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Titel
Kleine Theorie des Archivs.


Autor(en)
Schenk, Dietmar
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
112 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Dinges, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Über „das Archiv“ wurde während der letzten Jahre viel geschrieben, vor allem von Kulturwissenschaftlern. Dem Thema wurde, nicht zuletzt im Feuilleton, eine ungewohnte Aufmerksamkeit zuteil. Dieses so genannte „kulturelle Archiv“ wurde zumeist durch isolierte Einzelaspekte charakterisiert; hervorgehoben wurde zum Beispiel sein „technischer oder medialer Charakter, seine Staatsnähe […] oder die materielle Gegebenheit eines Zusammenhangs von Dokumenten“ (S. 19). Die in den Archiven tätigen Fachleute hielten die öffentliche Debatte für ihre Tätigkeit nicht unbedingt für sehr belangvoll. Auch wurden in diesem Diskurs die Überlegungen der Archivare und Archivarinnen zur Rolle der Archive in der Gesellschaft oder gar die alltägliche Arbeit in Archiven zum Gegenstand. Diskussionen um das Selbstverständnis der Archive und kulturwissenschaftlicher Diskurs blieben weitgehend getrennt. Man redete nicht einmal aneinander vorbei.

In dieser Situation ist es erfreulich, dass nun ein wissenschaftlich ausgebildeter Archivar und gewiefter Praktiker, Dietmar Schenk, der Leiter des Archivs der Berliner Hochschule der Künste, mit einer kleinen Schrift in die öffentliche Diskussion eingreift. In seiner „Theorie des Archivs“ geht es ihm nicht um die Alltagsfragen der Archivtätigkeit, zu denen sich Archivare in ihrer „Berufswissenschaft“ üblicherweise äußern. Das hätte auch nur die Insider des Metiers zu interessieren. Vielmehr kritisiert er die Archivistik wegen ihrer eher defensiven Position im Umgang mit dem kulturwissenschaftlichen Archivbegriff. Das könne letztlich nur zum Verlust der Deutungshoheit führen.

Außerdem reiche es auch nicht, wenn sich Archivare nur noch als „informationswissenschaftlich“ geschulte Technokraten definierten, wie das in den letzten Jahren von einflussreicher Seite befördert wird. Schenk vertritt demgegenüber dezidiert die These, dass sich archivarische und historische Kompetenz nicht ohne Schaden trennen lassen. Archivarbeit sei nur gut zu erfüllen, wenn sie als spezifisch historische Arbeit verstanden werde.

Die derzeitige Diskussion um die Gedächtniskultur nutzt Schenk für eine Differenzierung zwischen Historie als Wissenschaft (Geschichtswissenschaft), Historie als Kultur und Gedächtniskultur, die aber nicht in eins gesetzt werden dürften. Bekanntlich zeichne sich Gedächtnis durch sehr spezifische individuell und kollektiv variable Prozesse des Erinnerns aus. Demgegenüber zeichne sich ein historisches Archiv durch „Schriftlichkeit (und damit verbunden die Materialität der Information), Organisation und Ordnung sowie den Fortfall einer ursprünglichen Zweckbindung“ des Schriftgutes aus. Mit dem Übergang ins Archiv kann nur noch ein spezifischer, nämlich historischer Zweck beabsichtigt sein. Das Archiv stehe in einem Spannungsverhältnis zu den intellektuellen und psychischen Prozessen des Gedächtnisses. Mag es beim Gedächtnis um Vertrautes gehen, so müsse man sich im Archiv Fremdes aneignen und dem Anspruch von Beweisführung aussetzen, also den „Bruch mit dem Leben“ aushalten. Schenks Verständnis von Geschichte beinhaltet dementsprechend deren Unverfügbarkeit und ihre über den Einzelnen hinausweisende Wirkmächtigkeit. Dementsprechend sei das Archiv der Ort des – kritischen – Abgleichs individueller Erfahrung mit der Geschichte.

Im Kapitel zum historischen Material unterstreicht Schenk, dass dies immer nur fragmentarisch sei. Geschichtsschreibung müsse diese Lückenhaftigkeit überwinden, indem sie sinnvoll zu erzählen bzw. zu analysieren versuche. Demgegenüber sollten Archive ein Ort der Neutralität gegenüber jeder machtgestützten Indienstnahme sein. Im Unterschied zu Gedenkstätten hätten sie eben keinen derart inhaltlich bestimmten Auftrag zu erfüllen. Weitere – immer sehr anschauliche – Ausführungen betreffen den Quellenbegriff, „Neuentdeckung von Quellen“ und sich verändernde Archivierungsziele.

Schenk mustert dann kenntnisreich Archivdefinitionen durch, ergänzt die klassische Trias von Archiv als „Institution, Gebäude und Bestand“ um das Archiv als „Raum von Praxis“ und grenzt es von den Sammlungen ab. Zum Beruf des Archivars unterstreicht er an konkreten Beispielen aus der Berufspraxis die Notwendigkeit der Doppelkompetenz, die in der klassischen Formulierung des Berufsbildes des „Historiker-Archivars“ formuliert wurde. Heute komme dem Archivar zugute, dass er – im Unterschied zum Historiker – schon immer das Erbringen von Dienstleistungen als seine Aufgabe betrachtet habe.

Im folgenden werden dann die Normen der Archivierung erläutert, also die Ordnung des Materials nach der Herkunft bzw. Entstehung (Provenienzprinzip), die Maßstäbe für die archivische Bewertung, also die Auswahl des Materials, das aufbewahrungswürdig ist. Schenk unterstreicht, dass Archivare keineswegs Wirklichkeit eins zu eins abzubilden intendieren, sondern durch ihre Überlieferungsbildung massiv in die Möglichkeiten zukünftiger Geschichtsschreibung eingreifen. Schenk erläutert auch anhand eigener Erfahrungen Zusammenhänge zwischen historisch informierter Archivarbeit und Überlieferungsbildung.

Abschließend geht der Autor der grundlegenden Frage nach, wofür Archive überhaupt noch notwendig seien. Nach knapper Darstellung des mit der digitalen Revolution einhergehenden Wandels stellt Schenk fest, dass sie sicher weder Archive überflüssig mache, noch die Antwort auf deren Existenzberechtigung beinhalte. Vielmehr behielten diese gerade unter den Bedingungen der digitalen Welt ihre Aufgabe, dem Verlust von Geschichte Einhalt zu gebieten und der vielerorts zu beobachtenden Wendung hin zur Geschichte Stoff und Raum zu bieten. Schenk schließt mit einigen Bemerkungen zu Ethik und Politik des Archivs.

Insgesamt hat der Autor eine intellektuell anregende tour d’horizon vorgelegt, die sehr präzise und kenntnisreich vielfältige Aspekte des Archivs analysiert und der interessierten Öffentlichkeit zur Lektüre nur sehr empfohlen werden kann. Auch für die Fachkollegen enthält sie vielfältige Anregungen zum Nachdenken, die über die Mühen der Tagesarbeit hinausweisen. Durch gute Lesbarkeit hebt sie sich außerdem von den meisten Texten des kulturwissenschaftlichen Diskurses angenehm ab.

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