Y. Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte

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Titel
Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen


Autor(en)
Bauer, Yehuda
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Jüdischer Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. jur. Susanne Benöhr, Hochschule für Öffentliche Verwaltung/Universität Bremen

„Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind wir weder Täter noch Opfer. Durch Blutsbande, Bekanntschaften oder kulturelle Bindungen aber gehen sie uns etwas an. Wir wissen von ihnen. Sie sind Akteure unseres Bewusstseins. Auf einer inneren Bühne sind sie anwesend, lassen sich nicht verscheuchen.“1

Soweit die klugen Worte von György Konrád. Überdies scheinen die Protagonisten mit ungebrochener Vehemenz an das Licht zu drängen, denn anders lässt es sich nicht erklären, aus welchem Grunde weltweit Monat für Monat neue Publikationen, Filme, Dramen usw. mit Bezügen zur Shoah erscheinen. (S.10) Kann und darf dies als ein Indiz dafür gelten, dass es sich bei dem Genozid an den Juden um einen Völkermord besonderer und beispielloser Art handelte? Yehuda Bauers Antwort ist eindeutig, so unterstreicht er bereits in der Einleitung die Singularität der Shoah. (S.10) Der damit einhergehenden Frage nach dem „Warum“ widmet sich der Autor zunächst im theoretischen Untersuchungsteil, der annähernd 150 Seiten umfasst. Dies beinhaltet eine pointierte Darstellung und Analyse der Theorien von Baumann, Herf, Aly, Goldhagen, Weiss und Friedländer. Dem schließen sich Ausführungen über die diversen Ausformungen des jüdischen Widerstands, die theologische Wertung der Shoah und die „Auschwitz-Protokolle“ an. Abschließend erweitert der Verfasser den Betrachtungsrahmen. Am Ende des Buches steht sowohl die Konstituierung des Staates Israel vor dem Hintergrund der Shoah als auch die Ansprache des Autors vor dem deutschen Bundestag am 27. Januar 1998 im Mittelpunkt. Die Publikation besticht durch eine wohltuende Nüchternheit. Dank einer hervorragenden Übersetzung bewegt sich die Studie auf einem hohen sprachlichen Niveau.

Yehuda Bauers Werk ist keine bloße Widergabe des momentanen Forschungsstandes. Vielmehr besticht insbesondere eine These, die es lohnt näher betrachtet zu werden. Der Autor vertritt die Auffassung, dass die Einzigartigkeit der Shoah auch daraus resultiere, dass Hitler eine Gruppe von Menschen, die man als Pseudo-Intellektuelle bezeichnen könnte, beeinflusst habe. Sie seien in sozialer, psychologischer und politischer Weise bereit gewesen, ein mörderisches und radikales Programm zu vertreten. (S.53) In Anlehnung an Karl Marx Ausführungen über den entwurzelten, unorganisierten, arbeitslosen, deklassierten Teil der Arbeiterklasse, dass sogenannte „Lumpenproletariat“, bezeichnet sie der Verfasser als „Lumpenintellektuelle“. (S.53) Ihre Mitglieder seien häufig arbeitslos gewesen und hätten der bürgerlichen Gesellschaft Ablehnung entgegengebracht. Der verlorene Krieg, die in Auflösung begriffen scheinende Gesellschaft und die damit einhergehende persönliche Verbitterung sowie die Suche nach einem Schuldigen sei ein Charakteristikum dieser Gruppierung gewesen (S.53). In dieser Ausgangssituation scheint ein Völkermord dann möglich zu sein, „wenn eine intellektuelle oder pseudo-intellektuelle Elite, die, explizit oder implizit, ein genozidales Programm verfolgt, in einer krisengeschüttelten Gesellschaft aus wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gründen an die Macht gelangt - aus Gründen also, die nichts mit dem Völkermordprogramm zu tun haben - und es ihr gleichzeitig gelingt, die Schicht der Intellektuellen auf ihre Seite zu ziehen.“ (S. 136) Diese intellektuelle Schicht bestünde aus den gesellschaftlichen Gruppen der Oberschicht, also aus Wehrmachtsoffizieren, Beamten, Industriellen, Ärzten und Rechtsanwälten und vor allen Dingen Universitätsprofessoren. (S.136) Vor allem der letzten Gruppe käme eine besondere Bedeutung zu, da sie allen anderen das notwendige ideologische Instrumentarium zu Verfügung stelle. Mit Unterstützung dieser Eliten entstünde somit ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der für die breite Bevölkerung die Rechtfertigung dafür liefere, am Völkermordprogramm teilzunehmen. (S.136)

Diese Überlegungen sind angesichts der prägnanten und griffigen Formulierung „Lumpenintellektuelle“ überaus einprägsam. Gleichwohl ist Vorsicht angebracht. Die Elite der NSDAP bestand aus etwa hundert Personen, in denen Yehuda Bauer die Entwicklung der mörderischen Tendenzen verortet. (S.53) Zu dieser Gruppe zählt er u.a. Goebbels, Darré, Himmler, Bormann, Rosenberg, Streicher, Frick, Thierack, Frank, Heydrich und Hitler selbst. (S.53) Die Liste lässt sich leicht um die Minister und führenden Parteifunktionäre Göring, Seldte, von Ribbentrop, Schwerin von Krosigk, Gürtner, Speer, Muhs, Heß, Funk, Ley und von Neurath - um nur einige zu nennen - erweitern. Waren diese Individuen „Lumpenintellektuelle“? Was beinhaltet der Begriff? Sollte ein abgeschlossenes Studium an einer Hochschule oder Universität das Ausschlusskriterium darstellen, so muß man konstatieren, dass sich innerhalb der vorab genannten Gruppe von 22 Personen lediglich fünf Nichtakademiker befanden: Bormann, Heydrich, von Ribbentrop, Göring und Hitler. Als „verkrachte Existenzen“ können nur Bormann und Hitler gelten. Heydrich war bis 1931 Berufssoldat, von Ribbentrop leitete die Sekt-Firma Henkell und Göring hatte, wenn auch ohne Studienabschluss, so doch als letzter Kommandant des Geschwaders Richthofen, durchaus das „Format“, um sich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen. Alle anderen besaßen einen Hochschulabschluss, wobei die Juristen in der Mehrzahl waren, acht Personen waren promoviert.2 Yehuda Bauers These ist somit im Hinblick auf diese Gruppe nicht haltbar, legt man den akademischen Werdegang zugrunde. Die Überlegungen des Autors würden sich gleichwohl als richtig erweisen, wenn man die Begrifflichkeit in „lumpenhaft“ denkende Intellektuelle umdeutet. Aber dann wäre der Vergleich mit Marx verfehlt. Vielmehr umgab sich Hitler zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit Personen, die man aufgrund ihrer Schul- und Hochschulausbildung nach damaligen und heutigen Maßstäben eindeutig als Akademiker bezeichnen kann.3 Dieser Faktor schien Hitler missfallen zu haben, denn die NSDAP sollte eine Volkspartei sein, worunter er eine Partei verstand, die „nicht nur aus intellektuellen Führern, sondern auch aus Handarbeitern bestand.“4 Es mag zwar sein, dass sich im NSDAP-Gefüge durchaus „Lumpenintellektuelle“ aufgehalten haben, aber diesen dürfte der Zutritt zu der „begehrten Intellektuellenschicht“ erschwert worden sein. In diesen Kreisen wären Pseudo-Intellektuelle nur unangenehm aufgefallen und hätten den Ambitionen der Partei geschadet.

Vorbehaltlos zuzustimmen ist Yehuda Bauer, wenn er folgert, dass es ohne die enthusiastische Unterstützung der Intellektuellen weder zum Krieg noch zur Shoah gekommen wäre. (S. 55) Die Ursache dafür, ist nicht zuletzt an den Universitäten zu suchen, die bereits Jahrzehnte vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zu „Brutstätten extremistischer rechter Ideen“ geworden waren. (S. 55) Hierfür ist die Biographie von Rudolf Heß ein aussagekräftiger Beleg. Nachdem er wie Hitler zur Festungshaft verurteilt worden war, gelang es dem studierten Volkswirt, nach vorzeitiger Haftentlassung eine Assistentenstelle an der Universität München zu erhalten.5 Die Vorstrafe erwies sich nicht als Hindernis.

