D. Busse: Engagement oder Rückzug?

Cover
Titel
Engagement oder Rückzug?. Göttinger Naturwissenschaften im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Busse, Detlef
Reihe
Schriften zur Göttinger Universitätsgeschichte 1
Erschienen
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan L. Wolff, Forschungsinstitut des Deutschen Museums München/Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Detlef Busse betitelt seine Untersuchung zu den Göttinger Naturwissenschaften im Ersten Weltkrieg mit der Frage „Engagement oder Rückzug?“ Sie ist 2008 als Band 1 der Göttinger Schriften zur Universitätsgeschichte erschienen und stellt eine Erweiterung der Dissertation von Detlef Busse dar. In der Einleitung findet man dann aber eine etwas modifizierte Fragestellung. So geht es hier um die Universität als Ganzes während der Zeit des Krieges. Dabei kann der Autor darauf verweisen, dass fast alle anderen Darstellungen sich bisher auf „Teilpopulationen“ beschränkt haben, also auf Studenten und Wissenschaftler. Die Verwaltung und das Zusammenwirken aller Teile der Universität wurden dagegen sonst kaum berücksichtigt. Diese „Verengung des Blickwinkels“ vernachlässige aber die Rückwirkungen des Krieges auf Studierende, Forschung und Lehre. Diesem Defizit will Detlef Busse mit seiner Studie entgegenwirken und den Naturwissenschaften dabei besondere Aufmerksamkeit widmen. Das Buch gliedert sich in drei Kapitel, in denen jeweils die Situation der Studenten, der Universitätsinstitute und schließlich der Dozenten behandelt wird.

Wenig überraschend ist der mit Statistiken belegte starke Einbruch der Studentenzahlen nach Ausbruch des Krieges. Dabei bezweifelt Detlef Busse die inzwischen zunehmend in Frage gestellte allgemeine deutsche Kriegseuphorie auch im Fall der Studenten (S. 40), bleibt mit seiner Begründung dafür aber eher vage. Letztlich weiß auch er nicht, „wie viele von ihnen tatsächlich jubelten.“(S. 126) Die detaillierte Behandlung der Statistiken zeigt die auch andernorts bekannte Zunahme der Zahl weiblicher Studenten. Bei der Besetzung von Assistentenstellen räumte man den Frauen aber nur eine Platzhalterfunktion ein und bis auf eine Ausnahme mussten sie diese Positionen dementsprechend nach Kriegsende wieder freimachen. Der Umgang mit den etwa 160 ausländischen Studenten, insbesondere mit denen aus Ländern der Kriegsgegner, stellte die Universität vor ein Problem. Viele von ihnen hatten Deutschland sehr rasch verlassen, aber die anderen, darunter vor allem russische Studenten, wurden zunächst in Schutzhaft genommen. Eine ganze Reihe von Professoren übernahm Bürgschaften für die ihnen persönlich bekannten Studenten, die dann unter der Auflage einer regelmäßigen Meldung bei der Polizei entlassen werden konnten. Aus der Teilnahme russischer Studenten an einem Vortrag von Albert Einstein im Jahr 1915 erwuchs eine Affäre, die hier ausführlich geschildert wird. Die Unterlagen aus dem Universitätsarchiv ermöglichen fernerhin einen detailreichen Abriss der Diskussionen über Ergänzungskurse für Anfänger mit Notabitur und Zwischensemester nach Kriegsende. Gerade in Göttingen war man als Vorreiter in dieser Hinsicht sogar noch vor dem Kultusministerium aktiv geworden.

Rüstungsrelevante Themen fanden weder in der Lehre, noch in der Forschung Eingang in den Göttinger Universitätsbetrieb. Vor diesem Hintergrund behandelt Detlef Busse in einem eigenen Abschnitt des zweiten Kapitels, das die Auswirkungen auf die Institute untersucht, die Entwicklung der 1908 errichteten Modellversuchsanstalt für Strömungsforschung von Ludwig Prandtl. Der Krieg ermöglichte den Ausbau zu einer aerodynamischen Forschungsanstalt für Heer und Marine, was dazu führte, dass sie aus der Universität ausgegliedert und später Teil der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde.

