L. Gauthier u.a. (Hrsg.): Mélodies urbaines

Cover
Titel
Mélodies urbaines. La musique dans les villes d'Europe (XVIᵉ-XIXᵉ siècles)


Herausgeber
Gauthier, Laure; Traversier, Mélanie
Erschienen
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gesa zur Nieden, Musikgeschichtliche Abteilung, Deutsches Historisches Institut Rom

Der von Laure Gauthier und Mélanie Traversier herausgegebene Sammelband mit dem zweiteiligen Titel „Mélodies urbaines“ und „La musique dans les villes d’Europe“ gliedert sich an den seit einigen Jahren in Frankreich verstärkt und interdisziplinär betriebenen Forschungszweig der Sozial- und Kulturgeschichte der Musik an. Im Rahmen der dort angesiedelten kollektiven und individuellen Forschungsprojekte sowie auch neuen Studiengänge stehen oft sozial- und institutionengeschichtliche Untersuchungen musikalischer Genres sowie deren Aufführungsräume und ihre sozialen Symboliken als Zugang zu einer Kulturgeschichte der Musik im Mittelpunkt.1 Der vorliegende Band leuchtet, wie in der Einleitung dargestellt, nun die methodische und inhaltliche Überkreuzung von Musik und Urbanität aus, und bereichert somit den auch über Frankreich hinaus verbreiteten Themenschwerpunkt „Musik in europäischen Städten“.2 Ein solcher – höchst interessanter – Ansatz zeichnet sich, wie Jean-Pierre Bartoli in seinem Vorwort erklärt, durch seine zweigliedrige Perspektive aus: Zum einen kann der Einfluss von Musik als Klang und als gesellschaftliche Praxis auf die Stadtgeschichte im Sinne eines Konglomerats historischer Machtverhältnisse und politischer Entwicklungen festgestellt werden. Zum anderen rücken über eine Betrachtung von Musik und Urbanität aber auch atmosphärische Eigenheiten von Musik sowie Rezeptionsparameter ihrer Aufführungen und Erscheinungen im Stadtbild verschiedener Epochen in den Blick.

Diese beiden Blickrichtungen des gegenseitigen Einflusses von Musik und Stadt berücksichtigen auch Laure Gauthier und Mélanier Traversier in ihrer Einführung, in der sie mögliche Verbindungspunkte zwischen Musik- und Stadtgeschichte ausloten. Dabei orientieren sie sich an gemeinsamen Paradigmen der beiden Disziplinen wie den Gegensatzpaaren „kirchlich/weltlich“ und „privat/öffentlich“. Gleichzeitig sprechen sich die Herausgeberinnen für eine sowohl geschichtlich („topographie des lieux de musique“) als auch philosophisch („pensée de la ville“/„pensée de la musique“) gefasste Untersuchung städtisch-musikalischer „Topographien“ aus (S. 13f.). Anhand der Kreuzung dieser beiden Ansätze werden die beiden thematischen Hauptkapitel des Bandes entworfen, in denen die Paradigmen und Topographien jeweils anders gewichtet sind: Das erste Kapitel „La Musique et le Pouvoir“ konzentriert sich auf den Gegensatz „weltlich/kirchlich“ und die damit zusammenhängenden politischen und sozialen Machtverhältnisse, die sich über den städtisch-musikalischen Raum äußern; beim zweiten Kapitel „Le théâtre, l’hospice ou la rue?“ stehen dagegen die urbane und architektonische Evolution von Räumen für Musik und die damit zusammenhängende Ausbildung öffentlicher Räume und ihrer sozialen Hierarchien im Vordergrund. Während eine solche fokussierende Zuteilung von „weltlich/kirchlich“ zu „Macht“ und von „öffentlichem Raum/privatem Raum“ zu räumlich fixierten sozialen Praktiken zwischen Bildung und Kommerz eher unscharf erscheint, binden Gauthier und Traversier den zweiten Teil teilweise selbst wieder an musikalische Abbilder politischer Machtvorstellungen zurück, wie sie sich über utopische Stadtentwürfe oder kompositorische Anlagen von Musikstücken nach architektonischen Vorbildern äußern können. Darüber hinaus zeigt sich die theoretische Reflexion der Herausgeberinnen über die Verbindung von Musik und Urbanität noch an anderer Stelle als sehr großflächig umrissen: Am Ende ihrer Einleitung unterstreichen Gauthier und Traversier die vielfältigen historiographischen Möglichkeiten, die sich allein schon aus den von der Forschung praktizierten variationsreichen Umschreibungen und methodischen Einordnungen von Städten als „Räume“, „Orte“, „Zentren“ oder auch „Pole“ ergeben: Diese „terminologische Unentschiedenheit“ wird nicht etwa eingegrenzt, sondern im Hinblick auf methodologische Innovationen für regionale, nationale, internationale und interkontinentale Vergleiche und Verknüpfungen einzelner Städte bewusst offen gehalten (S. 16).

