Osteuropa auf dem Höhepunkt war, wurde weniger als 2.000 Juden die Durchreise erlaubt. Dies war auch die Zeit besonders enger deutsch-türkischer Beziehungen; der Zusammenhang ist evident. Guttstadt versäumt es aber nicht, auch auf die Behinderung der Einwanderung durch die britische Mandatsmacht in Palästina hinzuweisen.

Im NS-besetzten Europa lebten mehrere tausend Juden mit türkischen Personalpapieren. 1942 stellte Deutschland der Türkei das Ultimatum, sie entweder zu repatriieren oder deren "Einbeziehung in die allgemeinen Judenmaßnahmen" zuzustimmen. Dass dies Gefahr für Leib und Leben bedeutete, konnte die türkische Regierung bei Interesse durchaus wissen, auch ohne die Details der Vernichtungslager zu kennen. Dennoch verweigerte sie in den allermeisten Fällen die Repatriierung, weil es sich um Juden handelte. Dies gilt auch dann, wenn alle Papiere in Ordnung und neueren Datums waren. Im Wesentlichen ist es dem Engagement einzelner türkischer Diplomaten zu verdanken, dass etwa 850- 900 Juden repatriiert wurden.

Guttstadt betont wiederholt, dass alle ihre Kritik an der türkischen Politik nicht die Verantwortung Deutschlands für die Verfolgung und Ermordung der Juden relativieren soll. Aber es bleibt dabei, dass die Türkei weniger noch zum Schutz ihrer jüdischen Staatsbürger unternahm als selbst die Slowakei, Spanien oder Italien.

Bis zur Öffnung aller relevanten türkischen Archive wird diese umfassende, stets sorgfältig gearbeitete und durchdacht argumentierende Studie das Standardwerk sein. Um so ärgerlicher, dass ein Personen- und Ortsregister fehlt. In einer der Autorin zu wünschenden türkischen Übersetzung sollte dieses Manko beseitigt werden.

Anmerkungen:
1 Irene Flunser Pimentel, Judeus em Portugal durante a II Guerra Mundial. Em Fuga de Hitler e do Holocausto, Lisboa 2006.
2 Stanford Shaw, Turkey and the Holocaust: Turkey's role in rescuing Turkish and European Jewry from Nazi persecution, 1933-1945, New York 1993. Zur Kritik an Shaw vgl. Roger Smith / Eric Markusen / Robert Lifton, Professional Ethics and the Denial of Armenian Genocide; in: Holocaust and Genocide Studies 9 (1995), Nr. 1, S. 1-22.

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