C. Rohr: Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum

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Titel
Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit


Autor(en)
Rohr, Christian
Reihe
Umwelthistorische Forschungen 4
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
Preis
69,90 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ronny Cammin, Potsdam

Rohr betont in seiner an der Universität Salzburg angenommenen und für den Druck geringfügig überarbeiteten Habilitationsschrift die Notwendigkeit eines kulturhistorischen Ansatzes bei der Bearbeitung des Themas Naturkatastrophen, der sich der Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung extremer Naturereignisse im Spiegel ihrer Weitervermittlung, also in der schriftlichen oder bildlichen Überlieferung widmet (S. 14).

Die auf einen Längsschnitt ausgerichtete Untersuchung fragt hierbei sowohl nach den Folgen des entstehenden Humanismus und der konfessionellen Auseinandersetzungen nach 1500 als auch nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Umgang mit Naturkatastrophen im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit (S. 15).

Insbesondere prüft der Autor durch einen Vergleich von verschiedenen, als Katastrophe empfundenen Naturereignissen die Annahme, im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit habe ein Denken und Handeln ohne biblischen und kirchlichen Einfluss kaum stattfinden können. Die von ihm erarbeiteten Wahrnehmungs-, Deutungs- und Bewältigungsmuster bilden dabei einen Gradmesser, der auch die unterschiedliche Intensität des religiösen Bezugs abbildet.

Weiterhin wendet sich der Verfasser durch die Untersuchung verschiedener Naturgewalten der unterschiedlichen Machbarkeit und Anwendung von Erfahrungen zu. Der Vergleich der typisierten Naturereignisse führt schließlich zu der Kernfrage nach den Ursachen für Katastrophenwahrnehmungen in der Vergangenheit (S. 16f.). Der Verfasser geht hierbei nicht nur stellenweise auf naturwissenschaftliche Grundlagen ein, sondern weist auch auf den Mangel an übergreifenden Studien zum Mittelalter hin (S. 18-49). Er vermutet, dass näher zu untersuchende regionale Unterschiede zur Bewältigung extremer Naturereignisse existierten (S.16).

Die Geschichte von Naturkatastrophen definiert der Verfasser als eine, die nur mittelbar in historischen Wahrnehmungen, Deutungen und Bewältigungen durch den Menschen bearbeitet werden kann. Dabei begrenzt er den mentalitätsgeschichtlichen Zugang für das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit auf einen maximal mentalitätsbezogenen Ansatz, da die relativ schlechte Quellenlage keine vollständige Rekonstruktion der subjektiven Sichtweise der Zeitgenossen ermögliche. Die Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung werden dabei als Hauptkriterien für einen kulturhistorisch basierten Zugang zur Untersuchung von Naturkatastrophen festgelegt. Die Aufschlüsselung der Vielschichtigkeit entsprechender Muster macht der Verfasser zu seinem zentralen Anliegen (S. 50-53). Außerdem modifiziert er das System, mit dem Rolf Sprandel das Verhältnis des Menschen zur Natur im Allgemeinen beschrieben hat,1 für die Analyse extremer Naturereignisse (S. 54f.).

Methodisch analysiert Rohr die von ihm in Gruppen zusammengestellten Quellengattungen zu historischen Naturkatastrophen, wobei die Bedeutung von Kontextualisierung und vergleichender Quellenkritik hervortritt. So empfiehlt er die Untersuchung der Intention mit Hilfe des Schemas von Friedemann Schulz von Thun.2 Besonders eingehend widmet sich der Verfasser der auftretenden Topik, indem er Elemente benennt, die gemeinsam als ein Indikator für nichtalltägliche Naturereignisse dienen, und Zahlenübertreibungen typisiert (S.69-95).
Die Vorstellung der einzelnen Naturkatastrophen wird durch eine Analyse der Erdbeben im Ostalpenraum eingeleitet. Nach einem Abriss für das 13. bis 16. Jahrhundert befasst sich der Autor ausführlich mit den historischen Beben von 1348 in Friaul/Kärnten und 1590 im Wienerwald. Dabei erscheint die „Strafe Gottes“ als ein im Mittelalter nur selten vorfindliches Deutungsmuster, für die Frühe Neuzeit hingegen als durchgängige Interpretation (S. 105-179).

Die Bewegung von Gesteinsmassen behandelt Rohr mit Blick auf den größten bekannten derartigen Fall, den Bergsturz des Dobratsch von 1348. Außerdem widmet er sich für die Zeit zwischen 1200 und 1600 in einer Zusammenschau den Massenbewegungen in Nord- und Südtirol sowie im Raum Salzburg, wozu auch Hangrutschungen und Steinschlag gehörten. Diese nur selten in den Quellen thematisierten Naturereignisse erfahren Rohr zufolge an keiner Stelle eine religiöse Deutung (S. 180-200).

Überschwemmungen, die im Ostalpenraum häufigste Naturkatastophe, bedenkt Rohr auf den Grundlagen von Klimageschichte und Hydrologie mit einer eigenen kulturgeschichtlichen Klassifikation und zwei eigens entwickelten Typologien. Das besondere Merkmal der Vorbereitung (gemeint ist Vorbereitetsein) in den von Überflutungen geprägten Kulturen erschließt der Verfasser anhand einer speziellen wirtschaftshistorisch-seriellen Quelle. Die „Welser Bruckamtsrechnungen“, die er seinen Untersuchungen an dieser Stelle zu Grunde legt, bilden den seltenen Fall einer Überlieferung, die der Vorsorge der Menschen Ausdruck verleiht (S. 201-398).
Lawinen, die trotz realer Häufigkeit in den Quellen nur selten greifbar sind, untersucht Rohr anhand von Berichten zu Alpenüberquerungen. Zur Klärung dieser Naturereignisse wurde naturkundliches Wissen, vor allem aber Erfahrung genutzt (S. 399-420).

Extreme Witterungen, vor allem Hagel und Gewitter, deuteten die Menschen des ausgehenden Mittelalters zunehmend als so genannten “Wetterzauber”, dem sie mit Kriminalisierung und Hexenprozessen begegneten. Hitze und Dürre, Kälte und Frost, aber auch Starkwinde wurden hingegen nicht mit religiösen Deutungsmustern belegt (S. 421-452).

Den Tierplagen widmet sich Rohr vor allem am Beispiel der Heuschreckenschwärme, die sich aufgrund der starken biblischen Konnotationen häufig in den Quellen finden. Der religiöse Symbolgehalt beeinflusste die Wahrnehmung dieser Naturereignisse stärker, als dies dem tatsächlich durch Heuschreckenschwärme entstandenen Schaden entsprochen hätte. Entsprechend untersucht der Verfasser zuerst die Tierplagen der Bibel, um sich dann der rechtlichen bzw. kirchenrechtlichen Bewältigung in Form von Tierprozessen und -bannungen zuzuwenden, die mit dem Ende des Mittelalters vor allem für den Alpenraum und Westeuropa eine eigentümliche Ausweitung erfuhren (S. 453-516).

Da astronomische Phänomene im untersuchten Zeitraum auch mit Blick auf die Bibel häufig als astrologische Naturkatastrophen wahrgenommen wurden, nimmt Rohr diese zu Recht mit in den Kreis seiner Extremereignisse auf. Für die durch spätantike und frühmittelalterliche Gelehrte noch genauer als in der Bibel gedeuteten Himmelserscheinungen, denen auch in Annalen und Chroniken eine starke Aufmerksamkeit widerfuhr, entwickelt er eine exemplarische Typologie. Der hohe Stellenwert der Astrologie im 16. Jahrhundert wird mit dem intensiven Glauben italienischer Humanisten an Vorzeichen begründet (S. 517-546).

Ein zentrales Ergebnis der Arbeit ist die systematische Differenzierung hinsichtlich der Übernahme religiöser Deutungsmuster. So stellt Rohr fest, dass - entgegen der in der frühneuzeitlichen Forschung geübten Rückprojektion - von einer im Vergleich zum 16. Jahrhundert geringeren religiösen Beeinflussung der Deutungsmuster im späten Mittelalter ausgegangen werden muss. Eine gewisse Ausnahme von dieser Regel bilde allein die bereits im Mittelalter vereinzelt zu beobachtende Übernahme von Gottesstrafen-Interpretationen aus Italien (S. 547-553).

Der kulturgeschichtliche Ansatz Rohrs hebt sich von der Masse der naturwissenschaftlich orientierten historischen Untersuchungen zu Umweltthemen ab. Holger Sonnabend entwickelte etwa für die Antike eine ähnliche Fragestellung,3 einen differenzierteren Ansatz bietet auch der Sammelband zu Stadtzerstörung und Wiederaufbau, der jedoch vornehmlich auf die Risikoforschung ausgerichtet ist.4 Aufgrund der zeitlichen räumlichen und thematischen Begrenzung kann Rohr seinen Untersuchungsgegenstand präziser behandeln als manche anderen Autoren5. Mit Blick auf die Bedeutung religiöser Konnotationen erweist sich der gewählte Zeitraum als besonders interessant, denn es stellt sich die Frage, ob Rohrs Befund über den gewählten Untersuchungsraum hinaus verallgemeinerbar ist. Die Entscheidung für den Ostalpenraum schließt im Übrigen gerade für die Quellenlage eine Lücke, die noch bei Lamb augenfällig ist.6 Rohrs Befund bezüglich der Zunahme von Wetterzauber-Hexenprozessen ist für den Untersuchungsraum von Bedeutung, wird doch ein Zusammenhang mit Klimaveränderungen von der entsprechenden Spezialforschung meist ausgeschlossen.7

Trotz kleinerer Redundanzen, trotz mancher erzählender Teile, die auch kürzer zu fassen gewesen wären, und trotz zuweilen mangelnder Sorgfalt bei der quellenkritischen Bearbeitung (erinnert sei nur an den nicht immer hinreichend geklärten Zusammenhang zwischen Berichtszeitpunkt, Quellengattung und Informationsstand des jeweiligen „Zeitzeugen“) erweist sich der kulturgeschichtliche Ansatz von Rohrs Studie als deutlicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Forschung. Entgegen der communis opinio der bisherigen Forschung erfolgten zum einen die Deutungen von Naturkatastrophen im späten Mittelalter zumindest im Ostalpenraum nicht mehr bevorzugt im Kontext religiöser Vorstellungen, zum anderen hielt magisches Denken offenkundig erst in der frühen Neuzeit breiteren Einzug. Dieses wird zu berücksichtigen bleiben, wenn man sich künftig mit Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung von Naturkatastrophen durch den Menschen auseinandersetzt.

Anmerkungen:
1 Rolf Sprandel, Mentalitäten und Systeme. Neue Zugänge zur mittelalterlichen Geschichte, Stuttgart 1972, S. 24-35 u. 57-74.
2 Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden, Bd. 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 13-16.
3 Der größere zeitliche Rahmen findet aber seinen Ausgleich in einer kleineren thematischen Varianz und einem anderen Aufbau; vgl. Holger Sonnabend, Naturkatastrophen in der Antike. Wahrnehmung, Deutung, Management, Stuttgart 1999.
4 Martin Körner, Stadtzerstörung und Wiederaufbau. Thema, Forschungsstand, Fragestellung und Zwischenbilanz, in: Nikolaus Bartlomé u.a. (Hrsg.): Stadtzerstörung und Wiederaufbau. Zerstörung durch Erdbeben, Feuer und Wasser. Destruction and Reconstruction of Towns. Destruction by Earthquakes, Fire and Water. Bd. 1, Bern 1999, S. 7-43.
5 Kay Peter Jankrift, Brände, Stürme, Hungersnöte. Katastrophen in der mittelalterlichen Lebenswelt, Ostfildern 2003.
6 Hubert H. Lamb, Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Reinbek 1994, S. 214-227 u. 234-239.
7 Gabriela Schwarz-Zanetti, Grundzüge der Klima- und Umweltgeschichte des Hoch- und Spätmittelalters in Mitteleuropa, Zürich 1998, S. 50.

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