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Titel
Die Normannen. Erobern - Herrschen - Integrieren


Autor(en)
Plassmann, Alheydis
Erschienen
Stuttgart 2008: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 18,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Müller, Historisches Institut, RWTH Aachen

Das Taschenbuch ersetzt im Verlagsprogramm Kurt-Ulrich Jäschkes kompakte, mittlerweile mehr als ein Vierteljahrhundert alte Darstellung der Geschichte der Anglonormannen.1 Alheydis Plassmann greift dabei nicht nur über die Mitte des 12. Jahrhunderts, hauptsächlich bis zur Eroberung der Normandie durch Philipp II. Augustus im Jahr 1204, hinaus, sondern erweitert gegenüber dem Vorgänger auch das Blickfeld um jenen Teil der normannischen Geschichte, der sich abseits des Nordatlantiks in Sizilien und im südlichen Italien vollzog. Zu den erklärten Absichten der Verfasserin gehört es, die Eigenheit der Normannen, ihre Wahrnehmung in den Quellen, kurz: ihre Identität, herauszuarbeiten. Aus diesem Grund sind in den Gang der Ereignisgeschichte an einigen Stellen ethnische, kulturelle und politisch-strukturelle Bestandsaufnahmen eingeschaltet. Der Erzählbogen spannt sich von den skandinavischen Eroberungszügen im Frühmittelalter mit der Gründung der Normandie im 10. Jahrhundert, den normannischen Anfängen in Süditalien im 11. Jahrhundert und der Eroberung Englands über die Zeit der Könige aus dem Hause Anjou-Plantagenet bis zu König Johann I. (Ohneland) von England. Ergänzend wird die Situation in Wales, Schottland und Irland beschrieben sowie ein knapper Exkurs über den Mythos der Normannen angefügt. Die vom Haupttext getrennten Anmerkungen, eine Zeittafel, ein nach Kapiteln gegliedertes Quellen- und Literaturverzeichnis, Orts- und Personenregister sowie mehrere Karten und Stammtafeln vervollständigen den handlichen Band.

Der Verfasserin gelingt ein fundierter Überblick über die Geschichte der von Norden eindringenden Kriegerverbände, deren Bezeichnung 'Normannen' über Gebühr die Zusammengehörigkeit und Homogenität dieses Volkes suggeriert, schlossen sich die Normannen doch in je unterschiedlicher Form zusammen und begründeten verschieden gestaltete Reiche. Plassmann verfolgt dieses Phänomen kritisch und konfrontiert Ereignisse und Quellenmaterial durchgehend mit der Frage nach den signifikant normannischen Anteilen. Inwieweit ist Richard Löwenherz aus dem Hause Plantagenet noch ein Normanne? Konstitutiv für den Kern der Darstellung bleibt eine politisch bestimmte Linie, die sich von der "Gründung" der Normandie 911 über die Eroberung Englands von Nordwestfrankreich aus (1066) zum Verlust des Herzogtums Normandie als Festlandsbesitz der englischen Krone 1204 zieht, mithin ein unvermeidlich am Geschick der Herrscher orientierter Überblick.

Plassmann verknüpft ihre Ausführungen erfreulich oft mit zeitgenössischen Quellen und erläutert dabei deren Entstehungshintergrund und die je eigenen Interpretationsprobleme. Diese Vorgehensweise bringt sie neben der notwendigen Differenzierung in der historischen Betrachtung dem selbst gesteckten Ziel näher, einer normannischen Identität in Selbst- und Fremdwahrnehmung nachzuspüren. Der Leser wird auf der Basis des aktuellen Forschungsstands durchgehend solide informiert. Nur wenige Irrtümer sind zu korrigieren. So muss es statt housecearls (S. 28) housecarls heißen; das Gedicht des Bischofs Guido von Amiens über die Eroberung Englands trägt den Namen Carmen de Hastingae proelio und nicht – wie bei Plassmann angeführt – Carmen de Haestingio proelio (S. 168f., 339); die von Thomas Becket im Streit mit Heinrich II. benutzten Vorbehaltsklauseln salvo ordine meo bzw. salvo honore Dei (S. 249f.) sind mit "ausgenommen die Rücksicht auf sein Amt" bzw. "ausgenommen die Ehre Gottes" wohl zumindest missverständlich übersetzt; ein "vorbehaltlich der …" träfe die Sache jeweils präziser.

Deutlicher in seiner Qualität gemindert wird das Handbuch durch die Tatsache, dass sich die Verfasserin ihrer Aufgabe sprachlich nicht immer gewachsen zeigt. Dabei stören weniger einige ungelenke Formulierungen ("Er steckte sich immer neue Ziele, wobei es ihm nicht gelang, seinen ehrgeizigsten Zielen Dauer zu verschaffen", S. 113) als der Hang, die Darstellung mit vermeintlich flotten sprachlichen Einkleidungen aufzupolieren. Da kann man "einen vorherigen König nicht aus dem Hut zaubern" (S. 134), sehen Herrscher, denen "die Schuhe eines Königes [!] […] dann doch eine Nummer zu groß" (S. 223) waren, "schlecht aus" (S. 66); Kontrahenten werden "abgestraft" (S. 93), andere hängen "wie Pech und Schwefel" zusammen (S. 96). Die "immer landgierigen Normannen" (S. 118) sind "Trendsetter" (S. 100) und machen sich auf, "dem Ehrgeiz zu frönen" (S. 101). Die extravagante Art des Thomas Becket "machte […] gehörig etwas her" (S. 235) und er selbst nach der Erhebung zum Erzbischof "eine Kehrtwende mit" (S. 236). Insbesondere dann, wenn die Autorin Akteure und deren Handlungen schulmeisterlich bewertet – was nicht selten vorkommt – treibt der Stil merkwürdige Blüten. Nur vier Kostproben: "Es hätte dem normannischen Herzog aber auch ähnlich gesehen, abzuwarten, dass sich seine beiden Gegner zunächst einmal bekriegen" (S. 165). "Auf der anderen Seite wird man Wilhelm Rufus wohl zugestehen, dass er die innere Verwaltung des Königreiches schon einigermaßen kompetent angegangen haben muss, denn über 10 Jahre hätten auch die besten Einrichtungen seines Vaters kaum als Selbstläufer fungieren können." (S. 194) "Denn selbst wenn Gottfried sich bei den ihm zugeteilten Aufgaben vorbildlich verhalten hätte – was durchaus fraglich ist – wäre ihm wohl eine undurchdringliche Mauer an Misstrauen und Ablehnung entgegengeschlagen" (S. 215f.). Schließlich: "Aber jetzt war es für Mathilde an der Zeit, Fehler zu machen, die ihre Befähigung zur Herrschaft infrage stellten [...]" (S. 219).

Diese geraffte Blütenlese verzerrt zweifellos den Gesamteindruck. Angesichts der Zahl auch leicht vermeidbarer Schnitzer (z.B. "Progrom", 'Vasall' durch alle Fälle ungebeugt) beschleichen den Rezensenten jedoch Zweifel, ob die im Vorwort genannten Freunde und Kollegen sowie insbesondere die Lektorin das Manuskript wirklich so sorgfältig gelesen haben, dass ihnen der Dank der Autorin gebührt. Den Lesern wie dem an sich sehr nützlichen Buch ist zu wünschen, dass eine baldige Neuauflage den Normannen und ihrer Geschichte ein passendes Gewand beschert.

Anmerkung:
1 Kurt-Ulrich Jäschke, Die Anglonormannen, Stuttgart 1981.

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