B. v. Dewitz; R. Lebeck (Hrsg. und Konzeption): Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage

Titel
Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage. 1839-1973. A History of Photojournalism


Herausgeber
Dewitz, Bodo von; Lebeck, Robert
Erschienen
Göttingen 2001: Steidl Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
DM 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henrick Stahr, Abt. Volksbildung, Kunstamt, Heimatmuseum Neukölln, Bezirksamt Neukölln von Berlin

Die erregten Debatten über die "Wehrmachtsausstellung" des Hamburger Instituts für Sozialgeschichte haben die Probleme des Umgangs mit Fotografien als historische Quellen in die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Die Einsicht, sich theoretischen und methodischen Fragen der Fotografiegeschichte zu widmen, ist unter Historikern gewachsen.1 Doch obwohl die Zahl der Arbeiten, die sich entweder der Fotografie als historischer Quelle widmen oder die Fotografie historisch als besondere Form sozialer Praxis untersuchen, in den letzten 20 Jahren stetig gewachsen ist, klaffen noch große Forschungslücken. Eine davon ist die Geschichte der Pressefotografie und des Fotojournalismus, der bislang in Deutschland, mit wenigen Ausnahmen vor allem in Bezug auf politische Propaganda, kaum untersucht wurde.2 Dies betrifft die Untersuchung des arbeitsteiligen Entstehungsprozesses von Fotoreportagen in den Illustrierten, aber auch thematisch-inhaltliche Untersuchungen der illustrierten Presse sowie ihrer Rezeption und Wirkungsweise.
Um so erfreulicher ist die Ausstellung "Kiosk" des Museums Ludwig / Agfa-Historama in Köln zur Geschichte der Fotoreportage, unter der Leitung von Bodo von Dewitz, zu der ein umfangreicher Katalog erscheint. Der Katalog präsentiert die internationale Sammlung von Illustrierten des Fotografen Robert Lebeck. Der Schwerpunkt liegt auf der Wiedergabe der Exponate, der Textteil fällt entsprechend knapp aus, mit kaum vermeidlichen Ungenauigkeiten.

Der Katalog ist eine breite Dokumentation von Fotoreportagen vorwiegend deutscher Illustrierten, aber auch europäischer und amerikanischer, als "Bilderzählung mit hoher medialer Eindringlichkeit, poetischer Suggestion, authentischer Überzeugungskraft und einer reichen und vielseitigen Geschichte."(7) Dewitz und Lebeck geht es um die Dokumentation von Fotografien als gedruckte Fotoreportage. In der Tat bieten publizierte Fotoreportagen eine Fülle unausgeschöpfter Informationen, über bislang unbekannte Fotografen oder und in Hinsicht auf thematische Forschungen, die über eine Beschäftigung mit Einzelfotografien hinausgehen. Die Auswahl der Exponate durch Lebeck ist explizit subjektiv, die Kriterien unscharf: Sein Begriff der "Fotoreportage" ist weit: Er fasst darunter jede Art des Bildberichts in Illustrierten, ob von mehreren oder einem Fotografen.

In 9 Kapiteln wird der Zeitraum der Dokumentation durchschritten: Die Periodisierung mischt dabei mediengeschichtliche Entwicklungen mit zeitgeschichtlichen Schnitten, so z.B. die Periode der Verwendung von auf Daguerrotypien und Fotografien basierenden Holzschnitten als Presseillustrationen von 1845 bis zur Einführung des meisenbachschen Autotypieverfahrens 1882, oder die Zeit der Weimarer Republik 1919-32. Die Dokumentation endet mit der Einstellung der einige Jahrzehnte international überragenden, auf Fotoreportagen spezialisierten Illustrierten "Life" im Dezember 1972, als Symptom des Niedergangs der klassischen Fotoreportage.

Mit der Erfindung des Rasterverfahrens (Autotypie) 1882 begann die eigentliche Pressefotografie, die Epoche der publizierten "Augenblicksaufnahmen". Das aktuelle Foto als Nachricht war bald fester Bestandteil der Illustrierten. Damit einher ging die Professionalisierung der Pressefotografen. Lebeck zeigt an zahlreichen Beispielen, dass die Pressefotografie von Beginn an mit Schreckensbildern von Kriegen und Katastrophen arbeitete, die heutigen kaum nachstanden. Gleich zu Beginn entfaltete sich das ganze Spektrum der Fotoreportage als "narrative, chronologische oder thematische Organisation von Bildern, die bald allein von einem Fotografen geliefert wurden" (64). Klassische Themen waren Katastrophenberichte, Freizeitaktivitäten, Sensationen aus Sport, Technik, Verkehr, Wissenschaft. In der Darstellung von Dewitz und Lebeck kommt die sozialgeschichtliche Reflexion der Illustrierte als Ware, die vorwiegend vom Anzeigengeschäft lebte und die sich an eine bestimmte Käuferschicht wendete, allerdings nicht vor.