In der Tat bieten die beiden Teile des Bandes mannigfaltige Herangehensweisen an die Kreuzung von Musik- und Stadtgeschichte, in denen die paradigmatischen und topographischen Ansätze immer wieder neu zusammengestellt oder auch nur einzeln genutzt werden, um unterschiedliche Aspekte der Stadt- und Musikgeschichte herauszuarbeiten. Der zweite Teil kommt darüber hinaus oft auch ohne Bezug zur Urbanität aus, indem sich viele Beiträge lediglich auf die Architektur von Räumen für Musik konzentrieren und sich somit an einem schon verbreiteten methodischen Zugang orientieren. Nichtsdestotrotz bietet der Band ein reiches Panorama sozialgeschichtlicher Studien zur Musik in Europa (während die Studien zu Frankreich den größten Teil einnehmen, sind auch Italien, Deutschland, Osteuropa sowie die USA berücksichtigt), die sich unter dem weiter gefassten Paradigma des Raumes zusammenfassen ließen. Vor diesem Hintergrund sollen die Artikel im Folgenden kurz einzeln vorgestellt werden, um den kaleidoskopischen Eindruck zu vermitteln, die der Sammelband hinterlässt:

Unter der Prämisse „Musik in der Stadt“ anstatt „Musik der Stadt“ stellt Frédéric Billet städtisch geregelte klangliche Organisationsformen im Amiens des 16. Jahrhunderts vor, die sowohl dazu dienten, die Bürger vor etwas zu warnen, als auch sie zu versammeln und sie zu vergnügen. Am Ende weist Billet auf die Kluft zwischen unserer zeitgenössischen Wahrnehmung und einer mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Klangtopographie hin. Diesen Unterschied nehmen Émilie Corswarem und Annick Delfosse in ihrer Studie zur alltäglichen Klangwelt Lüttichs in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum Anlass, sich für eine Art „dichte Beschreibung“ auszusprechen, in der die musikalische Physiognomie einer Stadt die Kulturgeschichte bereichert, ohne weitere kulturgeschichtliche Parameter wie Raumkonzepte jedoch gar nicht erst erfasst werden kann. Indem sie die politische Topographie Lüttichs als Grundlage für die Untersuchung der musikalischen Topographie nehmen, gelingt es ihnen, die äußerst heterogene Ausdruckskraft von Musik zu beschreiben. Caroline Giron-Panel legt in ihrem Artikel über die Räume für Musik im Venedig des 17. und 18. Jahrhunderts ihrer Darstellung der musikalisch-politischen Identität dieser Stadt dagegen eine musikalisch-urbane Topographie zugrunde. Hierbei weist sie auf die fließenden Grenzen zwischen weltlicher und kirchlicher Musik, sowie zwischen privatem und öffentlichem Ambiente hin, die sich vor allem in den ospedali samt ihrer architektonischen Anlage äußerten. Im darauf folgenden Artikel von Philipp Ther über die Opernhäuser in Lemberg und Prag wird die Zugänglichkeit von Opernbauten für verschiedene soziale Klassen im 19. Jahrhundert thematisiert. Ther sieht deren urbane Lage und Architektur als Spiegelung der „Verbürgerlichung“ musikalischer Institutionen, wobei sich der Einfluss des Adels auf die urbane Kultur Zentraleuropas über lange Zeit nicht abschwächte.

Die folgenden vier Artikel nehmen kirchliche Institutionen und religionsgeschichtliche Entwicklungen in den Blick. Beat A. Fölmi thematisiert die symbolischen Neuordnungen im Zuge der protestantischen Reformen in Straßburg zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Hierzu beschreibt er die Transformationen klangweltlicher Elemente wie Glocken sowie die Neuorganisation von Messen, die jedoch keine bestehenden Elemente zurückdrängten. Anne-Claire Magniez konfrontiert in ihrem Artikel die weltlichen Theater Münchens mit den Bühnen der Jesuiten und zeichnet anhand von deren Orten, Komponisten und Repertoires die Geschichte dieser Häuser vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum 18. Jahrhundert nach, die stark stadtgebunden verlief. Der Fokus von Georges Escoffier, der die Inszenierung von musikalischen Festlichkeiten zu Ehren der königlichen Macht in französischen Provinzstädten im 18. Jahrhundert beschreibt, liegt dagegen auf der Herausbildung des Genres des Konzerts und sozialer Symboliken: Während der an unterschiedlichen Orten organisierten Feste wurden sozialen Schichten bestimmte städtische Räume und somit auch bestimmte Musik zugeordnet. Xavier Bisarro weist die Instrumentalisierung des Pariser liturgischen Modells im 18. Jahrhundert während seiner Einführung in anderen lokalen Kapiteln nach, die sich im Zuge verschiedener Debatten über den Einfluss der Hauptstadt, über römische und gallikanische Tendenzen und über die nationale Kontrolle der Liturgie herausbildete.

