K.-M. Mallmann u.a.: Einsatzgruppen in Polen

Cover
Titel
Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation


Autor(en)
Mallmann, Klaus-Michael; Böhler, Jochen; Matthäus, Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Lehnstaedt, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Die deutsche Forschung hat der Geschichte der nationalsozialistischen Einsatzgruppen in Polen 1939 bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass nun eine Studie vorliegt, die die Dynamisierung der Gewalt vom Sommer 1939 bis zum Herbst 1941 untersucht. Sie gliedert sich in eine rund 140 Seiten starke monographische Darstellung und eine etwas mehr als 80-seitige Dokumentation.

Das Buch nimmt vor allem die Täter in den Blick. In erster Linie werden die Kommandanten der einzelnen Einsatzgruppen sowie das Führungspersonal einer gruppenbiographischen Analyse unterzogen und in der überwiegenden Mehrzahl der „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) zugeordnet. Ihr frühes Bekenntnis zur NSDAP, ihren hohen Bildungsgrad und ihre weltanschauliche Motivation teilten diese Männer mit den Angehörigen der Frontkämpfergeneration, die die andere große Gruppe der Einsatzgruppenführer ausmachten. Der Leser erfährt jedoch wenig über die Bedeutung situativer Momente für die konkrete Ausführung der Morde; diese wird im Wesentlichen auf eine „emotional aufgeladene Stimmung“ (S. 74) reduziert. Neben der Disposition und Mentalität der Anführer unterbleibt auch weitgehend der Blick auf die Mannschaften. Die Verfasser beschreiben jedoch, als wie langweilig die theoretische Ausbildung bzw. ideologische Fundierung von den Männern empfunden wurde, so dass die Bedeutung des nationalsozialistischen Gedankenguts als Motivation für die Taten zumindest fraglich erscheint: Auch bei den Einsatzgruppen ist festzustellen, dass die breite Masse der Täter keineswegs berechnende Intellektuelle waren, die handelten, weil Morde für sie eine logisch gebotene Handlung darstellten.

Die Autoren können wesentliche Unterschiede zwischen den Feldzügen 1939 und 1941 herausarbeiten. So zeigte sich die Wehrmacht in der Sowjetunion wesentlich willfähriger gegenüber den Verbrechen der Einsatzgruppen als in Polen, und sie war tendenziell auf Kooperation statt auf Konfrontation aus. Dazu trug auch bei, dass im „jüdischen Bolschewismus“ ein gemeinsames Feindbild gegeben war und der Massenmord deshalb gewissermaßen öffentlich angekündigt werden konnte, was in Polen nicht der Fall gewesen war. Von praktischer Bedeutung war ebenfalls, dass die Einsatzgruppen seit 1941 von vornherein vom Heer getrennt agierten. Die Gemeinsamkeit der beiden Kriegszüge sehen die Verfasser vor allem in der Person Hitlers als wichtigem Stichwortgeber, der Befehle bevorzugte, aus denen die Tendenz zur Eskalation der Gewalt herausgelesen werden konnte. Auch zeigt sich die Bedeutung des Vorgehens in Polen in der Entwicklung der ersten Kriegsjahre: Die Verbrechen im Umfeld der Eroberung des Landes erwiesen sich als „Weichensteller auf dem Weg in den Rassen- und Vernichtungskrieg“ (S. 99). Mit dieser stimmigen Schlussfolgerung wird Jochen Böhlers 2006 vorgestellte These vom Polenfeldzug als „Auftakt zum Vernichtungskrieg“ einerseits untermauert, andererseits relativiert, was in der teilweise hitzigen Diskussion um seine These zu einer Versachlichung führen könnte.1

Das Buch erweitert mit seinen überzeugend herausgearbeiteten Ergebnissen den Forschungsstand erheblich, der in Deutschland bei Helmut Krausnicks Untersuchung aus dem Jahr 1981 stehen geblieben war.2 Das Urteil von Mallmann, Böhler und Matthäus über diese Studie fällt nicht sehr positiv aus, hauptsächlich weil Krausnick die umfangreiche polnische Literatur nicht rezipierte, die die Autoren selbst dagegen souverän beherrschen. Die grundlegenden Überlegungen der Autoren, gerade zur Eskalation der Gewalt und zum Verhältnis der Einsatzgruppen zur Wehrmacht, gehen in der Tiefe ihres Eindringens deutlich über Krausnick hinaus, und sie zeigen die Verselbstständigung der Einsatzgruppen und deren Akzeptanz durch die Wehrmacht sehr klar auf. Dennoch erscheint das harsche Verdikt gegen Krausnicks Studie überzogen, war sie doch die erste deutsche Monographie über die Einsatzgruppen. Ihre Erkenntnisse zu den Organisationsstrukturen und zum Verhältnis der Wehrmacht zu den Einsatzgruppen sind nicht vollkommen überholt, sondern stellen eine Grundlage dar, ohne die eine Täterforschung wie im vorliegenden Band kaum möglich wäre.