Die Relevanz der direkten Beschäftigung mit den gedruckten Fotoreportagen ergibt sich auch daraus, dass erst die Durchsicht der Illustrierten Aufschluss darüber geben kann, welches visuelle Bild bestimmter Geschehnisse und Verhältnisse die Zeitgenossen erhielten, besonders, als die Illustrierten fast die einzigen aktuellen Bild-Informationsmedien waren. So erschien 1914 in Deutschland das heute so berühmte Foto von der Verhaftung des Attentäters Gavrilllo Princip in Sarajevo nur in einer einzigen, eher unbedeutenden Illustrierte als Titelbild - unser heutiges "Bildgedächtnis" erweist sich als im Nachhinein konstruiertes. Lebeck versammelt zahlreiche Beispiele der Bildpublizistik im Ersten Weltkrieg, unter den Bedingungen der Zensur, die z. B. in Deutschland bestimmte, dass Bilder von Toten sehr selten, gefallene deutsche Soldaten gar nicht abgebildet werden durften. Eine offensive photographische Bildpropaganda habe es im Ersten Weltkrieg erst spät und nur in Ansätzen gegeben.

Nach Kriegsende 1918 erlebten die Presse und die Bildpublizistik eine rasche Expansion, besonders in den Jahren 1923 bis 26 wuchsen die Investitionen der Werbeindustrie und die Auflagen. Die liberale "Berliner Illustrirte Zeitung" erreichte bis zu 1,9 Millionen Exemplare. Zahlreiche Neugründungen und das Entstehen von parteipolitischen Illustrierten wie der "Arbeiter-Illustrierten-Zeitung" oder der "Illustrierte Beobachter" zeigten das visuelle Informationsbedürfnis der Leser. Die "populäre Bildersprache der Fotoreportage" (112) dominierte den visuellen medialen Zugang zur Welt. In der Tendenz, so Dewitz und Lebeck, wurde die Fotografie immer mehr zur eigentlichen Nachricht. Beeinflusst durch die Bildsprache des Films und technische Entwicklungen (Kleinbildkameras) entwickelte sich ab 1930 die Ästhetik des "Fotoessays" als "eine Art filmischer Kurzgeschichte mit statischen Bildern"(112), als vollends in den fünfziger Jahren entfaltete "Abfolge von Fotografien, die mit wenig Text assoziativ 'gelesen' werden sollten"(250). Zahlreiche Fotoreporter avancierten zu prominenten Figuren mit künstlerischem Anspruch, wie Erich Salomon. Mit Beginn der NS-Zeit wurde ein großer Teil der Elite des deutschen Bildjournalismus ins Exil vertrieben, sowohl Fotografen als auch Redakteure. Die Beispiele Lebecks sind nicht immer konsequent gewählt:. Er zeigt nicht allein Fotoreportagen, sondern ebenso Titelbilder und Fotomontagen. Seine Auswahl umfasst ein breites Spektrum der Sujets der Berichterstattung: Revolutionsfotografien 1919; Luftaufnahmen als technische Sensation; Reportagen über Filme, Revuen, Theater; Großstadtalltag; Technik; Sport; Arbeit; Staatsereignisse; Katastrophenberichte; Exotik; Physiognomien und Sozialreportagen. Zu kurz kommen Beispiele politischer Berichterstattung, z.B. über Wahlkämpfe, oder die politische Propaganda.

Für die Jahre 1933-36 bringt Lebeck nicht nur Beispiele totalitärer Propaganda aus Deutschland, sondern auch aus der UdSSR. Die Illustrierte "USSR im Bau" unter El Lissitzky und Rodtschenko publizierte "futuristische Manifeste" (164) vom industriellen Aufbau, mit Stalin als Mittelpunkt. Demgegenüber wirkten die NS-Fotoberichte fast bieder. Sie stellten mit Vorliebe Massenpanoramen und das Portrait Hitlers dar, für deren exklusive Herstellung Heinrich Hoffmann zuständig war. Lebeck dokumentiert die schönfärberischen Artikel über Konzentrationslager, die 1933 und 34 erschienen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass auch in den deutschen Illustrierten, mit Ausnahme der periodischen Sondernummern und einer unverkennbaren Vorbereitung auf den Krieg ab 1935, weitgehend "Normalität" herrschte, die meisten Artikel sich kaum von denen vor 1933 unterschieden. Ausgesprochene Propagandaartikel in den Illustrierten waren selten.

