R. Hürtgen/Th. Reichel (Hrsg.): Der Schein der Stabilität

Titel
Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker


Herausgeber
Hürtgen, Renate; Reichel, Thomas
Erschienen
Berlin 2001: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
DM 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Hartmut Zwahr, Universität Leipzig

Honecker übernahm von Ulbricht eine instabile DDR. Allein die akute Wohnungsnot der in den 1930er und 1940er Jahren Geborenen, die sich in die beengten Wohnverhältnisse ihrer Eltern und Großeltern hineinzwängten, belastete das Verhältnis zwischen den Generationen und machte die politische Führung unglaubwürdig. Auch vor diesem Hintergrund vollzog Honecker im Mai 1971 den Strategiewechsel vom reform- und technologieorientierten „Neuen Ökonomischen System“ zur Politik der „Hauptaufgabe“, die erst 1975 in die Formel „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ gefaßt worden ist. Hans-Hermann Hertle/Franz Otto Gilles stehen mit ihren Befunden in einem thematischen Hauptstrang des von Renate Hürtgen eingeleiteten Sammelbandes, der 16 Beiträge vereint; sie untersuchen die Tätigkeit des MfS in der Volkswirtschaft der DDR, dem „ressourcenbestimmenden Kerngehäuse des Realsozialismus“, und unterscheiden drei Phasen der Destabilisierung: 1. Den Weg in die Verschuldung (1971-1981), 2. Die Gratwanderung am Abgrund (1982-1985), 3. Den Weg in den Bankrott (1986-1989). Christoph Bayer folgt der sich immer schneller drehenden Verschuldungsspirale und der politisch brisanten Kluft zwischen „Soll“ und „Ist“, indem er die Grundlinien der Sozial- und Konsumpolitik der Honeckerzeit aus den Quellen analysiert und im Ergebnis einer gründlichen Studie feststellt, dass die Steuerungs- und Integrationsleistungen durch strukturelle Widersprüche des Systems limitiert waren. Der Weg von der Verschuldung in den Bankrott führte unter den Bedingungen von Friedenssicherung und internationaler Entspannung in Europa im Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren zur Selbstzerstörung, die in der akuten Finalkrisenphase von Massenflucht und gleichzeitigen DDR-Erneuerungsan-strengungen die Selbstbefreiung im Gang der friedlichen Revolution ermöglichte. Die politische Klasse hat Erosion und Destabilisierung der DDR mit der Stabilitätsfiktion nahezu zwei Jahrzehnte lang zu verhüllen versucht. Über allem lag der Schein der Stabilität wie ein Nebel. Eine dreitägige Arbeitstagung am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im April 2000 wandte sich nun dieser bisher wenig beachteten Seite der DDR-Wirklichkeit zu und lenkte das Forschungsinteresse auf „Betriebe und Arbeiterinteressen im DDR-Betriebsalltag der 70er und 80er Jahre“ unter der Leitfrage: „Entwicklung in der Stagnation?“ Aus den Arbeitsergebnissen entstand das von Hürtgen/Reichel herausgegebene Buch, dessen Leitfrage die Herausgeberin in der Einleitung um den Zusatz „Oder: was ist so spannend am Betriebsalltag der 70er und 80er Jahre in der DDR?“ ergänzte. Die Antwort lautet: Es ist die Wahrnehmung der „Unerträglichkeit der ganz normalen Diktatur“, die diesen Betriebsalltag so spannend macht, es sind die Absurditäten des Mangels, die Mangelklagen, die Fortschreibung der Fiktion der Stabilität trotz massenhafter gegenläufiger Selbstwahrnehmung der Beteiligten und Betroffenen, die alles das und die Subventionierung der Grundversorgung, die Leistungsanreize, die Konsumversprechen inmitten von Substanzverschleiß reflektierten, auch dank gewachsener Qualifikation und beträchtliche Informiertheit. „Hier braute sich etwas in aller Stille der „langweiligsten“ Jahre zusammen, was zu einem entscheidenden inneren Auslöser des Endes der DDR werden sollte.“ Hürtgen erblickt in der genauen Beschreibung der Situation von Belegschaften in den Betrieben während der Ära Honecker einen „Schlüssel“ zum Verständnis der Ereignisse von 1989. Ausgehend vom Titel des Bandes fragt der Rezensent, wieweit der Schein der Stabilität von den am Betriebsalltag Beteiligten als Instabilität wahrgenommen worden ist bzw. wahrgenommene Instabilität von der Macht in Stabilität umgelogen wurde oder, wie am Beispiel des MfS (siehe den aufschlußreichen Beitrag von Hertle/Gilles), in Komplexkontrollen, Frühwarnsignale und Versuche einer politischen Gefährdungsminimierung umgesetzt worden ist. André Steiner („Betriebe im DDR-Wirtschaftssystem“) beleuchtet demgegenüber das (legale) Geflecht von Lenkungs- und Kontrollmechanismen für betriebliche Abläufe; es wird in der Ära Honecker einerseits bestimmt durch zunehmende zentrale Lenkung und andererseits durch eine Art Selbsthilfe; Steiner bezeichnet sie als „Normalität des halblegalen und illegalen Verhaltens der Betriebe im Interesse der Planerfüllung als auch der Befriedigung der Wünsche der Belegschaften“ (S. 67). Thomas Reichel (Die „durchherrschte Arbeitsgesellschaft“) enthüllt, dass diese „Arbeitsgesellschaft“ weitgehend „stillgestellt“ war und die Realitätswahrnehmung massenhaft darauf hinauslief, dass der SED-Sozialismus nicht funktionierte. Dennoch, darin wäre dem Verfasser zu widersprechen, ist das System im Herbst 1989 nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Die empirisch fundierten betriebs- bzw. branchengeschichtlichen Studien von Leonore Ansorg und Annegret Schüle (Textilarbeiterinnen), Georg Wagner-Kyora (Karbidarbeiter der Buna-Werke Schkopau) verdeutlichen den schwierigen Umgang der Partei- und Staatsmacht „mit der Macht der Arbeiter“, betrachtet man die im ganzen starke Stellung der betrieblich Beschäftigten in der DDR gegenüber den Leistung Organisierenden und Fordernden, wägt man die „Eigenmacht“ der Beherrschten (A. Schüle, S. 128, am Beispiel der Brigaden in einem großen Textilbetrieb) mit den hier eigenartigen Unterschieden zwischen der Wahrnehmung von Verantwortung durch Frauen als junge Meisterinnen und Männern. R. Hürtgen führt am Beispiel der zunehmend weiblichen Gewerkschaftsvertrauensleute der Honeckerzeit den Nachweis, dass sich deren Verantwortung weitestgehend auf die „konfliktlose Erledigung“ von Leiterinteressen konzentrierte, bis nicht wenige von ihnen im Herbst 1989 und danach im Übergang zu den Betriebsrätewahlen zu Akteuren der Veränderung wurden, während der reformunfähige FDGB zerfiel. Sandrine Kott charakterisiert die Arbeiterjugend in der Honeckerzeit, gestützt auf die Überlieferung des Berliner Glühlampenwerkes und andere Quellen, als die „Unerreichbaren“ der sozialistischen Gesellschaft; diese Feststellung könnte als Hypothese für eine noch ausstehende, über Berlin (Ost) hinausführende vergleichende Untersuchung dienen, in der wohl sehr verschiedene Verhaltensmuster die Befunde bestimmen werden. Für „Entwicklung in der Stagnation?“ stehen die Konfliktkommissionen, eine Rechtsform in der DDR seit Wegfall der Betriebsräte (1948). In den letzten Jahren der DDR zählten 25.000 meist überalterte Kommissionen mehr als 250.000 Mitglieder, die jährlich ca. 70.000 Beschlüsse vorwiegend zu Arbeitsrechtsstreitigkeiten faßten und von Wolfhard Kohte als Garanten von Sicherheit und paternalistischer Erziehung gewertet werden. Den betrieblichen Alltag von LPGs behandeln die Studien von Dagmar Langenhan und Patrice G. Poutrus, der nach der industriellen Produktion auf dem Lande fragt, und zwar am Beispiel der Kombinate für Industrielle Mast (KIM), wobei der überdimensionierte agrarstrukturelle Wandel durchaus ins Bild rückt, ohne dass die ökologisch desaströsen Dimensionen dieser Mastbetriebe und bei Langenhan die Subventionsexistenz LPG-bäuerlichen Daseins wirklich erörtert werden. „Die Genossenschaftsbauern blieben die „Unberührbaren“ – sie waren weder an den Fluchtwellen in den Westen noch an den politischen Massenaktionen maßgeblich beteiligt.“ (S. 274). Das zutreffend erfaßte „äußerst zurückhaltende Agieren“ im Herbst 1989 erklärt sich nach Meinung des Rezensenten aus dem bäuerlichen Wissen um die eigene Subventionsexistenz und aus der Furcht vor deren plötzlichem Ende. Die „Bilder für das Volk“, von Annette Leo mit einem Fragezeichen versehen, zeigten und zeigen gerade in dem, was Fiktionsbefürworter an ihnen bemängelten, wichtige Segmente der DDR-Realität. Alf Lüdtke schließlich resümiert „Anfragen zu den Perspektiven auf die 1970er und 1980er Jahre in der DDR“ und erblickt in der „Matrix Familie“ (wohl auch im Sinne von Betriebsfamilie) ein taugliches Konzept für Mikroanalysen, um Fürsorge- und Zwangsverhältnisse, Hoffnungen und Ängste, in denen die Akteure sich befanden, zu erfassen. Alles in allem bietet der Sammelband viel Anregendes zu einem wesentlich arbeits- und lebensweltlichen Thema der geschlossenen Gesellschaft der DDR. Es umfaßt den betrieblichen Boden, auf dem die von der Bürgerrechtsbewegung angestoßene Bürgerbewegung hervorgetreten ist. An der Entschlossenheit der vielen kleinen Leute, das Dasein in der durchherrschten, geschlossenen Gesellschaft der DDR aufzugeben, zerbrach die DDR. Danach trennten sich der „kleine Mann“ (dazu Regina Bittner), die kleine Frau in Gewinner und Verlierer, nachgewiesen an der „geteilten Welt“ der Arbeitenden wie der Arbeitslosen auf den „modernisierten Inseln der Chemie“ im Raum Bitterfeld. Abschließend sei auf Heike Solgas aufschlußreiche Klassenstruktur- und Systemloyalitätsanalyse für die DDR-Bevölkerung der Honeckerzeit verwiesen. Die vorgefundene Systemloyalität wäre freilich danach zu hinterfragen, was sie in einer geschlossenen Gesellschaft tatsächlich bedeutete. Gehörte sie nicht auch zum Schein der Stabilität? War sie nicht gleichermaßen Fiktion?

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