Titel
Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR


Autor(en)
Merkel, Ina
Erschienen
Köln u.a. 1999: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für Neue Politische Literatur und H-Soz-u-Kult von:
Ulrich Kurzer

Mit ihrer im letzten Jahr vorgelegten Untersuchung der "Konsumkultur" der DDR hat Ina Merkel einen lesenswerten und wichtigen Beitrag zur DDR-Geschichte vorgelegt, in dem Aspekte der Gesellschaftsgeschichte und der Alltagsgeschichte verknüpft werden. Deutlich wird, daß der Zusammenhalt dieser Gesellschaft über viele Jahre eben auch deshalb möglich war, weil es innerhalb dieser Gesellschaft tatsächlich "grundsätzliche Übereinstimmungen über Ziele und Ideale gab" (S. 34).

Am Anfang steht mit dem ersten Teil "Produktion und Bedürfnis" die Untersuchung der ökonomischen Voraussetzungen der Nahrungsmittelproduktion und der Herstellung von Konsumgütern sowie der zwischen Bevölkerung und Staats- und Parteiführung geführte Diskurs in der Versorgungsfrage oder dem Konsumgüterbereich. Im zweiten Teil "Handeln und Verteilen" untersucht Merkel die aus der sich nie gänzlich ungestört vollziehenden Bereitstellung der Waren resultierenden "ästhetische[n] Besonderheiten der Präsentation von Waren und des Verkaufens als auch spezifische Verteilungsformen." In "Gebrauch und Bedeutung" als drittem Teil wird die Konsumtion in ihrem Wandel nachgezeichnet und analysiert. Den Abschluß dieses Teils bilden Überlegungen hinsichtlich der Existenz oder des Nachweises eines Konsumverhaltens, das als DDR-spezifisch bezeichnet werden kann. Hat man die Untersuchung bis zum diesem Teil durchgearbeitet, so findet man hier im O-Ton der im Rückblick geführten Interviews mit Zeitzeugen eine Vielzahl von Äußerungen, die sich im Grundtenor mit den aus Merkels Analyse bekannten Sachverhalten decken. Angesichts der fehlenden Repräsentativität ist hinsichtlich verallgemeinerbarer Schlußfolgerungen Vorsicht geboten.

Neben dieser Gliederung wird in der Studie die Frage nach der Herausbildung und Existenz der DDR-Konsumkultur aus drei Perspektiven verfolgt: Utopie, Konsumpolitik und die Praxen des Konsumierens aus der Sicht der Verbraucher. Konsumkultur ist hierbei "das widersprüchliche Verhältnis von Konsumpolitik - sowohl als wirtschaftspolitische Strategie wie auch als ideologischer oder kultureller Wertehorizont oder sogar als Erziehungsimpetus gefaßt - und Konsumverhalten - begriffen als individuelle Aneignungsweise, in der der Zusammenhang von sozialer Lage, Tradition und Mentalität aufscheint. (...) Konsumkultur umfaßt die Formen des Erwerbs von Gegenständen ebenso wie ihren praktisch-aneignenden und symbolisch-kommunikativen Gebrauch." (S. 27/28, Hervorh. i.O.)

Angesichts der seit 1989/90 erschienenen Forschungsliteratur zur DDR, die oft, und viel zu oft (ob ausgewiesen oder nicht), die Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft als Folie einführt, an der die Entwicklung in der DDR gemessen wird oder gemessen werden soll, unternimmt Merkel über den Begriff der "Konsumkultur" überzeugend eine notwendige Abgrenzung von der westdeutschen Entwicklung. Diese ist mit dem Begriff der "Konsumgesellschaft" so eng verbunden, daß eine Untersuchung von Konsumpolitik und Konsumverhalten in der DDR aus diesem Blickwinkel der ostdeutschen Entwicklung nur das westliche Modell überzustülpen vermag, die Besonderheiten der Herausbildung und Existenz DDR-spezifischer Konsumumstände und -gewohnheiten nicht angemessen herauszufinden vermag. Indem im Zugang der "Konsumgesellschaft" der Aspekt des Erwerbens (und seiner beinahe unbegrenzten individuellen Realisierungschancen) in den Mittelpunkt bei der "Beurteilung eines Gesellschaftstyps genommen und unzulässig verallgemeinert" (S. 24) wird, bleibt für davon abweichende Gesellschaften nur noch das Label der "Mangelgesellschaft". Und damit ist, wie Merkel zutreffend feststellt, "schon der Ausgangspunkt falsch gewählt, er hilft zu polarisieren, nicht aber nach kulturellen Unterschieden zu fragen." (S. 11)

So entwickelt Merkel unter Ausbreitung der erkenntnisleitenden Fragestellung den roten Faden der Untersuchung, in der "der Versuch unternommen [wird], einen Zugang zur Darstellung und Erklärung des Alltagslebens und kultureller Lebensmuster in der DDR zu finden, in dem nicht von vornherein davon ausgegangen wird, daß die Prägungen des Systems und der politischen Ereignisse übermächtig waren. Es ist der Versuch, die individuellen Subjekte, ihre Sehnsüchte, ihre Wertvorstellungen und Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund objektiver Bedingungen auszuloten" (S. 34) und auf gesellschaftliche Übereinstimmung zwischen Partei- und Staatsführung und der Bevölkerung hinzuweisen, weil auf diese Weise nicht nur erklärt werden kann, was den "inneren Kitt" ausmacht, "der diese Gesellschaft so viele Jahre zusammenhielt" (S. 13), sondern ebenfalls, warum "der Versuch einer Gegenmoderne mit alternativen Vorstellungen von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung" (S. 415) schließlich scheiterte.

