Cover
Titel
Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Leendertz, Ariane
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 7
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Kuchenbuch, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Ariane Leendertz’ Tübinger Dissertation befasst sich mit der deutschen Raumplanung im 20. Jahrhundert. Sie lässt sich aber auch als Fallstudie zur Erforschung eines weit größeren Gegenstands lesen, nämlich von Ordnungsdenken, Expertenwissen und Planung in der Moderne sowie als Beitrag zur Beleuchtung von „Raumbezügen“ und „Territorialität“ in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.1 Die Raumplanung, so Leendertz’ Befund, ist ein tragischer Fall, denn kaum war nach vielen Anlaufversuchen Ende der 1960er-Jahre ihr wichtigstes Ziel erreicht – die Verankerung ihrer Expertise auf Gesetzesebene –, verlor sie bald wieder an Bedeutung, bedingt durch veränderte ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen.

Die Autorin versteht ihre Arbeit als Beispiel für eine erneuerte Ideengeschichte, wobei deren Innovationspotenzial in der Analyse der „Konkretion“ von Ideen gesehen wird, also in der Berücksichtigung von Institutionalisierungs- und Professionalisierungsvorgängen, der „Verdichtung“ von Ideen in „Diskursen und Denksystemen“ sowie ihrer „Verwirklichung“ auf administrativer und politischer Ebene. Einbezogen werden sollen „sozialgeschichtliche sowie kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven“ (S. 14f.). Angesichts dieses umfangreichen Vorhabens verwundert es nicht, dass Leendertz sich zu einem methodischen Eklektizismus bekennt, der nach meinem Eindruck manchmal zu weit geht, etwa wenn der „Zeitgeist“ als Erklärungsmodell herangezogen wird (S. 75).

Die überwiegend chronologisch angelegte Arbeit fokussiert das Verhältnis von Bruch und Kontinuität raumplanerischer Institutionen und Zielvorstellungen in Wechselwirkung mit politischen Legitimationsstrategien und Umdeutungsvorgängen. Detailreich und entlang zeitgenössischer Publikationen beleuchtet sie zunächst die Formierungsphase der Raumplanung bis 1935. In der Weimarer Republik mündeten kultur- und großstadtkritische Diskurse in Versuchen, der „Ballung“ beizukommen. Es entstanden Landesplanungseinrichtungen (etwa 1920 der „Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk“), die sich als Clearinginstitute zur Aushandlung privatwirtschaftlicher und politischer Interessen verstanden. Schon in dieser Frühphase war der Raumplanung ein Spannungsverhältnis zwischen „Zivilisationskritik und Fortschrittsoptimismus“ eingeschrieben (S. 27), das, so Leendertz, erst in den 1960er-Jahren einer pluralistischen Weltsicht wich. Nach der Weltwirtschaftskrise verschärften sich die Krisendiagnosen der „Raumordnung“, wie sie nun bezeichnet wurde. Zunehmend rückte sie mit ihrer Forderung nach einer reichsweiten Strukturpolitik und mit der Befürwortung agrarisch geprägter Siedlungskonzepte in die Nähe nationalsozialistischer Programme. Tatsächlich etablierten sich nach 1933 überregionale Institutionen, die ihre Expertise den Zielen der Nationalsozialisten anpassten. Zwar konkurrierten die „Reichsstelle für Raumordnung“ (RfR) und die „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ (RAG) mit einer Reihe anderer Institutionen, doch gelang es insbesondere Konrad Meyer, raumplanerische Überlegungen im „Altreich“ und in den besetzten Ostgebieten zur Geltung zu bringen, darunter im „Generalplan Ost“.

Manche Paradigmen reichten über 1945 hinaus – etwa die Idee der „Tragfähigkeit“ oder Walter Christallers Theorie der „zentralen Orte“. Überzeugend stellt Leendertz den widerspruchsvollen Übergang der Raumplanung in die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik dar: Dieser war gekennzeichnet vom Druck zur Anpassung an die soziale Marktwirtschaft einerseits, von personellen Kontinuitäten andererseits, wie sie sich im „Institut für Raumforschung“ (IfR) in Bad Godesberg und in der „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ (ARL) in Hannover niederschlugen. In den planungsbegeisterten 1960er-Jahren2 stieg die Raumplanung zum Regierungsinstrument für die Herstellung grundgesetzlich garantierter „gleichwertiger Lebensbedingungen“ auf. Doch bereits kurz nach der Ankündigung eines Bundesraumordnungsprogramms durch die sozialliberale Regierung 1969 galt die Raumplanung vor dem Hintergrund struktureller Veränderungen – Stagnation des Wirtschaftswachstums Mitte der 1970er-Jahre, Partizipationsforderungen usw. – als veraltet.