Bezeichnenderweise beruht die Darstellung neben der umfangreichen fremdsprachigen Literatur fast ausschließlich auf Quellen aus deutschen Archiven, namentlich dem Berlin Document Center im Bundesarchiv und den Akten der Ludwigsburger Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen, so dass gerade in dieser Hinsicht kaum ein prinzipieller Unterschied zu Krausnick besteht. Was in beiden Untersuchungen nur sehr knapp geschildert wird, ist das konkrete Mordgeschehen. Hier bleibt für künftige Forschungen noch genug zu tun, denn selbst im Jahr 2008 kann die Gesamtzahl der Einsatzgruppenmorde in Polen bis zum Beginn des Russlandfeldzugs nicht annähernd präzise benannt werden. Sie wird von der vorliegenden Studie zwar deutlich im fünfstelligen Bereich angesiedelt, jedoch wesentlich niedriger als 20.000.

Die dem Buch beigegebene Edition wirft Schlaglichter auf verschiedene Massaker der Einsatzgruppen. Die breite Auswahl an Dokumenten zeigt verschiedenste Quellengattungen, derer sich die moderne Zeitgeschichtsforschung heutzutage bedient: Schilderungen der Überlebenden, Ermittlungsakten, Vernehmungen der Täter, Verwaltungsakten sowie Schriftgut der Einsatzgruppen. Von den insgesamt 128 Dokumenten, die aus dem Zeitraum von Kriegsbeginn bis zur jüngsten Vergangenheit stammen, kommt – im Unterschied zur monographischen Untersuchung zuvor – rund ein Drittel aus ausländischen Archiven. Damit zeigen die Autoren, welche wertvollen und hierzulande immer noch weitgehend unbekannten bzw. ungenutzten Bestände in Osteuropa vorhanden sind.

Können Vielzahl und Varianz der Quellen noch überzeugen, so gilt das nicht mehr für deren Präsentation. Es fehlt sowohl eine Einleitung, die die Auswahl und Repräsentativität der vorgelegten Texte begründet, als auch eine sachthematische Gliederung; Orts- und Personenregister sind zwar hilfreich, machen das Manko aber nicht wett, zumal auf Querverweise in der Darstellung verzichtet wurde. Dazu kommt, dass nur 27 Dokumente ungekürzt abgedruckt werden, bei allen anderen lediglich Auszüge, die im Extremfall nur einen einzelnen Satz wiedergeben (z.B. Dokument 60, S. 154). Dies verwehrt dem Leser weitere Nutzungsmöglichkeiten für eigene, andere Fragestellungen, da die Ausschnitte sich auf den Forschungsrahmen des Buches beschränken. Die Kürzung wiegt umso schwerer, als die Herausgeber auf jegliche Kommentierung verzichten und die Editionsarbeit auf die reine Textwiedergabe bzw. deren Übersetzung begrenzt haben. Weiterhin ist zu bemerken, dass die eigentlichen Einsatzgruppenberichte hier nicht abgedruckt sind, obwohl die Verfasser zu Recht darauf hinweisen, dass deren polnische Edition von 1971 zahlreiche Lücken aufweist.3 Die angekündigte Online-Herausgabe dieser Dokumente musste jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben werden.4

Insgesamt bleibt ein zwiespältiges Bild: Einerseits bringt die Studie wertvolle Erkenntnisse zur Genese der Einsatzgruppen vor 1941 und differenziert darüber hinaus die Wahrnehmung des Feldzugs gegen Polen im Jahr 1939, der noch bis vor wenigen Jahren als gewissermaßen „anständig“ bewertet wurde, nun aber immer mehr als „Weichensteller“ für den Krieg gegen Russland ins Blickfeld rückt. Andererseits sind die recht knapp gehaltene Darstellung der Verbrechen des Jahres 1939 sowie eine wenig überzeugende Quellenedition als Hauptkritikpunkte festzuhalten.

Anmerkungen:
1 Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt 2006.
2 Krausnick, Helmut; Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981, S. 32-106.
3 Die Texte sind hier zweisprachig abgedruckt: Leszczyński, Kazimierz (Hrsg.), Działalność Einsatzgruppen policji bezpieczeństwa na ziemiach polskich w 1939 r. w świetle dokumentów, in: Biuletyn Glównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce, 22 (1971), S. 32-290.
4 Siehe <http://dhi.waw.pl/cms/dhi-warschau/personal/wissenschaftliche-mitarbeiter/dr-jochen-boehler/forschungsprojekte.html>

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