Titel
The Reagan Diaries.


Herausgeber
Brinkley, Douglas
Erschienen
Anzahl Seiten
784 S.
Preis
€ 37,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sönke Kunkel, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Können die Tagebücher eines Politikers, noch dazu eines ausgebildeten Schauspielers und Meisters der Selbstinszenierung, einen historischen Erkenntniswert haben? Douglas Brinkley, Herausgeber der “Reagan Diaries”, bejaht: „In these writings Ronald Reagan’s true nature is revealed. His uncomplicated and humble notations are on display in these pages: genuine, thoughtful, and caring. They are an extension of an honest man who loved freedom but hated communism, inflation, and … taxes.” (S. X)

Damit ist ein Programm vorgezeichnet, das auf knapp 800 Seiten nicht nur editorisch konsequent umgesetzt wird (nach kritischen Anmerkungen des Herausgebers sucht man vergeblich), sondern sich auch nahtlos in den Reigen revisionistischer Reagan-Deutungen einordnet, die in den letzten Jahren den amerikanischen Buchmarkt erobert haben. Diese Darstellungen, überwiegend Biographien auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, beschreiben Reagan durchweg als einen großen Transformator, der nach Watergate und Carter wieder das amerikanische Präsidentenamt stärkte, uramerikanische Werte reanimierte, die Reste eines noch aus dem New Deal herkommenden interventionistischen Staatsverständnisses beseitigte und international Amerikas Führungsstärke wiederherstellte.1 John Lewis Gaddis, um nur ein Beispiel zu nennen, pries Reagan in seinen jüngsten Reflexionen über den Kalten Krieg als einen visionären Strategen, der die strukturellen ökonomischen Schwächen der Sowjetunion erkannt habe, an jenem neuralgischen Punkt gezielt angegriffen habe und so gleichsam im Alleingang den Ost-West-Konflikt beenden konnte.2 Gaddis‘ Argumentationsgrundlage: handschriftliche Notizen des Präsidenten.

Ein genauer Blick in die Reagan Diaries lohnt also, sorgt jedoch rasch für Ernüchterung. Reagan berichtet ausschweifend vom Wetter, von Spaziergängen oder Ausritten, von abendlichen Filmvorführungen und, ja, auch von seiner Liebe zu Nancy. Abgesehen von einigen Invektiven gegen die Medien beschränkt er sich ansonsten auf buchhalterische Aufzählungen von politischen Alltagsaktivitäten, ohne den dabei verhandelten Inhalten viel Platz einzuräumen: Treffen mit Staatsgästen, Senatoren oder sonstigen Funktionären einerseits, Auslandsreisen andererseits. Das alles hat vor allem anekdotischen Unterhaltungswert, auch wenn sich dieser gelegentlich zur aussagekräftigen Symbolik verdichtet, etwa wenn Reagan notiert, dass er vor der UN-Generalversammlung nur in schusssicherer Weste aufträte. Treffender lassen sich die Folgen der konfrontativen amerikanischen UN-Politik, die im zeitweiligen Rückzug aus der UNESCO gipfelte, kaum bilanzieren.

Wer aber über solche Metaphern hinaus nach mehr Erkenntnispotenzial sucht, muss vor allem zwischen den Zeilen lesen. Mit einer Ausnahme allerdings: Reagans Haltung gegenüber der Sowjetunion wird editorisch breit entfaltet, von Brinkley im Vorwort auch dezidiert zusammengefasst. In der Tat muss anerkannt werden, dass Reagans Verhandlungsbereitschaft zu seinen großen historischen Leistungen zählt, ohne dass man mit Blick auf das Ende des Ost-West-Konflikts zwangsläufig einem historischen Determinismus das Wort reden müsste. Schon 1983 notiert er etwa: „Some of the N.S.C. staff are too hard line & don’t think any approach should be made to the Soviets. I think I’m hard line & will never appease but I do want to try & let them see there is a better world if they’ll show by deed they want to get along with the free world.” (S. 142, April 1983) Gorbatschows Vorschlag einer doppelten Nulllösung für Mitteleuropa kommentiert er im Februar 1986: „Then it was N.S.P.G. time in the situation room re[garding] Gorbachev’s proposal to eliminate nuclear arms. Some wanted to tag it a publicity stunt. I said no. Let’s say we share their overall goals & now want to work out the details.” (S. 388) Auch wenn im Einzelnen noch der Realitätsgehalt jener Selbstzuschreibungen kritisch zu überprüfen ist, zeichnen sich hier doch die Konturen einer flexiblen, neue Gelegenheiten und Spielräume auch ausnutzenden Außenpolitik ab.

Freilich sollte man diese Flexibilität nicht überbetonen, denn schon südlich des Rio Grande stieß Reagans Akkomodationsfähigkeit an ihre natürlichen Grenzen. Mittelamerika betrachtete er als „the world’s next hotspot”, Nicaragua galt ihm als “an armed camp supplied by Cuba and threatening a communist takeover of all of Central America“ (S. 44, Oktober 1981). Bekanntlich bewirkte diese ideologische Obsession nicht nur die Destabilisierung einer ganzen Region, sondern führte 1987 auch direkt in die Iran-Contra-Affäre, weil amerikanische Unterhändler um Oliver North Gelder aus illegalen Waffengeschäften mit dem Iran (mit denen in einer Verkettung mehrerer Umstände wiederum amerikanische Geiseln ausgelöst werden sollten) an die nicaraguanischen Contras weitergereicht hatten. Zwar präsentieren Reagans Aufzeichnungen – wie im Übrigen natürlich nicht anders zu erwarten ist – keinen schlagenden Beweis bezüglich der kontrovers diskutierten Frage, inwiefern Reagan über diese Vorgänge informiert war. Immerhin wird aber ersichtlich, wie engagiert Reagan 1986/87 versuchte, ein neues Hilfsprogramm für die Contras durch den Kongress zu bringen. Das reichte von informellen Treffen mit prominenten Contra-Führern bis zu persönlichen Interventionen bei wichtigen Senatoren. Außer Frage steht zudem, dass Reagan zumindest über die Waffenverkäufe im Bilde war.

Eine Neuinterpretation legen Reagans Aufzeichnungen über die Grenada-Intervention von 1983 nahe. Galt die Intervention bisher als medial inszenierte Demonstration der Stärke, die den verheerenden Bombenanschlag auf amerikanische Marines in Beirut (mit mehr als 200 Toten) überschreiben sollte, so zeigen die Tagebücher, wenn sie sich als akkurat herausstellen sollten, dass die Intervention schon Tage vor dem Beiruter Anschlag beschlossene Sache war. Akzeptiert man weiterhin die Prämisse der Inszenierung, lässt sich auf Grundlage der Tagebücher spekulieren, dass für die Intervention die Verlegung amerikanischer Marines von Mittelamerika in den Libanon ausschlaggebend war. Reagan formuliert diesen Nexus am 9. September 1983 selbst: „Our main meeting was on Lebanon. The situation is worsening. We may be facing a choice of getting out or enlarging our mission. Chfs. of Staff want to send the New Jersey. I’m concerned as to whether that won’t have a bad morale effect on our friends in Central Am. We’re going to move her thru the canal & off shore in the Atlantic before seeing whether she should head for Lebanon.” (S. 178) Der genaue Entscheidungsablauf bleibt zwar weiterhin im Dunkeln, aber die Sequenz der Reaganschen Einträge weist auf den Zusammenhang zum Libanon hin. Am 22. Oktober, nach dem Anschlag von Beirut, heißt es zunächst: “I’ve spent the day in meetings on this & Grenada. We’re going to go on with the invasion [in Grenada].” (S. 190) Wenige Tage später heißt es: „Our Marines have set sail for Lebanon – from Grenada” (S. 193, 1. November 1983) und am 14. Dezember folgt schließlich ein triumphierender Tagebucheintrag: „The New Jersey finally did it! Our Recon planes over Lebanon were fired on again – this time in the area patrolled by the N.J.” (S. 205)

Zugegeben: Solange alternative Quellen nicht herangezogen werden können, bleiben Interpretationen dieser Art bloße Vermutungen. Sie unterstehen zudem immer dem Generalverdacht, auf Grundlage fingierter Tagebucheinträge zu argumentieren. Und daran zeigt sich sodann auch das gesamte Dilemma: Weil Reagan die Kunst der politischen Maskierung beherrschte, gleichsam ein Mann mit vielen Eigenschaften war, richten sich seine Tagebücher eher an den spekulativen Möglichkeits-, denn an den historischen Wirklichkeitssinn.

Anmerkungen:
1 Siehe stellvertretend Tygiel, Jules, Ronald Reagan and the Triumph of American Conservatism, New York 2006 (mittlerweile in der zweiten Auflage).
2 Gaddis, John Lewis, Der Kalte Krieg. Eine Neue Geschichte, München 2007, sowie ders., Strategies of Containment. A Critical Appraisal of American National Security Policy During the Cold War, Oxford 2005 (zweite Auflage).

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