Wenn Detlef Busse das letzte Kapitel seines Buches über die Dozenten der Naturwissenschaften mit „Schweigen und Forschen“ überschreibt, so geschieht dies offenbar auch wegen eines sehr häufig als Referenz für den Forschungsstand herangezogenen Beitrages von Lothar Burchardt aus dem Jahr 1988.1 Demnach seien die Naturwissenschaftler völlig auf ihr Fach konzentrierte Gelehrte gewesen, die keinerlei Interesse an den politischen Prozessen ihres Umfeldes gehabt hätten und sich als „unpolitische Diener“ der Wissenschaft verstanden hätten. Hier kann man Detlef Busse angesichts einer für dieses Werk so zentralen Frage trotz seiner Kritik an Burchardt den Vorwurf nicht ersparen, die wissenschaftshistorische Literatur seit 2000 nur unzureichend zur Kenntnis genommen zu haben. Durch deren Ergebnisse ist die Einschätzung von Burchardt inzwischen unhaltbar geworden. Da gibt es die umfangreiche Edition der Briefe des Münchener Physikers Arnold Sommerfeld, die auch im Netz verfügbar ist, sowie Publikationen zu der Rolle der Physiker im Propagandakampf der Intellektuellen, dem „Krieg der Geister“. Die dort dokumentierten Korrespondenzen zeigen die Physiker als politische Menschen, die ebenso von der allgemeinen Kriegseuphorie erfasst wurden und die beispielsweise mit Vorträgen in den besetzten Gebieten die deutsche Außenpolitik in kulturellen Belangen zu unterstützen versuchten. Der Göttinger Professor Woldemar Voigt beklagte in einer Ansprache am 31. Oktober 1914 vor Lehrkräften seiner Universität die Auflösung des mit dem Patriotismus nicht mehr kompatiblen wissenschaftlichen Internationalismus, was den Wissenschaftlern eine zusätzliche Bürde auferlege. Leider findet man in dem Buch keinen Hinweis auf diese Rede: „So sind edelste Kulturwerte zerstört, und wir, die Männer der Wissenschaft, zahlen mit ihrem Verlust neben denjenigen Opfern, die wir mit den andern Kreisen gemeinsam bringen.“ Der Autor lässt eine gegenteilige Aussage der Sekundärliteratur über den Wert des Internationalismus in der Wissenschaft unkommentiert (S. 234). Voigt hatte angesichts seiner Emotionen bei Kriegsausbruch noch ein Buch mit seinen Erinnerungen an den Feldzug von 1870/71 herausgebracht: „Auch damals durchflutete ein Strom von begeisterter Hingabe an das Ganze unser Volk.“2 Mit dem idealistisch gemeinten Bekenntnis zur eigenen Nation wollte Voigt auch ausländische Kollegen erreichen. Die Rede wurde in einer niederländischen Zeitung abgedruckt, das Buch schickte er mehreren niederländischen Kollegen. Insbesondere mit dem Physiknobelpreisträger Pieter Zeeman, der auch im Krieg mit Deutschland sympathisierte, verband ihn seit langem eine enge wissenschaftliche Freundschaft. Das verleiht dessen Berücksichtigung auf der dritten, wenn auch aussichtslosen Stelle auf der Berufungsliste für die Nachfolge des Experimentalphysikers Eduard Riecke vielleicht noch eine weitere, hier gar nicht angesprochene Nuance. In einem Minderheitenvotum war die Benennung von Zeeman als Ausländer prinzipiell abgelehnt worden (S. 232).

Zwei weitere Ereignisse in der Hochschullehrerschaft sind von Detlef Busse noch thematisiert worden. Mit Rausch von Traubenberg und Rudolf Nelson waren zwei Mitglieder des Lehrköpers „auffällig“ geworden. Der erste wegen pazifistischer Äußerungen außerhalb der Universität, der zweite durch angeblich kritische Äußerungen über die Kriegsführung. In beiden Fällen sah die Fakultät letztlich keinen Anlass einzuschreiten. Dies wird von Detlef Busse als „außergewöhnliche Art von Toleranz“ (S. 278) gedeutet und gemutmaßt, es wäre von dem Bemühen geleitet gewesen, der Öffentlichkeit keinen solchen Dissens zu bieten. Das verkennt jedoch das ständische Selbstverständnis der Universität, parteipolitische Themen bzw. individuelle Gesinnungen möglichst nicht zum Gegenstand von kontroversen Diskussionen zu machen. Der von Detlef Busse in einer Fußnote erwähnte Fall des sozialdemokratischen Privatdozenten Arons (S. 253) an der Berliner Universität hatte eine solche Haltung der philosophischen Fakultät zur Jahrhundertwende demonstriert. Sie wollte ihren Privatdozenten nicht wegen dessen Zugehörigkeit zur SPD relegieren. Das wiederum hätte selbst eine Parteinahme dargestellt, die man ablehnte. Erst am Ende des Buches wird die Ausgangsfrage aus dem Titel „Engagement oder Rückzug?“ wieder aufgenommen und resümiert, dass von einem „Rückzug“ keine Rede sein könne.

Das Buch bringt auf der mikroskopischen Ebene der Einzelereignisse aufgrund der intensiven Nutzung von Archivmaterial viele neue aufschlussreiche Erkenntnisse über eine deutsche Universität während des Ersten Weltkrieges. Bei einer Pionierstudie wäre es natürlich ungerecht, fehlende Vergleiche mit anderen Universitäten zu bemängeln. Allerdings bringt sich Detlef Busse um einige Früchte seiner Arbeit, weil er wichtige Ergebnisse aus der neueren Wissenschaftsgeschichte nicht herangezogen hat und deshalb mitunter nicht den richtigen Rahmen für die Einordnung der geschilderten Begebnisse findet. Ein Namensregister wäre hilfreich gewesen.

Anmerkungen:
1 Lothar Burchardt, Naturwissenschaftliche Universitätslehrer im Kaiserreich, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite, 1815-1945, Boppard am Rhein, S. 151-214.
2 Woldemar Voigt, Erinnerungsblätter aus dem deutsch-französischen Kriege 1870/71, Göttingen 1914.

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