Ab 1936 entwickelte sich die Fotoreportage am stärksten im angloamerikanischen Raum. An der Gründung von "Life" 1936, an der Londoner "Picture Post" waren deutsche Exilanten maßgeblich beteiligt. Lebeck dokumentiert diese Illustrierten mit hervorragenden Beispielen. Für Deutschland ist die "Signal" besonders hervorgehoben, eine professionell gemachte Unterhaltungsillustrierte mit internationalem Flair, als "vertrauensbildende Maßnahme für die deutschen Besatzer" (192). Aus ihrem Personal ging in bemerkenswerter Kontinuität die erfolgreichste Illustrierte der westdeutschen Nachkriegsjahre, die Münchner "Quick", hervor. Die Frage nach der politisch-moralischen Verantwortung ehemaliger PK-Fotografen beantworten Dewitz und Lebeck nur vage. Die Beispiele für die Reportagen sind etwas willkürlich, da sie nicht thematisch geordnet sind. Sie umfassen erste Ausgaben von "Life", stilistisch innovative Reportagen von Cartier-Bresson oder Brassaï, amerikanische Sozialreportagen von Dorothea Lange, Reportagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg von Robert Capa und zahlreiche Kriegsreportagen bis 1945. Die Auswahl richtet sich nach einmal nach historischer Relevanz, dann nach journalistischer Professionalität oder nach fotografischer Innovation.

Dass Lebeck eine Menge faszinierendes Material versammelt, wenn auch nach nicht immer klaren Kriterien, zeigt sich an Reportagen der Nachkriegszeit, wie derjenigen von Ernst Haas 1949 über deutsche Kriegsheimkehrer in Wien. Von dieser sind fast immer nur einzelne Bilder überliefert. Ihre emotionale Eindringlichkeit erschließt sich erst aus der Gesamtschau der damals gedruckten Reportage. Die Sammlung deutscher Berichte, aus der Bundesrepublik und der DDR, wird ergänzt durch internationale Beispiele von Evans, Doisneau, Roger oder Gisèle Freund.

Lebeck zeigt an zahlreichen, ästhetisch aufregenden Beispielen der fünziger und sechziger Jahre die Weiterentwicklung der Fotoreportage zum "Fotoessay", zu der die Reportage von W. Eugene Smith 1951 über ein spanisches Dorf gehört, die neue Maßstäbe setzte. An ihr lässt sich der formelle wie auch der politisch-inhaltliche Anspruch ablesen, der die qualitativ besten Fotoreportagen der Zeit bestimmte.

Die "Hochzeit der Bildreportage in den USA bedeutete auch das nahende Ende" (274): "Paris Match", die Schweizer Zeitschrift DU, das Magazin "Life" bildeten in den sechziger Jahren die Elite der Fotoreportagen. Mit ästhetischer Perfektion brachten sie Reiseberichte, Sozialreportagen oder Kriegsberichte (Vietnam), die in ihrer auf emotionale Intensität zielenden vornehmlich fotografischen Gestaltung - die Texte traten immer mehr zurück - mit der Wirkung des konkurrierenden Mediums Fernsehen mitzuhalten versuchten. Dies war bekanntlich vergeblich: Die großen Illustrierten starben in den siebziger Jahren, in Deutschland sind auch die illustrierten Zeitungsbeilagen wie das "Zeitmagazin" eingestellt. Die Fotoreportage ist heute selbst schon Geschichte, sie fristet eine Randexistenz - in Deutschland im "stern" und in GEO. Ihr neues Medium, so Dewitz und Lebeck, könnte in Ausstellungen liegen, wo noch Muße herrsche, sich auf eine Fotoerzählung einzulassen.

Eine letzte kritische Bemerkung: Eine große Zahl der abgebildeten Berichte erscheint im "thumbnail"-Format. Das ist nicht funktional für eine eigene Forschungsarbeit, da die Texte unlesbar und selbst die Fotografien nur mit Lupe erkennbar sind. Offenbar wurden die Vorlagen digitalisiert, wodurch sie an Tiefenschärfe verloren. Auch die ästhetisierende Wiedergabe in Farbe, im Sepiaton vergilbten Papiers, ist der Lesbarkeit abträglich.

Anmerkungen:

1 Vgl. Jäger, Jens: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung. Tübingen 2000 (edition diskord) (= Historische Einführungen, 7)

2 Vgl. Jäger 2000: 104-128, mit weiterführenden Literaturhinweisen.

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