L. Becker: Schritte auf einer abschüssigen Bahn

Titel
Schritte auf einer abschüssigen Bahn. Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) im Dritten Reich


Autor(en)
Becker, Lothar
Reihe
Beitr. z. Rechtsgesch. d. 20. Jahrh. 24
Erschienen
Tübingen 1999: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XI, 268 Seiten
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. jur. Susanne Benöhr, Hochschule für Öffentliche Verwaltung/Universität Bremen

Alte Zeitschriftenbände üben einen eigentümlichen Reiz aus. Nicht nur wegen der knarrenden Einbände und des leicht modrigen Geruchs, den die Seiten verströmen. Vielmehr fühlt man sich nicht selten animiert mit dem Zeigefinger an den Buchrücken entlang zu wandern, um den Bestand auf seine Vollständigkeit hin zu überprüfen. Zu dieser Kategorie von Zeitschriften gehört das „Archiv des öffentlichen Rechts“ - kurz AöR - das bereits seit 1886 erscheint. Es galt und gilt als eines der renommiertesten juristischen Publikationsorgane. Angesichts dessen sind Fragen nach der Vergangenheit prekär - insbesondere wenn sie die Jahre zwischen 1933 und 1945 betreffen.

Eben jenen Zeitraum hat Lothar Becker in den Mittelpunkt seiner Untersuchung gestellt. Die Arbeit verzichtet weitestgehend auf eine Analyse der Artikel und Rezensionen jener Zeit. Statt dessen widmet sich der Autor der „Geschichte hinter der Geschichte“. Dabei ist dem Verfasser ein hochinteressantes Werk gelungen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil er auf das Archiv des ehemaligen und jetzigen Herausgabeverlages des AöR (Mohr Siebeck Tübingen) Zugriff nehmen konnte. Das war auch am Ende des 20. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit. So haben die Verlage C.H. Beck (München), Carl Heymann (Köln) und W. Kohlhammer (Stuttgart) übereinstimmend erklärt, dass ihre Archivbestände im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges zerstört worden seien. (S. 7, 8) Hingegen bewies der Mohr Siebeck Verlag Courage, indem er Teile seiner Vergangenheit publik und damit transparent gemacht hat. Der stellenweise seitenlange Abdruck der Originalkorrespondenz zwischen Verleger, Herausgeber und Autoren ermöglicht daher nicht nur einen authentischen Einblick in die nationalsozialistische Wissenschaftsorganisation. Vielmehr gewinnt man einen Eindruck vom „Redaktionsalltag“ und den damit verbunden Intrigen, Machtstrukturen und, nicht zuletzt, Feindschaften.

Lothar Beckers Interesse gilt in erster Linie der Redaktion des AöR. Chronologisch verfolgt er die Arbeit und die wechselnde personelle Zusammensetzung dieses Gremiums in den Jahren 1933/34, 1934-1939 und schließlich während des Zweiten Weltkrieges. Diese Aufteilung ist klug und korrespondiert auf gekonnte Weise mit der lebendigen Schilderung der geschichtlichen Begebenheiten. So wird der Leser bereits in der Einleitung des zweiten Hauptkapitels über „Eine neue Ära des Staatsrechts“ in den Zug der Ereignisse nach dem 30. Januar 1933 hereingezogen. (S. 45 f)