In den zwanziger Jahren gewann der Nationalsozialismus für die Akademiker an Attraktivität. Insbesondere Lehrer- und Studentenvereinigungen gehörten zu den ersten, die der Partei beitraten. (S. 55) Dass Konglomerat von rasseideologischen, antiliberalistischen und revanchistischen Positionen entfaltete offenbar gerade auf Akademiker eine überaus anziehende Wirkung. (S. 55,56,58) Davon zeugen auch die Äußerungen von Karl Larenz, einem der bekanntesten Rechtslehrer, dessen steile Karriere unmittelbar nach der Machtergreifung begann. So grübelte er, als einer der ambitioniertesten Mitglieder der Kieler „Stoßtrupp-Fakultät“, in einem Interview mit Bernd Rüthers darüber nach, ob er ein Nazi war: „War ich ein Nazi? – War ich überzeugt von den fürchterlichen Sachen, die ich nach 1934 geschrieben habe? – Ich weiß es selbst nicht. Ich hätte ab 1934 schweigen sollen, das wäre klüger gewesen. Aber ich wollte aktiv sein.“6 Dieser Tatendrang ergriff nicht nur die angehenden Professoren, sondern auch die gesellschaftlich hochgeachtete deutsche Richterschaft. Die Wechselwirkung zwischen nationalsozialistischer Ideologie und deren Auswirkung auf die Rechtsprechung zeigte sich alsbald in der Auflösung der deutsch- jüdischen Mischehen. Die Grundlage für die Neuinterpretation bot hierbei, wie einem einschlägigen Artikel eines Gerichtsassessors aus dem Jahre 1933 zu entnehmen ist, Rosenbergs Buch „Mythus des 20. Jahrhunderts“.7 Rosenberg, den Yehuda Bauer in Anlehnung an Browning zu den „wahren Gläubigen“ zählt, (S. 53) war bereits 1920 in die NSDAP eingetreten und war Verfasser zahlreicher antisemitischer Hetzschriften. Nunmehr wurden passagenlange wörtliche Zitate aus Rosenbergs Pamphlet zur Grundlage einer neuen Rechtsauslegung, deren „überragende wissenschaftliche Bedeutung“8 klar erkennbar sei. Die Ausführungen des studierten Ingenieurs und Architekten Rosenberg überzeugten. Sätze wie: “Ehen zwischen Deutschen und Juden sind zu verbieten, Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden ist je nach der Schwere des Falles mit Vermögensbeschlagnahme, Ausweisung, Zuchthaus und Tod zu bestrafen“9 waren zwar 1933 noch contra legem, sie eröffneten aber Perspektiven. Genauer: Sie erlaubten es zum einen „aktiv tätig“ zu werden und juristisches Neuland zu betreten und zum anderen eine seit Jahrhunderten ungeliebte, wenn nicht verhasste Minderheit, zu entrechten. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Zahl der Urteile bezüglich der deutsch-jüdischen Mischehen sprunghaft anstieg, wobei bereits in einer der ersten Urteilbegründungen aus dem Jahre 1933 das gesamte Spektrum der nationalsozialistischen Ideologie durchexerziert wurde.[19] Die Rechtswidrigkeit dieser gerichtlichen Entscheidungen war ihren Verfassern bewusst, denn der Ehescheidung stand § 1589 BGB entgegen. Demzufolge musste ein Verschulden vorliegen, also etwa Ehebruch. So folgert dann auch - normlogisch völlig korrekt - besagter Gerichtsassessor: „Dass ein Ehegatte Jude ist, bildet aber niemals ein Verschulden. Denn die Juden werden nicht aus Gründen der Moral, sondern aus rassehygienischen Gründen in Deutschland unter Fremdenrecht gestellt.“11 Dieses Hindernis ließ sich jedoch mit einer kunstvollen juristischen Auslegung umgehen. Fortab galt die jüdische Herkunft als „Eigenschaft“ im Sinne von § 1333 BGB. Zum Zeitpunkt der Eheschließung hatte sich der „arische“ Ehegatte schlicht im Irrtum über die Tragweite seiner Entscheidung befunden. Folglich konnte, wie bei einem Kaufvertrag, die Ehe angefochten und aufgelöst werden. Eine derartige juristische Finesse ging aber selbst Freisler, damals Staatssekretär im Preußischen Justizministerium, zu weit. In einer der renommiertesten und auflagenstärksten juristischen Fachzeitschrift jener Tage mahnte er bereits Mitte des Jahres 1933 die Richter zur „Selbstbeschränkung“.12

