W. Laqueur: Gesichter des Antisemitismus

Cover
Titel
Gesichter des Antisemitismus. Von den Anfängen bis heute


Autor(en)
Laqueur, Walter
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Gebert

Mit seinem Essay „The Changing Faces of Anti-Semitism“, der in den USA bereits 2006 erschien, hat sich der international bekannte Historiker Walter Laqueur zur Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus zu Wort gemeldet. Sein Beitrag ist schon deshalb bemerkenswert, weil eine Untersuchung des Antisemitismus‘ in Laqueurs bisherigem wissenschaftlichen Werk nicht besonders prominent vertreten war. Als langjähriger Direktor der Wiener Library in London kennt er natürlich eine Vielzahl der Publikationen zum Thema aus den letzten dreißig Jahren und bezieht sie in seine Überlegungen mit ein. Ein Grund für die Veröffentlichung ist jedoch das seiner Meinung nach ungebrochene Wirken des Antisemitismus in der Gegenwart: Laqueur möchte auf den Charakter des ‚Neuen Antisemitismus‘ und die von ihm ausgehenden Gefahren aufmerksam machen.1 Dabei verweist Laqueur zu Recht auf die enorme Wandlungsfähigkeit des Antisemitismus, dessen Motivation und Gestalt sich bei aller Kontinuität im Laufe der Zeit immer wieder verändert habe.

Der ‚Neue Antisemitismus‘ zeichnet sich nach Laqueur vor allem durch eine veränderte Trägerschaft aus. Seien in frühere Zeiten Kirchen, faschistische Bewegungen und konservative Parteien Hauptvertreter antisemitischer Einstellungen gewesen, finde sich dieser heutzutage eher im Umfeld des Islamismus und im arabischen Nationalismus sowie in linken Bewegungen. Hiermit gehe gleichzeitig eine geographische Verschiebung einher: Auch wenn Antisemitismus in Europa weiterhin virulent sei, habe sein Einfluss insbesondere in arabischen und islamischen Staaten enorm zugenommen. Zudem sei der rassistische Gehalt des Antisemitismus nach 1945 einer Zunahme verschwörungstheoretischer Inhalte gewichen. Darüber hinaus – und dies ist seiner Meinung nach das Entscheidende – zeichne sich der Antisemitismus seither durch eine antisemitisch aufgeladene Israelkritik aus, die in aller Regel das Land, den Zionismus, den Judaismus und die Juden gleichsetze.

Auch wenn Laqueur erklärtermaßen keine umfassende Theorie des Antisemitismus schreiben will, geht er doch eingangs auf eine Reihe bisheriger Interpretationen des Antisemitismus ein. Unter anderem widmet er sich Theodor W. Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ und Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, um deren Theoreme jedoch als unbefriedigend zu verwerfen. Auch wendet er sich gegen eine vereinfachende Sündenbock-Theorie und die Behauptung eines ‚ewigen‘ Antisemitismus. Vielmehr arbeitet er verschiedene Ursachen heraus, beispielsweise soziale Spannungen und ökonomische Konkurrenz, demographische Faktoren, Wirtschaftskrisen sowie politische Krisen, um abschließend zu betonen, „dass es keine monokausale Erklärung gibt, dass in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Faktoren im Spiel waren“ (S. 51).

Laqueurs Anliegen ist jedoch nicht nur die Auseinandersetzung mit dem „Neuen Antisemitismus“ und seiner Interpretation. Vielmehr liefert er zugleich einen Überblick über die Entwicklung und Erscheinungsformen des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart. Hierzu schildert er zunächst die Entstehung des christlichen Antijudaismus von den Jahrhunderten nach Christi Tod bis ins Mittelalter, arbeitet dann den mit der Aufklärung beginnenden Wandel zum modernen Antisemitismus mit seiner Verlagerung zur Rassenlehre und Verschwörungstheorie im 19. Jahrhundert heraus und gelangt schließlich mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung zu dessen Höhepunkt im 20. Jahrhundert. Für den verschwörungstheoretischen Anteil des modernen Antisemitismus verweist Laqueur auf die herausragende Bedeutung der um 1905 im zaristischen Russland veröffentlichten „Protokolle der Weisen von Zion“. Dieser „Haupttext und Grundlage moderner antisemitischer Propaganda“ (S. 115) und seine über achtzigjährige Wirkungsgeschichte veranlassen Laqueur, auf den universellen Charakter antisemitischer Verschwörungsideologien hinzuweisen. Doch warnt er davor, den Kontinuitätsbruch zwischen Antijudaismus und modernem Antisemitismus überzubetonen, da sich bereits als Folge der spanischen Reconquista und Inquisition im Spanien des 15. Jahrhunderts eine Rasselehre vom reinen Blut entwickelt habe, der auch bereits Juden zum Opfer gefallen seien.