Leendertz verdeutlicht, dass die Raumplanung trotz ihrer Fähigkeit zur Anpassung an verschiedene politische Kontexte, die sich auch im Changieren ihrer Selbstbeschreibung zwischen politischer Wissenschaft und neutraler Sacharbeit zeigte, lange an weitgehend unveränderten Krisendiagnosen und Lösungskonzepten festhielt. Bis in die 1970er-Jahre lautete der Anspruch, gesellschaftliche Dynamiken im Raum zu ordnen und zu harmonisieren. Kennzeichnend war dabei eine antiliberale Haltung, die auf die Herstellung einer homogenen „Volks-“ oder „Leistungsgemeinschaft“ abzielte. Leendertz stützt also neuere Periodisierungsvorschläge der Zeitgeschichtsforschung, die erst in den 1970er-Jahren entscheidende Trendwenden der deutschen und internationalen Geschichte ausmachen.3 Das Buch ist nicht nur als Disziplingeschichte interessant; es beschreibt am Beispiel der Raumplanung die Koinzidenz starker politischer Veränderungen im 20. Jahrhundert mit der longue durée von Denkkategorien und Handlungsdispositionen, deren Ursprünge im 19. Jahrhundert zu suchen sind. Einmal mehr belegt es zudem die berufsbiografischen Kontinuitäten deutscher Deutungs- und Funktionseliten über 1945 hinaus.

Zwei Aspekte seien kritisch angemerkt. Erstens: Leendertz’ Ergebnisse sind stark dem gewählten nationalgeschichtlichen Zugang geschuldet. Viele der Topoi, die sie behandelt – der „unorganische“ Zustand von Wirtschaft, Raum und Bevölkerung, das „Chaos“ des „Liberalismus“ – wurden aber auch in anderen Ländern diskutiert. Hinweise auf internationale Äquivalente fehlen weitgehend, und auch die Frage, inwieweit deutsche Planer in ein transnationales Expertennetz eingebunden waren, wird nicht thematisiert. Zwar verspricht die Studie keineswegs, Aussagen über den deutschen Fall hinaus zu machen. Angesichts der Tatsache, dass ihr übergeordnete Kategorisierungsversuche „der Moderne“ vorangestellt sind, entsteht allerdings (zu Recht) der Eindruck, bei der deutschen Raumplanung habe man es mit einem Beispiel für ein länderübergreifendes Ordnungsdenken zu tun. Und damit geht ein Problem einher: Leendertz identifiziert immer wieder den „konservativen“ Denkmodus der Raumplaner als Handlungsmotiv. Diese Planer, so die implizite These, waren letztlich spezifisch „deutsch“, also idealistisch, romantisch-kulturpessimistisch und völkisch sozialisiert. Wie sich diese Prägung zu den Ursachen europäischer und transatlantischer Parallelentwicklungen verhält, wäre ein interessanter Diskussionspunkt. Vor allem aber trägt die Konservatismusdiagnose nicht zur Klärung der entscheidenden Frage bei, wie „Ordnung“ und „Planung“ zusammengingen, wie aus einem rückwärtsgewandten, auf Stabilität dringenden Problembewusstsein zukunftsgerichtete Interventionsimperative wurden.

Zweitens: Leendertz wählt keinen wissenschaftsgeschichtlichen Zugang. Sie fragt nicht, wie das Wissen gerade der Raumforschung entstand, mittels welcher Methoden deren Erkenntnisobjekte sichtbar gemacht wurden. Das wird besonders an einem Punkt deutlich: Leendertz hat sich, vom Cover abgesehen, gegen die Einbeziehung von Abbildungen entschieden. Allerdings verweist sie wiederholt auf die Bedeutung, die der medial (durch Luftaufnahmen) erzeugten „Vogelperspektive“ für den Anspruch der Planer zukam, im „Großen“ auf Wirtschaft und Gesellschaft Einfluss zu nehmen (S. 39-43, S. 391). Überdies kritisiert sie, von der Historiographie zur Planung werde oft übersehen, dass das Zukunftswissen vieler Experten in der Überlagerung von Plan und Karte gegründet habe (S. 96). Nun hätte man gern mehr über die Wechselwirkung zwischen solchen wissenschaftlichen Erkenntnisinstrumenten und gesellschaftlichen Zielen gewusst. Gerade dafür hätte der zu Beginn der Arbeit knapp bemühte Ludwik Fleck herangezogen werden können: Wie entstanden leitbildgebende Raumrepräsentationen? Eine Analyse des Mediums Karte hätte verdeutlichen können, wie sich historisch formatierte Ordnungs-„Ideen“ in der Visualisierung eines spezifischen Terrains konkretisierten.4

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009 (erscheint voraussichtlich im Juni); Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807-831; Adelheid von Saldern, Raum- und Zeitbezüge. Ein Kommentar, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 197-208.
2 Siehe jüngst Ulrich Bröckling, Alle planen, auch die, die nicht planen. Niemand plant, auch die nicht, die planen. Konturen einer Debatte, in: Mittelweg 36 17 (2008) H. 6, S. 61-79.
3 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5-21.
4 Siehe als Beispiel aus anderem Kontext Ute Schneider, Kartographie als imperiale Raumgestaltung. Alexander (Sándor) Radós Karten und Atlanten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 77-94, auch online unter URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Schneider-1-2006>.

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