Deutlich wird:
Zum einen war die NSDAP-Parteielite und ihre Schriften nicht auf intellektuell niedrigstem Niveau anzusiedeln, vielmehr wusste die Nomenklatura genau, wen man wodurch ansprechen wollte. Das konnte aber nur geschehen, indem man selber eine akademische Ausbildung genossen hatte und sich somit auf „Augenhöhe“ begegnen konnte. Zum zweiten bot der Antisemitismus eine Agitationsplattform unterschiedlichster Art. Für die Elitejuristen an den Fakultäten bot sich die Möglichkeit, eine völlig neue Methodik im Sinne der „Volksgemeinschaft“ zu konstruieren. Ein Teil der, ohnehin handverlesenen Richterschaft, folgte unverzüglich der nationalsozialistischen Ideologie. In jedem Fall wusste man genau, was man tat. Bereits jeder Jurastudent hätte in der Lage gewesen sein müssen, Rosenbergs „Rattenfängertaktik“ zu durchschauen. Freilich, man hat es nicht gewollt. Zu verlockend schien offenbar das juristische Neuland zu sein, das es im Sinne der Volksgemeinschaft zu erobern galt. „Mitmachen“ und „aktiv“ sein im Sinne von Karl Larenz hieß aber auch, die immanenten Grenzen zu kennen und gerade die Intellektuelle dürften nur zu gut gewusst haben, wann sie den Rubikon überschritten und somit erpressbar wurden. Diese Vorgehensweise blieb, drittens, nicht ohne Wirkung auf die Bevölkerung. Wenn die in der Öffentlichkeit hochangesehene Berufsgruppe der Richter Ehen auflösen konnten, weil ein Ehepartner dem jüdischen Glauben angehörte (und nicht etwa Ehebruch begangen hatte), dann sprach das für sich, dann wird das schon „Recht gewesen sein.“

Yehuda Bauers These erweist sich im Hinblick auf die Richter- und Professorenschaft als tragfähig. Hinsichtlich der Parteielite ist freilich Vorsicht angebracht, sie bestand bei weitem nicht nur aus Pseudo- bzw. „Lumpenintellektuellen“. Vor diesem Hintergrund erfüllt sich auch die Prämisse, die das gesamte Buch durchzieht, nämlich die konsequente Negierung von „Mystifikationstendenzen“ der Shoah. Vielmehr wurde die rechtliche Ausgrenzung und der Massenmord aus Gründen begangen, die in der Geschichte liegen, also einer rationalen Analyse zugänglich sind (S.25). Der Klärung der Frage warum sich ausgerechnet die Deutschen, und allen voran die intellektuelle Führungsschicht, die Juden als bevorzugtes Opfer auserkor, hat Yehuda Bauer einen innovativen Aspekt verliehen. Angesichts dessen ist zu vermuten, dass die beschwerliche Reise zur dunklen Seite der Geschichte noch lange nicht zu Ende ist.

Anmerkungen:
1 György Konrád: „Spuren, nicht nur Rauch und Asche“. Rede zur Holcaustausstellung im Berliner Historischen Museum am 16.01.2002, abgedruckt in: www.zeit.de (Rubrik „Reden“), am 24.01.2002.
2 Frick, Thierack, Frank, Muhs, Funk und von Neurath führten den Titel „Dr. jur.“. Goebbels hatte philosophisch und Ley naturwissenschaftlich (Chemie) promoviert.
3 Am „Hitler-Putsch“ beteiligten sich u.a. bereits: Heß, Himmler, Frick und Frank. Frank avancierte später zu Hitlers Verteidiger.
4 Hitler, Adolf: Mein Kampf, S. 514 zitiert nach Pätzold, Kurt/Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1920-1945, Köln 1998, S. 55.
5 Vgl. www.dhm.de/lemo/html/biografien/HessRudolf.
6 Cordes, Albrecht: War ich ein Nazi? Ich weiß es selbst nicht, in: Süddeutsche Zeitung 27.12.2001.
7 Wöhrmann, in: Juristische Wochenschrift (JW) 1933, S. 2041.
8 Wöhrmann (FN. 7)
9 Rosenberg, Alfred: „Mythus des 20. Jahrhunderts“, 1. Auflage, 3. Buch IV 3, S. 545 zitiert nach: Wöhrmann (FN. 7).
[10] Lesenswert in diesem Kontext: Das Urteil des Landgerichts Köln und des Berliner Kammergerichts, in: Deutsches Recht (DR), S. 818 f.
11 Wöhrmann (FN. 7).
12 Freisler, Roland: Recht, Richter und Gesetz, in: DJ (Deutsche Justiz) 1933, S. 694.

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