Die folgenden vier Kapitel widmet der Autor dem zeitgenössischen Antisemitismus und der Frage danach, welchen Einfluss der linke Antizionismus sowie der islamische und arabische Antisemitismus in der Gegenwart ausüben. Eine große Gefahr sieht er im Reimport antisemitischer Ideologien durch die muslimische Migration nach Europa sowie darin, dass sozialdemokratische und sozialistische Parteien versucht sein könnten, aus Kalkül die Stimmungen und Forderungen solcher Wähler zu integrieren. Dies macht für ihn – wie er am Anfang formuliert – das genuin Neue des gegenwärtigen Antisemitismus aus: „Er zielt nicht wie der rassistische Antisemitismus der Vorkriegszeit auf radikalen Ausschluss oder gar physische Vernichtung ab, sondern auf Appeasement gegenüber Moslems“ (S. 28).
Für den arabischsprachigen Raum, in dem Verschwörungstheorien eine lange Tradition besäßen, sieht er einem Zusammenhang mit der Existenz Israels sowie der israelischen Politik. Der arabische Antisemitismus sei somit nicht Ursache, sondern Folge der feindlichen Haltung gegenüber Israel.

Insgesamt ist Walter Laqueur eine in weiten Teilen überzeugende Darstellung gelungen, die der vor allem die Wandlungsfähigkeit des Antisemitismus betont. Leider hat er in seinem Essay vollständig auf Quellenverweise verzichtet. Dies stört besonders, wo der Autor sich an den Theorien Arendts und Adornos abarbeitet und diese zwar relativ pauschal, für den Leser aber letztlich unnachvollziehbar zurückweist. Auch für die Behauptung einer besonderen arabischen Neigung zu Komplotten und Verschwörungen hätte man sich Nachweise gewünscht. Und dort, wo Laqueur aus sicher berechtigter Sorge politisch argumentiert, lassen seine Urteile bisweilen Differenzierungen vermissen. So schreibt er beispielsweise antisemitische Ausschreitungen der Vergangenheit überwiegend den „Fußtruppen der extremen Rechten oder Linken“ (S. 151) zu und verwischt durch totalitarismustheoretische Gleichsetzungen wichtige Unterschiede zwischen linker Juden- bzw. Israelfeindschaft sowie der gewalttätigen Praxis des Rechtsextremismus.

Laqueur zieht aus der Geschichte des Antisemitismus den Schluss, „dass der Glaube an abstruse Erklärungen zur menschlichen Natur gehört und einem menschlichen Bedürfnis entspricht“ (S. 119). Diese Ansicht muss man nicht teilen: In seiner jüngsten Veröffentlichung hat Wolfgang Wippermann vielmehr überzeugend auf Verschwörungstheorien als „Produkt menschlichen Denkens und Handelns“ verwiesen und der Vorstellung, es handle sich um eine „anthropologische Konstante“, welche sich in verschiedenen „historischen Varianten“ aufzeigen lasse, eine klare Absage erteilt.2

Anmerkungen:
1 Die Frage, ob die Erscheinungsformen des gegenwärtigen Antisemitismus als „Neuer Antisemitismus“ beschreibbar sind, wird ausführlich diskutiert in: Rabinovici, Doron; Speck, Ulrich; Sznaider, Natan (Hrsg.), Neuer Antisemitismus. Eine globale Debatte, Frankfurt am Main 2004.
2 Wippermann, Wolfgang, Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Berlin 2007, S. 7f.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch