J. Brademann u.a. (Hrsg.): Leben bei den Toten

Cover
Titel
Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne


Herausgeber
Brademann, Jan; Freitag, Werner
Reihe
Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme - Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496
Erschienen
Münster 2007: Rhema Verlag
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marion Kobelt-Groch, Timmendorfer Strand

Vorbei an einer Natursteinmauer und verwitterten Grabsteinen, die aus gepflegtem Grün erwachsen - wer heute über den einen oder anderen idyllisch anmutenden Kirchhof schlendert, wird sich der einstigen historischen „Multifunktionalität“ dieses Ortes kaum bewusst sein. Mit dieser romantisch angehauchten Arglosigkeit räumt der vorliegende Band gründlich auf. Wer ihn gelesen hat, wird speziell ländliche Kirchhöfe mit anderen Augen sehen und mit einem kritischeren Bewusstsein betreten. Vor allem aber wird der Leser durch die ihm von der „Volkskunde und Bauforschung über die Siedlungs-, Sozial-, Rechts-, Sprach- und Kulturgeschichte bis hin zur Theologie“ (S. 15) gebotene perspektivische Vielfalt des Zuganges mit einem Ort vertraut gemacht, dem im Alltagsleben und im Recht der vormodernen Gesellschaft eine äußerst wichtige Funktion zukam.

Hervorgegangen ist der insgesamt 6 Teile mit 18 Beiträgen umfassende Aufsatzband aus einer Tagung, die am 4. März 2005 unter der Überschrift „Der Kirchhof im Dorf. Ort und Raum symbolischer Kommunikation (15.-18. Jahrhundert)“ in Münster stattfand. Über die dort vorgestellten Forschungsergebnisse hinaus sind weitere Beiträge in die interdisziplinär ausgerichtete Publikation eingeflossen, deren Schwerpunkt überwiegend auf westfälischen Beispielen aus dem dörflichen und kleinstädtischen Raum liegt. Wie Jan Brademann in seinem einleitenden Beitrag (S. 9-49) betont, gehe es in diesem Band weder um den Friedhof im Allgemeinen oder idealisierte Vorstellungen „’einer heilen Friedhofswelt’“ (S. 10), sondern um den vormodernen Bestattungsplatz um die Kirche herum, der in seiner „lebensweltlichen Zentralität“ (S. 15) bisher nicht umfassender untersucht worden sei. Allerdings geht es auch in dieser, aktuelle Arbeiten vorstellenden Publikation, nicht um der Forschung letzten Schluss: „Auch in diesem Band wird vieles Fragment bleiben“ (S. 15).

Zunächst einmal werden jedoch profunde Ergebnisse geliefert. Den Auftakt bilden drei Beiträge, in denen unter der Überschrift „Verbindungen nach außen. Rechts-, siedlungs- und sprachgeschichtliche Aspekte“ behandelt werden. Es geht um „Beobachtungen zur Asylschutzfunktion christlicher Friedhöfe“ (Gerhard Franke, S. 53- 81), „Kirchen und Siedlungsgang im westfälischen Mittelalter“ (Manfred Balzer, S. 83-115) sowie „Sprachgeschichtliche Überlegungen zu Bedeutung und Wahrnehmung von Kirchhöfen“ (S. 117-125). Dieser knappe Beitrag aus der Feder Leopold Schüttes behandelt Fragen, die allesamt um die heutige und ursprüngliche Begrifflichkeit des Friedhofs primär als Ruhestätte von Toten kreisen: „Ohne die Konnotation ‚Bestattungsplatz’ wäre das Wort kirchhof nur eine Lagebeschreibung mit allenfalls unsicheren Bezügen zu dem, was ‚Kirche’ auf der spirituellen Ebene für die Menschen bedeutet“ (S. 124).

Im Mittelpunkt des zweiten Teils, der lediglich zwei Beiträge umfasst, stehen „Provisoren und Statuten. Der Kirchhof als Gegenstand gemeindlicher Eigenverantwortung und kirchlicher Normierung im Spätmittelalter“. In seinem klar strukturierten Aufsatz über „Die Kirchhöfe der Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters“ (S. 129-144) untersucht Arnd Reitemeier nicht nur die äußere Erscheinung und die Funktionen des Kirchhofs, sondern behandelt darüber hinaus auch Zuständigkeitsebenen sowie die Wahrnehmung des Kirchhofs, der diverse Funktionen erfüllte, „von denen die wichtigste die Nutzung als Beerdigungsort war“ (S. 144). Weiter geht es dann mit Wilhelm Janssens Ausführungen über „Kirchhof und Begräbnis in kölnischen Diözesan- und Dekanatsstatuten des späten Mittelalters“ (S. 145-154). Die bischöflichen Gesetzgeber zollten dem Kirchhof nicht nur als heiligem, sondern auch befriedetem Ort Aufmerksamkeit (S. 152). Hingegen wird in den Kölner Diözesanstatuten des Mittelalters kaum auf die Gestaltung und erst recht nicht auf die technisch-praktische Seite der Grablegung, die liturgische Ordnung und Ausformung des Begängnisses sowie „auf die Regulierung des mit dem Begräbnis verbundenen Brauchtums“ eingegangen, was offensichtlich der weltlichen Obrigkeit oblag (S. 153f.).

Von Köln aus geht es dann über Mexiko nach Italien. Christoph Daxelmüllers Beitrag, der Einblicke in das Forschungsprojekt „Schädel, Schlangen, Sargprozessionen. Eine ethnographische Reise zu rätselhaften Kulturen in Europa“ gewährt, eröffnet den dritten Teil des Buches: „Communio vivorum et mortuorum. Totenbrauch, liturgische Vorgaben und Konfessionskonflikt“. Unter der Überschrift „Der Friedhof als Kommunikationsraum, der Tote als Familienmitglied“ (S. 157-172) begibt sich Daxelmüller unter anderem auf die Suche nach „jenen realen und virtuellen Räumen, die den direkten, ja körperlichen Kontakt zwischen Lebenden und Verstorbenen ermöglichten, indem sie den Leichnam sicht- und greifbar machten“ (S. 161). Wurde dem Kirchhof im Rahmen dieses Beitrages eher ein Platz an der Peripherie zugewiesen, so rückt er mit den Beiträgen von Jürgen Bärsch „Der Kirchhof als Ort des Gottesdienstes“ (S. 173-191) und David M. Luebke „Churchyard and Confession“ (S. 193-211), der die Schändungen katholischer Gräber im Ostmünsterland zwischen 1595 und 1620 untersucht, wieder stärker in den Mittelpunkt. Bärtsch hebt unter anderem hervor, dass der Kirchhof nicht einfach nur Begräbnisplatz gewesen sei, sondern vor allem als Ort liturgischen Handelns verstanden worden sei (S. 190).

Unter der Überschrift „Memoria und Topographie. Der Kirchhof als Ort sozialer Distinktion“ steht dann der sich anschließende vierte Teil, der neben der mikrohistorischen Untersuchung von Vera Isaiasz „Adlige Memorialkultur und dörfliches Begräbnis. Bestattungstopographie und Repräsentation sozialer Ordnung am und im Dom zu Brandenburg“ (S. 215-235), einen anschaulichen Beitrag von Bärbel Sunderbrink enthält, der unter dem Titel „Dörfliche Eliten, Unterschichten und das Ende des Begräbnisses im Dorf“, speziell „Kirchhöfe des Ravensberger Landes als Orte gesellschaftlicher Konfliktlagen im 19. Jahrhundert“ (S. 237-252) beleuchtet. Die ausgewählten Quellen gewähren unter anderem Einblicke in die zum Himmel stinkenden Zustände auf manch überfülltem Kirchhof, der zudem nicht nur Jugendlichen als Spiel- und Tummelplatz, sondern auch allerlei Vierbeinern als Lebensraum diente. Dennoch fiel es oft schwer, einen überfüllten Kirchhof zu schließen und einen neuen Begräbnisplatz anzulegen, da diese Entscheidung mit dem Verlust überkommener Privilegien einherging und soziale Differenzierungsmerkmale in Frage stellte (S. 252). Als Dritte im Bunde führt Heike Düselder den Leser in die Grafschaft Oldenburg mit ihrem „O ewich is so lanck“ betitelten Aufsatz (S. 253-263), der „Die Sozialtopographie des Kirchhofs in einem lutherischen Territorium“ beleuchtet. Gefragt wird „nach den Motiven für die Veränderungen der ländlichen und städtischen Kirchhöfe im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts“ (S. 253).

Mit insgesamt fünf Beiträgen fällt der vorletzte Teil des Buches, der unter der Überschrift „Topographie, Bau- und Sozialstruktur. Bestandsaufnahmen in Westfalen“ steht, am üppigsten aus. Den Auftakt bildet Peter Ilisch mit seiner Übersicht über „Kirchhöfe in Dörfern und Kleinstädten des westlichen und südlichen Münsterlandes“ (S. 267-292). Erfasst wurden „44 Kirchhöfe innerhalb eines von Nordwest nach Südost verlaufenden Landstreifens“ (S. 267), die allesamt nicht nur in ihrer baugeschichtlichen Gestaltung und Nutzung vorgestellt werden, sondern auch mit all jenen Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten in unmittelbarer Nähe des Kirchhofs lebten, wie jene Lichtmutter in Billerbeck, die die Kirche mit Kerzen versorgte (S. 280), oder eine arme 1498 erwähnte Frau in Alstätte (S. 273). Fred Kaspars bauhistorische Überlegungen „Der Kirchhof als religiöser und sozialer Ort“ (S. 293-328) basieren auf der dualen Funktion des Kirchhofs, der „unter der Erde ein Reich der Toten, über der Erde aber auch oder vor allem ein Reich der Lebenden“ war (S. 295). Nicht der Kirchhof steht im Mittelpunkt von Thomas Spohns Beitrag, sondern „Bezüge zwischen Kirchhof und Pfarrhof“ im 18. und 19. Jahrhundert, wobei die Beobachtungen sich speziell auf das Sauerland und Münsterland konzentrieren (S. 329-340). Die folgenden beiden Beiträge sind einzelnen Kirchhöfen gewidmet. Während „Der Kirchhof in Herzebrock“ (S. 341-367) von Jochen Ossenbrink unter bauhistorischen, rechts- und sozialgeschichtlichen Mikroperspektiven untersucht wird, gewährt Philipp Dotschev unter der Überschrift „Spieker, Schweinestall und Simultaneum. Sozialtopographie und Raumwahrnehmung des Kirchhofs von Badbergen um 1800“ (S. 369-388) erste Einblicke in sein Dissertationsprojekt, in dem es um „simultan genutzte Friedhöfe im Osnabrücker Land“ geht (S. 369, Anm.2). Vor dem speziellen Hintergrund des Simultaneums werden im Falle des Badbergener Kirchhofs konkurrierende Interessen und Nutzungsansprüche untersucht. Unterschieden wird nicht nur zwischen dem Kirchof als Raum der Lebenden, der um 1800 das Bild eines Armenquartiers geboten habe, und jenem Raum der Toten, in dessen „sozialdistinktive(r) Grabtopographie“ sich die Gesellschaftsordnung des Kirchspiels widerspiegelte (S. 387), sondern auch zwischen dem Raum des Klerus und dem Raum der Gemeinde.

Der abschließende, als „Ausblick“ konzipierte Teil bietet unter der Überschrift „Heilig und Profan. Der Kirchhof als Ort symbolischer Kommunikation“ (S. 391-411), eine von Jan Brademann und Werner Freitag verfasste Forschungsskizze, in der es auf der Grundlage neuester Forschungsansätze noch einmal um „heilig“ und „profan“ geht, jene beiden Pole gesellschaftlicher Ordnung, die auf dem Kirchhof aufeinander trafen und in einem Konkurrenzkampf miteinander standen, „der jedoch im konfessionellen Zeitalter nicht mehr sich selbst überlassen wurde: Die Agenten der Reform, die Pfarrer und schließlich die Gemeinden selbst griffen auf Seiten der Sakralität in ihn ein“ (S. 407).

Skizzen ist es eigen, dass sie Umrisse aufzeigen und sich mit Andeutungen begnügen, in diesem Falle bleibt jedoch zu überlegen, ob der eine oder andere Satz am Ende dieses ansonsten äußerst innovativen Aufsatzbandes nicht doch etwas zu dynamisch ausgefallen ist auf Kosten sprachlicher und inhaltlicher Klarheit.

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