Im Mittelpunkt von "Utopie und Bedürfnis" stehen die Jahre zwischen 1958 und 1972 und damit der Zeitraum, in dem sich in der DDR nach dem Ende der Rationierung ein nachhaltiger Modernisierungsschub vollzog, der zugleich aber immer auch von Versorgungsstörungen begleitet war. Staats- und Parteiführung erhoben "den Anspruch zu wissen, was die Bevölkerung zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse braucht, was das Notwendige sei." (S. 88) Doch weder vermochte diese paternalistische Politik, den allmählichen Wandel im Konsumverhalten "von der Lebenserhaltung zur Lebensgestaltung" (S. 329) aufzuhalten, noch war sie selber konsequent in der Verwirklichung ihres eigenen Gleichheits- bzw. Gerechtigkeitsideals. Schon 1948 begann mit der Einführung des doppelten Preissystems durch die Errichtung der HO-Läden eine "Politik der zwei Warenklassen" (S. 248). Die Eröffnung der Exquisitläden (1962) und Delikatgeschäfte (1966) führte zu einer "Ausdifferenzierung der Lebensqualität einzelner Bevölkerungsschichten nach dem Einkommen" (S. 267), während es durch den Geschenkdienst Genex und die Intershops "in letzter Konsequenz zu einer Teilung der DDR-Bürger nach Westgeldbesitz" (S. 243) kam.

Gewagt erscheint die 'These', daß, abgesehen von Studenten und Altersrentnern, "sich die DDR offenbar tatsächlich als eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft dar[stellt], mit der Arbeiterschaft am unteren Ende der Einkommensskala." (S. 333) Ohne Not wird mit der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" ein Begriff für die Beschreibung der DDR-Wirklichkeit eingeführt, der im Kontext der westdeutschen Gesellschaft verortet ist. Bedenken in dieser Richtung sind ferner anzumelden, wenn die gegenüber dem normalen Einzelhandel von Merkel herausgearbeiteten geltenden ökonomischen "Prinzipien der Rentabilität der Produktion" in den Delikatgeschäften und Exquisitläden "trotz fehlender Konkurrenz" als "marktwirtschaftliche" etikettiert werden. (S. 276)

In der Konsequenz kam es durch die Politik der zwei Warenklassen zu einer doppelten Benachteiligung der Bevölkerungsschichten mit niedrigem Einkommen. Zum einen vermochten sie kaum oder gar nicht, im Delikat und Exiqusit einzukaufen, und zum anderen verschlechterte sich das Angebot im normalen Einzelhandel sowohl hinsichtlich der Qualität als auch in Bezug auf die angebotene Menge. Einen anderen Weg in der Konsumpolitik hatte sich die Partei- und Staatsführung schon frühzeitig verstellt, als bei der Aufhebung der Rationierung im Jahr 1958 die Chance ungenutzt blieb, "das Preissystem insgesamt einer Revision zu unterziehen." (S. 49) So blieben auch in der Folgezeit die mit zunehmend höherem finanziellen Aufwand subventionierten niedrigen Preise etwa für den Grundbedarf an Nahrungsmitteln, Mieten und Kinderbekleidung bestehen, während andererseits "schleichende und bewußt hervorgerufene Preiserhöhungen" die "Preisrealität in der DDR" (S. 59) ausmachten.

Neben den konsumpolitischen Vorstellungen (Utopien) der Partei- und Staatsführung und ihrer widersprüchlichen Umsetzung behandelt Merkel ausführlich beider Auswirkungen auf den alltäglichen Konsum der DDR-Bevölkerung. Gerade für jene, die "nie vorm Konsum Schlange standen[en]" (S. 180), bieten diese Ausführungen ein detailliert und sensibel gezeichnetes Bild der Lebensweise im DDR-Sozialismus, ohne einer sentimentalen Verklärung aufzusitzen. Skeptisch bin ich allerdings bezüglich der von Merkel im Schlußwort angestellten Überlegung: "Die Lösungen, die [in der DDR] gerade im Bezug auf gesellschaftliche Formen der Konsumtion gefunden wurden - Verkehr, Kindererziehung, Bildung, Wohnen und Kultur -, mögen aufgrund ihrer schlechten materiellen Ausstattung nicht in jedem Fall überzeugt haben, sie stellen jedoch auch für heutige Gesellschaften bedenkenswerte Alternativen dar." (S. 416) So schön das wäre, mit der Gegenwart hat es nur noch wenig zu tun.

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Rezension hervorgegangen aus der Kooperation mit der Zeitschrift Neue Politische Literatur (NPL), Darmstadt (Redaktionelle Betreuung: Simone Gruen). http://www.ifs.tu-darmstadt.de/npl/
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