Klar wird zunächst, dass das AöR Anfang der dreißiger Jahre eine Zeit der Rezession hinter sich hatte. Es bestand die reale Gefahr zwischen diversen hochspeziellen Fachzeitschriften sowie den Nachwehen des „Weimarer Staatsrechtslehrerstreits“, langsam aber stetig aufgerieben zu werden. Die nationalsozialistische Machtübernahme versprach daher in wirtschaftlicher wie auch in fachlicher Hinsicht einen verheißungsvollen Neuanfang. Dies war sowohl die Auffassung des Verlegers, Oskar Siebeck, als auch großer Teile der Redaktion.(S. 60) Diese bestand zum damaligen Zeitpunkt aus den Rechtsprofessoren Johannes Heckel (Bonn), Otto Koellreutter (Jena), Heinrich Triepel (Berlin) „in Verbindung mit“ Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (Hamburg) und Rudolf Smend (Berlin). Während Heckel, Koellreutter und Triepel die Zeitschrift als geschäftsführende Redakteure leiteten, wirkten Mendelssohn-Bartholdy und Smend im Hintergrund. Nestor war freilich Heinrich Triepel, Jahrgang 1868 und zwischenzeitlich Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin. 1 Bei gewichtigen Entscheidungen verließ sich Verleger Siebeck auf seine langjährigen Erfahrungen, und diese waren nach den Ereignissen des Januar 1933 ausgesprochen gefragt. Triepel gehörte nicht zu den Verfechtern der Weimarer Republik. (S. 60) In signifikanter Weise unterstrich daher seine Bereitschaft, ein Geleitwort zur „nationalsozialistischen Revolution“ zu verfassen, die positive Aufbruchstimmung, die sich seiner und der Redaktion bemächtigt hatte. (S. 61, 62)

Indes sollte bald eine Phase der Ernüchterung folgen: Koellreutter nutzte die Gunst der Stunde, sein freundschaftliches Verhältnis zum Verleger, seine Mitgliedschaft in der NSDAP und seine Bekanntschaft zu dem stetig aufstrebenden Carl Schmitt, um sich gegenüber Triepel in Stellung zu bringen. Der eingeschlagene Konfrontationskurs gegenüber Triepel aber auch Smend entzweite die Redaktion, und die Ambition Koellreutters, die Richtung der Zeitschrift zu bestimmen, trat offen zutage. (S. 69) In dieser Lage erwies sich der jüdische Urgroßvater des Mitherausgebers Mendelssohn-Bartholdy als adäquater Angriffspunkt. (S. 85 FN. 208) So schrieb Koellreutter bereits am 20.4.1933 dem Verleger Siebeck: „Schade daß Herr M-B (Anm.: Mendelssohn-Bartholdy) nicht schon längst vom Titelblatt verschwunden ist und weiter bleibt, er hat nie etwas für das Archiv geleistet.“2 Trotz Koellreutters Intervention konnte sich Siebeck nicht für eine Entfernung des protestantisch getauften Mendelssohn-Bartholdy entschließen. (S. 83, 85 FN. 206) Nicht zuletzt Triepels Autorität und seine Verbundenheit mit Mendelssohn-Bartholdy erwies sich als Hindernis. (S. 82) Auf die Dauer ließ sich gleichwohl eine Tilgung vom Titelblatt nicht verhindern. Ausschlaggebend hierfür war allerdings weniger Koellreutters intrigantes Verhalten als vielmehr der Umstand, dass Beiträge zurückgezogen wurden (S. 86), weil Mendelssohn-Bartholdy nach wie vor im Rubrum stand. So fühlt man sich frappant an den Tatbestand der Erpressung erinnert, wenn der Staatsrechtler Carl Bilfinger in einem Brief an Heckel schrieb: „Falls also die Redaktion nicht in der Lage sein sollte, das von mir bezeichnete Bedenken (Anm. Führung von Mendelssohn-Bartholdy als Herausgeber) durch die Entfernung des betreffenden Namens zunächst einmal aus dem Rubrum der Redaktion aus dem Weg zu räumen, darf ich Sie bitten, von meinem Beitrag abzusehen.“ 3 Den „Bedenken“ von Carl Bilfinger schloss sich prompt der Staatsrechtslehrer Ernst Forsthoff an. (S. 86).