Florence Alazard zeigt in ihrem Artikel über den Dichter und Straßensänger Giulio Cesare Croce (Bologna, 1550-1609) die mannigfaltigen Hinweise auf das Bologneser Straßenleben und die unteren sozialen Schichten auf, die die Texte Croces über die klangliche Topographie dieser Stadt liefern und somit die Quellenlücke der meistens nicht erhaltenen Popularmusik teilweise füllen können. Ein weiterer Artikel von Laura Moretti über die venezianischen ospedali beleuchtet anschließend den Zusammenhang zwischen architektonischen Veränderungen und Neuerungen der musikalischen Praxis der putte, welche die Verbesserung des Renommees dieser musikalischen Institutionen zum Ziel hatte. Auch Laure Schnapper stützt sich in ihrem Beitrag über die ersten Konzertsäle im Paris des 19. Jahrhunderts auf die architektonische Aufteilung: Die Vorgänger dieser von namhaften Klavierbaufirmen errichteten Säle waren Salons, die in die Fabrik- und Verkaufsräume integriert waren, was sich auch im Bau erster Konzertsäle durch Herz, Pleyel und Erard niederschlug. Damien Ehrhardt geht es in seinem Artikel über den Lisztschen Salon im „Neuen Weimar“ (1848-1861) darum, die architektonischen Eigenheiten der Altenburg, aber auch ihre urbane Lage als genuinen Ort für Liszts progressive Vorstellungen über musikalische Komposition und das Ansehen des Künstlers selbst zu beschreiben. Wie Carlotta Sorba aufzeigt, verstanden auch die Theaterdirektoren Turins und Brescias während der Krise der italienischen Stadttheater gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass Architektur und Rezeption von Musik untrennbar zusammenhingen. Obwohl sie durchgreifende architektonische Modifikationen anberaumten, um ihre Theater auch symbolisch für weitere soziale Schichten zu öffnen, liefen die sich in Windeseile vermehrenden politeama den traditionellen Opernhäusern den Rang ab.

Die letzten drei Artikel des Bandes konzentrieren sich auf gedankliche Wahrnehmungen und utopische Vorstellungen von Städten, die im Zusammenhang mit Musik geäußert werden. Bertrand Porot analysiert Stücke für Cembalo von François Couperin auf ihre Darstellung der zeitgenössischen städtischen Klangwelt hin und ordnet den Komponisten auf dieser Grundlage als „témoin-poète“ ein. Im folgenden Beitrag über die „Zukunftsnovelle“ Euphonia ou la ville musicale (1844/1852) von Hector Berlioz deckt Esteban Buch die kunstkonzeptionellen und biographischen Elemente auf, die vonseiten des Komponisten in diese Utopie einer musikalischen Stadtgesellschaft eingingen, und setzt sie in Bezug zu musikgeschichtlichen Entwicklungen und zu Bauten für Musik des 20. Jahrhunderts. Berlioz schuf in seiner Utopie ein Abbild reeller Musikwelten, das eine universelle Harmonie als nicht erstrebenswertes Gesellschaftsbild darzustellen scheint. Rémy Campos beschreibt schließlich die musikalische Geographie New Yorks im 19. Jahrhundert zwischen der Ausbreitung seiner Vergnügungsparks und der Erweiterung seiner Infrastruktur am Beispiel der Expansion der Firma Steinway und von Jenny Linds Amerika-Tournee. Die Tatsache, dass im New York des 19. Jahrhunderts Kunst und Kommerz untrennbar miteinander verbunden waren, ließ die Musik hinter den visuellen Attraktionen jedoch weitestgehend verschwinden.

Auch wenn einzelne Beiträger den Zusammenhang Musik - Stadt durchaus reflektieren und die meisten Autoren diesen für eine bestimmte geographische oder historische Situation fruchtbar machen können, markiert die eben vorgestellte starke Auffächerung der Zugänge und Inhalte dieses Sammelbands eine theoretische Lücke: Sie scheint dazu aufzufordern, sozial- und kulturgeschichtliche Verbindungen zwischen Musik- und Stadtgeschichte nicht nur vor dem Hintergrund der existierenden, oftmals sehr partiellen Forschungszugänge zu thematisieren, sondern einer grundsätzlicheren Reflexion zu unterziehen. Hierbei müsste die Abgrenzung oder der Einbezug von Architekturtheorie bzw. -soziologie integraler Bestandteil sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. die soeben erschienenen Bände: Hans Erich Bödeker / Patrice Veit / Michael Werner (Hrsg.), Organisateurs et formes d’organisation du concert en Europe 1700–1920. Institutionnalisation et pratiques, Berlin 2008 und Dies. (Hrsg.), Espaces et lieux de concert en Europe 1700-1920. Architecture, musique, société, Berlin 2008.
2 Siehe z.B. den XIV. internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung mit dem Oberthema „Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen“ (Leipzig, 2008) und das Volkswagen-Projekt „Die Oper im Wandel der Gesellschaft. Die Musikkultur europäischer Metropolen im ,langen’ 19. Jahrhundert“ (Universitäten Bielefeld und Frankfurt/Oder, 2005-2008).

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