C. Mauch u.a. (Hrsg.): Wettlauf um die Moderne

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Titel
Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute. Mit einem Nachwort von Joschka Fischer


Herausgeber
Mauch, Christof; Patel, Kiran Klaus
Erschienen
München 2008: Pantheon Verlag
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 16,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anselm Doering-Manteuffel, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Heute spricht man kaum noch von Modernisierung, wenn es um die gesellschaftliche und politökonomische Entwicklung im 20. Jahrhundert geht, zumal in dessen zweiter Hälfte. Seit dem Übergang von den 1980er-Jahren in die 1990er trat der Zustandsbegriff „Moderne“ an die Stelle des Verlaufsbegriffs „Modernisierung“. Darin schlug sich die Zeiterfahrung einer immer weiter zunehmenden Beschleunigung nieder, die von der wachsenden Dynamik des marktradikalen Neoliberalismus erzeugt wurde. Und es äußerte sich darin die Wahrnehmung, dass die sozialplanerische Gestaltung von Zukunft, die dem Verständnis von Modernisierung zugrunde lag, ins Leere ging. Der beschleunigte Wandel im Zeitalter des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus seit etwa 1990 ließ Planungen obsolet werden, weil deren Zukunftsvorstellungen oftmals schon überholt waren, wenn die geplante Zukunft Gegenwart wurde. Was aber war die Moderne? Sie verbürgte und repräsentierte nicht nur den Fortschritt, nicht nur das Voranschreiten der Menschheit zum Besseren, Höheren. Vielmehr nahmen die Zeitgenossen am Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt die Schattenseiten der Moderne wahr und richteten den Blick auf die Kosten von Modernisierung. Nicht nur die Menschheitskatastrophen beider Weltkriege, des Holocaust und der vielen Genozide seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern der gnadenlose Verschleiß von Menschen und Natur im Zuge wirtschaftlich bedingter Migration und Umweltzerstörung ließen die Moderne reflexiv werden. Die Folgen von Modernisierung waren durch immer weiter gehende Modernisierung nicht mehr zu bewältigen.

Zu den dynamischsten Protagonisten im Modernisierungsgeschehen des 20. Jahrhunderts gehörten die beiden Industriestaaten USA und Deutschland. Das ist der eine Grund, der einen systematischen Vergleich der Entwicklung in beiden Ländern lohnend macht. Der andere Grund besteht darin, dass Ähnlichkeit und Fremdheit deutlich ausgeprägt sind und das Nachdenken über die Gründe immer aufs Neue herausfordern. Fremdheit und gegenseitige Ablehnung wurden zuletzt in der Anbahnung des Irakkriegs artikuliert, als Donald Rumsfeld verächtlich vom „alten Europa“ sprach, mit dem die USA angesichts einer als „schlaff“ denunzierten Konfliktresistenz nichts mehr anfangen könnten, und als die Deutschen sich in aller Fassungslosigkeit über den amerikanischen Unilateralismus von den USA distanzierten. Aus dieser doppelten Wahrnehmung einer Staaten und Kontinente übergreifenden Krise der Moderne sowie der schnellen Entfremdung zwischen den USA und Deutschland (und den etablierten kontinentaleuropäischen Bündnispartnern Amerikas) ist der vorliegende Sammelband entstanden.

Er greift einen neuen, vielversprechenden Ansatz auf, der inzwischen mehrfach praktiziert wird und in themenbezogenen Essays zwei Autoren mit dem jeweils spezifischen Blickwinkel von der einen und der anderen Seite her zusammenspannt. Der zeitliche Bogen reicht von der Epoche der Hochindustrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Phase des Postindustrialismus am Ende des 20. Jahrhunderts. In diesem Rahmen werden die wichtigsten Themenfelder von der Politik über die Wirtschaft bis zur facettenreichen Trias von Glauben, Wissen und Handeln angesprochen. Alle Essays lesen sich gut – nicht nur weil sie flüssig geschrieben, sondern weil sie informativ und anregend sind. Über die imperiale Dimension amerikanischer und deutscher (Außen-)Politik schreiben Thomas Bender und Michael Geyer. Religion, Glaube und Kirche behandeln Simone Lässig und Rainer Prätorius. Dem Naturschutz und Raubbau an der Umwelt widmen sich Christof Mauch und Kiran Klaus Patel. Den Problemkreis von Migration behandeln unter dem wichtigen Aspekt der Einwanderung Tobias Brinkmann und Annemarie Sammartino. Über Verfassung und Verfassungswirklichkeit schreiben Manfred Berg und Dieter Gosewinkel. Die Wirtschaft wird mit Blick auf Konsum und Kommerz (Heinz-Gerhard Haupt und Paul Nolte) sowie auf den Sozialstaat einbezogen (Daniel Letwin und Gabriele Metzler), nicht aber mit Blick auf die Industriesysteme und deren Wandel. Das Kapitel über „Wissen – Universität und Forschung“ (Kathryn M. Olesko und Christoph Strupp) kann diese Leerstelle nur bedingt ausgleichen.

