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Titel
Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts


Autor(en)
Stannek, Antje
Reihe
Geschichte und Geschlechter 33
Erschienen
Frankfurt / New York 2001: Campus Verlag
Anzahl Seiten
303 S. 5 Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Irrgang, Friedrich-Meinecke Institut der FU Berlin

Die vorliegende 1996 von der Abteilung für „Geschichte und Kulturgeschichte“ des europäischen Hochschulinstituts in Florenz angenommene Dissertation von Antje Stannek beschäftigt sich mit der höfischen Bildungsreise des deutschen Hochadels im 17. Jahrhundert, dem Grand Tour. Darunter wird die einmalige Auslandsbildungsreise, die Kavalierstour verstanden, die Söhnen aus gutem Hause Gelegenheit bot, in der Ferne gewisse weltgewandte Umgangsformen zu erlernen, Sitten und Repräsentationsgebaren zu verfeinern, den Horizont zu erweitern und entsprechend höfischer Standeserziehung das Leben in der höfischen Welt vorzubereiten. Ausgehend von der weitgehend negativen Rezeption des Grand Tour im Vergleich zur peregrinatio academica des Mittelalters oder auch im Vergleich zur Studienreise reicher Bürgersöhne im 18. Jahrhundert, bemüht sich Stannek Abstand zu nehmen von der stigmatisierenden Kritik, der Grand Tour sei eine sinnlose, „degenerierte Mutationsform“ 1 der mittelalterlichen peregrinatio academica gewesen und sucht das Standesbewusstsein hinter den Bildungsreisen zu erforschen. Nicht der Nutzen der Kavalierstour oder das Unterwegssein an sich werden fokussiert, sondern die Reisevorbereitungen, die Beziehungen der adeligen Reisenden zu den sie begleitenden Präzeptoren oder zur Familie daheim, die Verhaltensweisen untereinander und zu Frauen. Für diese „Lebenswelt“-Untersuchungen stehen Antje Stannek eine beeindruckende Menge an Selbstzeugnissen adeliger Reisender, verhaltensanleitende Reiseliteratur, reisetheoretische Apodemiken, Reiseabrechnungen, Korrespondenzen und Berichte über Reiseerlebnisse zur Verfügung.

Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel. Zunächst thematisiert Stannek den theoretischen Hintergrund des Grand Tour. Daran schließen sich sechs Fallbeispiele herzoglicher und gräflicher Reiseaktivitäten und –erlebnisse an. Der dritte Abschnitt hat die materielle Fundierung einer höfischen Bildungsreise zum Gegenstand, die Beziehungen zwischen jungen Adeligen und ihren Reisetutoren, die altershomogenen Gruppenbeziehungen sowie den Kontakt zu Frauen an den fremden Höfen. Im vierten Kapitel kehren die Kavaliere dann zurück in ihre Heimat.

Die Vorbereitungen auf den Grand Tour beginnen für Stannek bereits im Frauenzimmer. Hierbei betont Stannek besonders die lange von der Frühneuzeitforschung unterschätzte emotionale Eltern-Kind-Bindung, deren Fürsorglichkeit in Leichenpredigten (S. 25) erkannt werden kann. Ab dem 7. Lebensjahr übernahmen Männer die geschlechtsspezifische Erziehung der Adelssöhne, wobei die Intensität und Qualität der Ausbildung vom Status der Sprösslinge abhing. Erstgeborenen wurde eine kostenintensivere und aufwendigere Erziehung zuteil. Weiter schenkt Stannek den Studieninhalten größere Aufmerksamkeit. In der Regel gehörten Latein und Griechisch, moderne Fremdsprachen, Mathematik, Rhetorik und Geographie, aber auch Reiten, Jagen und Waffenführung zum unverzichtbaren Fächerkanon. Je nach konfessioneller Ausrichtung der Fürstenerziehung werden aber andere Schwerpunkte gesetzt. Die Unterrichtsmethoden bewertet Antje Stannek als innovativ und führt als beispielhaft die kindgerechte Reformpädagogik des Johann Amos Comenius an.

Die jungen Adeligen wurden so früh wie möglich in die Kunst des Reisens eingeführt, aber auch mit reisekritischen Traktaten konfrontiert. „Der Telemach“ (Les Aventures de Télemaque) von François Salignac gehörte zur unabdingbaren Pflichtlektüre eines jungen Prinzen. Stannek resümiert am Ende des ersten Abschnitts, dass die Menschen in der Frühen Neuzeit sehr mobil gewesen seien, und ihre ausgeprägte Mobilität auf Reisen nach Italien, Frankreich, England und den Niederlanden ausgelebt wurde. Dabei spielte im Bewusstsein der Weg als Reiseerfahrung eine nur geringe Rolle. Wichtig in der Wertschätzung junger Adeliger war das Ziel. Man reiste zügig und legte eher an den Ritterakademien längere Pausen ein.

Im zweiten Kapitel der Arbeit stellt Stannek für den Zeitraum von 1598-1689 sechs Fallbeispiele vor. Sie untersucht exemplarisch die adeligen Reiserfahrungen, Studieninhalte, Reisekosten und familialen Beziehungen von zwei herzoglichen und vier gräflichen Adelsfamilien. Die sechs Adelsfamilien weisen dabei regional unterschiedliche Reiseziele auf, setzten konfessionell bedingt andere Schwerpunkte oder reisten je nach Reputation in größeren oder kleineren Gruppen oder mit einem Hofmeister. Letztlich verfolgten aber alle die Ideale und Anleitungen höfischer Standeserziehung.

Der dritte Abschnitt konzentriert sich auf die materielle Ausstattung der Reisen. Zunächst galt es, sich entsprechend einer Kleiderordnung modebewusst zu gerieren und fürstliche Gepflogenheiten zu leben. Äußerlich unterschied sich der junge Hochadelige von anderen. Hinsichtlich der Reisekosten sind quellenbedingt Beobachtungen schwierig. Gewisse „Finanzierungspraktiken“ (S. 181) sind aber rekonstruierbar. Es gilt als gesichert, dass der ständige Kontakt zu einem Bankier nötig war, Kreditverträge geschlossen wurden und Wechselbriefe in den großen Städten eingetauscht werden konnten. Kostenvoranschläge und Unterhaltskosten unterlagen ständiger Verhandlung. Stannek hat darüber hinaus eine Vielzahl von Bettelbriefen der jungen Kavaliere ermitteln können. Einige Adelige waren sogar gezwungen, ihre Reisekosten mit ihrem zu erwartenden Erbanteil zu verrechnen. Ein gewichtiger Schwerpunkt liegt ferner auf den Tutoren bzw. Präzeptoren. Stannek fragt nach ihrem Einkommen und den Karriereoptionen. Die Vermögensverhältnisse der Adelsfamilien bestimmten das Einkommen eines Tutors. Ein Tutor verfügte doch über recht aussichtsreiche Karrierechancen nach Abschluss eines Grand Tour im diplomatischen Dienst, am kaiserlichen Hof oder als Schriftsteller und Übersetzer. Soweit kann kein Unterschied zwischen bürgerlichen und adeligen Tutoren festgestellt werden.

Der Grand Tour diente neben dem Bildungserwerb auch der Erziehung zur Selbstdisziplin und Affektkontrolle. In diesem Zusammenhang untersucht Stannek, welche Konsequenzen das Überschreiten der Normen höfischen Verhaltens bei Spiel, Trinkgelagen oder gewaltsamen Auseinandersetzungen hatte. Hierbei konnte Stannek eine erstaunlich tolerante Haltung der Eltern und Tutoren gegenüber den Heranwachsenden konstatieren. Interessant ist schließlich der Abschnitt über die Geschlechterbeziehungen junger Adeliger zu Frauen. Besondere Beziehungen pflegten die Kavaliere zu Hofdamen zu unterhalten, die quasi die mütterlichen Erziehungspflichten übernahmen und den Reisenden in den Sitten des Gastlandes unterwiesen. Gleichwohl Antje Stannek auch Bordellbesuche und klandestine Eheschließungen nachweisen kann, waren die Kontakte zu Frauen von Keuschheit geprägt, um keine Heiratsverpflichtungen einzugehen.

Die Rückkehr an den Hof der Eltern wurde mitunter als triumphaler Einzug inszeniert. Dort warteten verantwortungsvolle Aufgaben auf die Kavaliere, die während der höfischen Bildungsreise eingeübt werden konnten. Ob sie in Zukunft die an sie herangetragenen Erwartungen zu erfüllen vermochten, war jedoch noch unklar. Es ist aber deutlich geworden, dass die jungen Adeligen bereits als Knaben auf den Grand Tour vorbereitet und ihnen mit durchaus modernen Lernmethoden „die Formen und Grenzen eines höfischen Habitus“ (S. 246) nahegebracht wurden. Die Ritterakademien spielten in diesem Vermittlungsprozess eine entscheidende Rolle. Frauen hingegen blieb der Zugang zu vergleichbarem Bildungserwerb versagt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die Kavaliersfächer zunehmend auch an Universitäten angeboten, so dass die Dringlichkeit der höfischen Standeserziehung im Ausland abnahm.

Antje Stannek ist es gelungen, ein fesselndes Buch zu schreiben, das den faszinierenden Gegenstand der höfischen Bildungsreise hervorragend bearbeitet. Die Fülle des dargebotenen Materials gedruckter und ungedruckter Quellen ist imponierend. Kritisch anzumerken wäre bestenfalls, dass die Monographie über kein Register verfügt, was dem positiven Gesamteindruck aber keinen Abbruch tut.

1 Jörg Jochen Berns: Peregrinatio academica und Kavalierstour. Bildungsreisen junger Deutscher in der Frühen Neuzeit, in: Conrad Wiedemann (Hg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion, Stuttgart 1988, S. 155-156

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