Darüber hinaus beschäftigte Koellreutter und Siebeck die Frage, inwieweit Juden zukünftig noch als Autoren in Erscheinung treten konnten. (S. 94) Zum Testfall erwählten beide einen auf englisch verfassten Artikel des Münchener Privatdozenten Karl Loewenstein. Nachdem jedoch die oberen Parteichargen ihr Missfallen bekundeten und Loewenstein aus dem Vorlesungsverzeichnis der Münchener Universität entfernt wurde, erklärte Koellreutter das „Experiment Loewenstein“ (S. 95) für gescheitert. Gleichwohl offenbart dieser „Fall“ einen weiteren bemerkenswerten Aspekt. Koellreutter schätzte Loewenstein nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass er ein konsequenter Jude sei und er mit jenen immer besser gekonnt habe.4 Ein Vergleich mit Carl Schmitt scheint sich aufzudrängen, der seinerseits in der „großen Anpassungsfähigkeit des Juden“ eine Gefahr für das deutsche Volk sah. 5 Verbanden demzufolge Teile der deutschen Intelligenz mit dem „wüste(n) Zerrbild des jüdischen Feindes“6 vorwiegend die „inkonsequenten“, die assimilierten und eventuell sogar die getauften Juden? Das ist eine interessante Frage, die offensichtlich noch nicht beantwortet ist.

Während zunächst weder Triepel noch Smend aus der Affäre Mendelssohn persönliche Konsequenzen zogen und weiter ihrer redaktionellen Arbeit nachgingen, bahnte sich alsbald ein neuer Streitfall an. Zur Verärgerung von Siebeck, Heckel und Koellreutter verhielten sich weder Smend noch Triepel politisch konform. (S. 110) Triepel kehrte nach der kurzen Frist der begeisterten Zustimmung zur „nationalsozialistischen Revolution“ zu seiner nationalkonservativen Grundhaltung zurück und äußerte diese öffentlich in Berlin. Smend zog sich völlig zurück. (S. 110) Es war folglich nur noch eine Frage der Zeit, wann Triepel und Smend aus der Redaktion des AöR herauskomplimentiert werden würden. Ende 1933 erklärten schließlich beide „freiwillig“ ihren Austritt. (S. 119 f) Zugleich nutzte Heckel die Gelegenheit, das „sinkende Schiff AöR“ zu verlassen. (S.116)

Koellreutter und Siebeck hatten nunmehr freie Hand. Dennoch erlebte die Zeitschrift in den folgenden Jahren einen unaufhörlichen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Dafür waren mehrere Gründe ausschlaggebend. Einerseits erwies sich die hohe Fluktuationsrate innerhalb der Redaktion als wenig förderlich.7 Andererseits begann sich auf dem juristischen Zeitschriftenmarkt eine Konzentration abzuzeichnen. An dieser Entwicklung waren maßgeblich Carl Schmitt und der „Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ (BNSDJ) beteiligt. In der Auseinandersetzung um Markt- und Machtanteile innerhalb der Rechtswissenschaft duldeten sie keinen Wettbewerb. (S. 37) Für das AöR hatte dies nicht nur einen „Prestigeverlust“ zur Folge, sondern damit verbunden auch einen Autoren- und damit Manuskriptboykott.(S. 136 f) Insbesondere die Gruppe der jüngeren Hochschullehrer beabsichtigte die Gründung einer eigenen Zeitschrift, um somit größeren wissenschaftspolitischen Einfluss zu erlangen. Wenn auch letztlich diese Unternehmung fehlschlug, so musste selbst Koellreutter im Jahr 1935 einsehen, dass sowohl seine als auch die Stimme sämtlicher „Älterer“ in der „jungen größenwahnsinnigen Rechtswissenschaft“ nicht mehr gefragt war. (S. 171).

