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Titel
Das Reich im Mittelalter. Kleine deutsche Geschichte von 500 bis 1500


Autor(en)
Weinfurter, Stefan
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Müller, Historisches Institut, RWTH Aachen

Der Heidelberger Mediävist legt eine Einführung in die Geschichte des römisch-deutschen Reiches vor, die sich an eine breitere historisch interessierte Leserschaft richtet. Er verleiht dabei dem geografisch wie gedanklich schwer zu fassenden Gebilde „Reich“, in dem mittelalterliche Königsherrschaft sich phasenweise mit der Vorstellung eines weltumspannenden Kaisertums verband, klarere Konturen. Weinfurter verfolgt die Geschichte des von den Zeitgenossen abstrakt imperium und nicht etwa „Deutschland“ genannten politischen Gebildes über die gesamte Zeitspanne des Mittelalters, meist anhand der üblichen Orientierungsmarken. Von den fränkischen Reichen geht es über die Kaiserkrönung Karls des Großen, die Reichsteilungen und das ottonische Kaisertum zu den Saliern, deren Herrschaftszeit er als Phase der Neuformierung begreift, in der das Reich als eigenständige Denkkategorie hervortritt. In der Stauferzeit lässt sich dann der (letztlich gescheiterte) weltumspannende Anspruch des Kaisertums ebenso erkennen wie eine geografische Akzentverschiebung durch Friedrich II., dessen Herrschaftsmittelpunkt Süditalien war.

Mit dem Untergang der Staufer lockerte sich die bis dahin ausgesprochen enge Bindung des Kaisertums an die römisch-deutschen Könige deutlich; mehr als sechs Jahrzehnte blieb der Kaiserthron vakant. Folgerichtig verengt sich der Betrachtungsraum des Buches für die Zeit nach 1250 auf das nordalpine Reich, richtet sich dort vor allen Dingen auf Möglichkeiten und Initiativen zur inneren Ausgestaltung des Gemeinwesens, um mit der Kirchen- und Reichsreform des 15. Jahrhunderts den Schlussstein in das historische Reichs-Gebäude zu setzen.
Die allmähliche Transformation vom „römischen Reich“ des Früh- und Hochmittelalters zum „römischen Reich deutscher Nation“ war damit vollzogen. Vom Ende der Epoche an diente dieser Titel – noch erhöht durch den Zusatz „heilig“ – auch zu dessen Selbstbezeichnung. Weinfurter unterstreicht dieses Phänomen in knappen Schlussgedanken, in denen er das Wachsen eines Bewusstseins von ‚deutscher’ Eigenständigkeit vorführt, das durch eine national-propagandistische Offensive der deutschen Renaissance-Humanisten befeuert wurde.

Die "kleine deutsche Geschichte" beschränkt sich nicht auf die Darstellung der themenbezogenen Ereignisgeschichte. Exkursartig werden Einblicke in die Lebenswelten der Menschen zu unterschiedlicher Zeit eingeflochten und überall dort, wo es geraten ist, die sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Fundamente des Zusammenlebens skizziert. Dank dieser Mischung vermittelt das Buch zugleich Grundlagen der mittelalterlichen Geschichte. Zudem vermeidet die Darstellung der Reichsgeschichte auf diese Weise jene entwicklungsgeschichtliche Zwangsläufigkeit, die das reine Nacherzählen historischer Ereignisse ansonsten stets suggeriert. Vor allem aber werden so die Kräfte sichtbar, die im Inneren wie infolge äußerer Kontroversen formend und deformierend auf das Reich wirkten.

Weinfurter bezieht Ergebnisse und Konzepte der jüngeren Forschung durchgehend in seine Darstellung ein, wobei die Intensität im frühen und hohen Mittelalter erkennbar größer ist als im späten. Auch die eigenen Forschungsschwerpunkte des Verfassers sind als Akzentsetzungen gut sichtbar. So ist „Ordnung“ eines der häufigsten Worte im Text. Sie taucht in vielen Verbindungen von der Herrschaftsordnung über die politische Ordnung bis zur Rechtsordnung auf, aber auch als Ordnungsvorstellung, Reichsverständnis, als Versuch also, das Wesen und das Funktionieren des Gemeinwesens gedanklich zu erfassen. Vor diesem Hintergrund sind die Seiten über die Salierzeit (S. 82-112) besonders aussagekräftig. Der Verfasser vermittelt dem Leser hier, dass in der Zeit des so genannten Investiturstreits die Herrschaftsordnung des Reiches schwer erschüttert wurde, weil nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit Papst Gregor VII. die bindende Kraft des Treueids an den König von den Fürsten diskutiert wurde; damit war das Königsamt nicht mehr unantastbar. Die Idee des Wahlkönigtums, die die Auswahl des Monarchen in die Hände der Fürsten legte, erhielt somit eine neue Bedeutung. Doch erst die Auseinandersetzung des wieder erstarkten Heinrich IV. mit seinem gleichnamigen Sohn 1105/1106 lässt den tiefen Umbruch vollends erkennen. Jenseits der rein rechtlichen Kategorien zeigten die Großen des Reiches durch ihr Verhalten in diesem Konflikt, dass der alte Wertekodex seine Gültigkeit verloren hatte: Sie billigten die hinterlistige und mit den überkommenen Spielregeln brechende Politik Heinrichs V. gegenüber seinem Vater demonstrativ. Es war das Verhalten dieser privilegierten sozialen Gruppen, das die Ordnung in einem Reich ohne niedergeschriebene Verfassung bestimmte.

Aus einem weiteren Grund ist die späte Salierzeit einer der Angelpunkte dieses Buches: In der spannungsreichen Atmosphäre des Investiturstreits kristallisierte sich um 1120 das regnum (Reich) als etwas heraus, das nun nicht mehr mit „Königsherrschaft“ übersetzt werden kann, das auch nicht mehr identisch war mit der Person des Herrschers. Regnum verselbstständigte sich vielmehr zu einem Begriff, hinter dem sich ein Gemeinwesen als Summe der reichsfürstlichen Interessen verbarg.

Ein umfangreicher Anhang mit den Daten der Regierenden, Stammtafeln, einem Set von (unvermeidlich kleinformatigen) Karten, einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Register der Personen, Orte und geografischen Bezeichnungen rundet den Band ab. Wer sich kompakt, kompetent und kurzweilig zu Genese, Geschichte und Wesen des Reiches informieren möchte, wird diesen gelungenen Überblick gerne zur Hand nehmen.

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