Die kulturell tief reichenden Themen der Disziplinierung (Schule und Militär: Dirk Schumann und Judith Sealander) sowie der Geschlechterbeziehungen (Zwänge und Chancen: Eileen Boris und Christiane Eifert) zeigen zum einen die kaum überwindbaren Unterschiede zwischen einer in religiösem Individualismus und politischem Freiheitsverständnis wurzelnden Marktgesellschaft und einer von staatlicher Obrigkeit, Fürsorge und Vormundschaftsanspruch des Staats und der Kirchen geformten Gesellschaft mit handwerklich-zünftischer Tradition, für die der „Markt“ ein ganz anders geartetes Bezugssystem für ökonomisches Interesse, Gewinnstreben und Wirtschaftsethik darstellte. Deutlich wird zum anderen, in welchem Ausmaß die sozialkulturellen Trends in den Epochen des 20. Jahrhunderts (vor und nach 1914/18, zwischen 1930 und 1960, seit 1960/70 bis zur Gegenwart) auch die Norm der Kleinfamilie geprägt haben, vor deren Folie dann jede alternative Entwicklung als Abweichlertum aufgefasst werden konnte. Im geschlechtergeschichtlichen Essay von Eileen Boris und Christiane Eifert, einem der besten des Bandes, wird der Bogen von den Unterschieden im sozialen Status zwischen Frauen des Mittelstands hüben und drüben bis zu Hinweisen auf die Uneindeutigkeit von Geschlecht in der Moderne der Gegenwart gezogen. Das Phänomen kurzzeitiger Partnerschaften in den Jahren nach 1945 zwischen farbigen Amerikanern und deutschen „frauleins“ behandeln die Autorinnen mit sachlicher Präzision und unaufdringlicher Empathie, die als vorbildlich einzustufen ist.

Die Essays über Massen (Mobilisierung und Partizipation: W. Fitzhugh Brundage und Konrad H. Jarausch), Unterhaltung (Populärkultur und Film: Edward Dimendberg und Anton Kaes) sowie die Medien (Manipulation und Markt: Philipp Gassert und Christina von Hodenberg) gelten denjenigen Themenfeldern, auf denen das Phänomen der Amerikanisierung, des Kulturtransfers vom einen Land in das andere, scheinbar am augenfälligsten ist. Dennoch wird erkennbar, in wie hohem Maß der deutsch-amerikanische „Wettlauf um die Moderne“ in einen kursierenden Austausch von Einflüssen, Techniken, Verhaltensweisen und Ansprüchen eingebunden war, der es weitgehend verbietet, plakativ von Amerikanisierung zu reden – zumindest solange, wie die Phänomene eines kreislaufartigen Kulturaustauschs nicht angesprochen worden sind.

Die Bedeutung von Zweiseitigkeit für die historische Analyse, die durch den Vergleich markant akzentuiert wird, zeigen Christof Mauch und Kiran Klaus Patel eindrücklich am Beispiel des Naturschutzes und des Missbrauchs der natürlichen Ressourcen. Deren Widersprüchlichkeit verweist mehr als vieles andere auf die Ambivalenzen der Moderne, um die es in diesem Buch mindestens ebenso geht wie um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen zwei Industriestaaten und deren Gesellschaften. Die auffallenden Parallelen, welche die Autoren in beiden Ländern bei der Gleichzeitigkeit von Ausbeutung der Natur und ihrer selektiven Bewahrung diagnostizieren und in „transatlantischen Lernprozessen im Natur- und Umweltschutz“ manifestiert sehen, zeigen deutlich, dass es ein simples „Wir und die anderen“ nicht geben kann. Schließlich wissen wir seit langem, dass der landläufige Antiamerikanismus nichts anderes ist als der Ausdruck einer systemischen Verwandtschaft, in der die Gegensätze eine ebenso konfliktträchtige wie höchst produktive Rolle spielen.

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