Erschwerend kam hinzu, dass die eigentliche Domäne des AöR, nämlich das Verfassungsrecht und die damit verbundenen Fragen, für „erledigt“ erklärt wurden. Schließlich empfahl man von parteioffizieller Seite den Verfassungsrechtlern Spekulationen über eine zukünftige Verfassung zu unterlassen, denn alleine der Reichskanzler wisse, wie der Staatsaufbau in zehn Jahren aussehe.(S. 178) Angesichts dieser Stagnation innerhalb des verfassungspolitischen Lebens stellte sich auch für das AöR die Frage, welche Themen des öffentlichen Rechts noch analysiert werden könnten. (S. 177) In dieser Situation erwies sich die Kombination von völkerrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Themen als Lösung. Insbesondere das Völkerrecht gewann nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zunehmend an Bedeutung. Dies nicht zuletzt aufgrund der von Schmitt kreierten Begrifflichkeiten von der „Großraumtheorie“, die als Legitimationsgrundlage für den Eroberungskrieg dienen sollte. (S. 189 f).

Am Ende des Buches stellt der Autor die berechtigte Frage, was von der Geschichte des AöR während der Jahre zwischen 1933 und 1944 geblieben sei. (S. 219) Wenig erbauliches, möchte man antworten. Im nachhinein erwies sich bereits der „Fall Mendelssohn-Bartholdy“ als „der Anfang vom Ende“ des AöR. Triepel erkannte, jedenfalls ansatzweise, die Zeichen der Zeit, als er den Verleger warnte, dass das Zugeständnis hinsichtlich Mendelssohn „der erste Schritt auf einer abschüssigen Bahn sein wird. Es werden noch andere Zumutungen kommen, die dann freilich die Mehrzahl der Herausgeber nicht mehr wird mittragen können.“8 In Bezug auf den letztgenannten Punkt sollte sich Triepel irren. Wie Lothar Becker in seiner Studie auf einprägsame Weise zeigt, gab es im Bemühen um „Selbstgleichschaltung“ zwischen Herausgebern, Redakteuren und Autoren alsbald „kein Halten“ mehr. Die Zeitschrift wurde damit zum Spiegelbild des unaufhörlichen Niedergangs der deutschen Staats- und Verwaltungswissenschaft.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu in jüngster Zeit: Poscher, Ralf: Heinrich Triepel, in: Jacobson, Arthur J./Bernhard Schlink (Ed.): Weimar a Jurisprudence of Crisis, Berkeley 2000, S. 171 f.
2Koellreutter - Siebeck v. 20.4.1933, in: Becker, Lothar: „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“. Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) und die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 69.
3 Bilfinger – Heckel v. 10.7.1933, sub Korrespondenz O. Siebeck –Heckel, in: Becker, Lothar: „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“. Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) und die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 86.
4 „Loewenstein ist ein konsequenter Jude und mit denen konnte ich immer besser“, Koellreutter – O. Siebeck v. 18.9.1933 und „Im völkischen Staat kann nun einmal öffentliches Recht nicht von einem konsequenten Juden gelesen werden“, Koellreutter – O. Siebeck v. 13.9.1933 und 18.9.1933, vgl. Becker, Lothar: „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“. Das Archiv des öffentlichen Recht (AöR) und die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 94 FN. 251, S. 95 FN. 259.
5 Gross, Raphael: Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt/Main 2000, S. 132 f.
6 Ebenda, S. 387, vgl. in diesem Zusammenhang auch: Schulle, Diana: Das Reichssippenamt. Eine Institution nationalsozialistischer Rassenpolitik, Berlin 2001, S. 38 m.w.N.
7 Letztlich konnte die Lücke, die nach dem Fortgang von Triepel entstand, nicht geschlossen werden. In den folgenden zehn Jahren waren sechs Redakteure, Co-Redakteure und Herausgeber für das AöR tätig, nämlich: Hans Gerber (S. 122 f), Helmut Nicolai (S. 133, 134 f) Franz Albrecht Medicus (S. 133, 135 f), Friedrich Giese (S. 171, 172 f), Manfred Fauser (S. 173 f) und Karl Buddeberg (S. 201 f).
8 Triepel - Siebeck v. 22.7.1933, in: Becker, Lothar: „Schritte auf einer abschüssigen Bahn.“ Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) und die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 221.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Thema
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension