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Titel
Alpenverein. Die Städter entdecken die Alpen. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein von der Gründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges


Autor(en)
Gidl, Anneliese
Erschienen
Wien - Köln - Weimar 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Schmoll, Universität Augsburg

Im Alpinismus verdichten sich jedwelche Motive moderner Naturzuwendung: ästhetisches Gefallen am Naturschönen, Bedürfnisse nach physischer und psychischer Rekreation, Erwartungen an moralisierende Wirkungen außermenschlicher Natur, die schützende und bewahrende Inobhutnahme der Natur als Kulturtätigkeit, Eskapismus aus den Zwängen moderner Lebenswelten, Unbehagen in der Zivilisation, die Gleichzeitigkeit wissenschaftlicher Entzauberung und ästhetischer Wiederverzauberung, Eroberungsdrang, Sportbegeisterung, Bemächtigung und Bewunderung der Natur, ihr technischer Umbau und die industrielle Vermarktung als touristische Erlebnisnatur. Die organisierte Alpenbegeisterung ist damit Symptom und Agentur europäischer Modernisierungsprozesse zugleich und hat seit ihrer Institutionalisierung im „Österreichischen Alpenverein“ (1862), im „Deutschen Alpenverein“ (1869) und seit 1873 im gemeinsamen „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ nicht nur die Ansichten der europäischen Bergwelt, sondern auch diese selbst gründlich verändert.

Insofern hat es gute Gründe, dass die Entdeckung des bis in die Neuzeit nicht nur unbekannten, sondern obendrein kulturell negativ codierten Alpenraums (Rückständigkeit, menschenfeindliche Wildnis u.a.) immer wieder zum Gegenstand historischer, philosophischer und kulturwissenschaftlicher Befragung wurde. Die von Anneliese Gidl vorgelegte Vereinschronik positioniert sich allerdings explizit nicht innerhalb der reichhaltigen Forschung zum Alpinismus. Der Band will die Ergebnisse eines an der Universität Innsbruck angesiedelten Forschungsprojektes vor allem „einem größeren Publikum zugänglich machen“. Angestrebt werden hier weniger diskursanalytische Kraxeleien in die zugigen Höhen theoretischer Reflexion, Adressaten sind vielmehr die Alpinisten und Alpinistinnen selbst (300.000 Mitglieder zählt der „Österreichische Alpenverein“ heute!), die durch die als Chronik konzipierte Arbeit Gelegenheit erhalten, die historischen Grundlagen der Alpenfaszination zu rekapitulieren. Infolgedessen unterbleibt in dem mit faszinierendem Bildmaterial (Fotos, Karten, Karikaturen, Postkarten, alpine Devotionalien u.v.a.) versehenem Band auch die Auseinandersetzung mit vorhandener Forschungsliteratur und die Begründungen der Problem- und Frageperspektiven – mithin eine umfassendere Theoretisierung des Phänomens Alpinismus überhaupt. Orientiert man sich an den uneindeutigen Übergangszonen zwischen historischer Wissenschaft und populärer Geschichtsvermittlung, tendiert der vorgelegte Band eindeutig zu Letzterem.

Im Wesentlichen wird die Geschichte des Vereins bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als „Erfolgsgeschichte“ (so Projektleiter Franz Mathis im Vorwort) nacherzählt, versehen mit allfälligen ideologiekritischen Anmerkungen zu den Zusammenhängen von Nationalismus und Alpinismus. Tatsächlich freilich führt diese Perspektive kaum zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnishorizonten. Durch die Lektüre wird eher das Gefühl suggeriert, Teilnehmer einer imposanten Bewegung zu sein. Wer als Leser wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen aus Naturbegeisterung und Naturbemächtigung, dem Zusammenspiel von Ästhetisierung und Verwissenschaftlichung, bürgerlichem Gipfeldrang und Schlichtheitskult oder der Geschichte der touristischen Kolonialisierung sucht, wird dagegen enttäuscht.

Umgekehrt freilich erwachsen hieraus gerade die Stärken des Bandes, der sich explizit an ein breites Lesepublikum wendet: eine überbordende Fülle von Quellen und Materialien, Anschaulichkeit und eingängige Darstellung. Die Chronik umfasst drei Hauptteile. Das erste, institutionsgeschichtliche Großkapitel rekonstruiert die Entdeckung der Bergwelt durch das Bürgertum und stellt die Geschichte des Alpinismus von der Gründung des „Österreichischen Alpenvereins“ 1862 bis zum Zusammenschluss zum „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ 1873 dar. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den Aktivitäten des expandierenden Vereins bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nimmt also vor allem die alpinistische Praxis vom Hütten- und Wegebau über das Bergführerwesen, die Bergrettung, die naturwissenschaftliche oder volkskundliche Erforschung bis hin zu naturschützerischen und kulturpolitischen Aktivitäten in den Blick. Im dritten Hauptteil schließlich widmet sich Anneliese Gidl der Frage, wie der Erste Weltkrieg den Alpenverein innerlich und äußerlich verändert hat, also den ideologiegeschichtlichen Zusammenhängen zwischen Alpinismus, Militarismus und Nationalismus.

Der Text erscheint durchgängig als ein Balanceakt zwischen purer Wiedergabe alpinistischen Selbstverständnisses und historiographischer Interpretation und Analyse; Letztere kommt dabei oft zu kurz. So ist das Ergebnis in erster Linie eine materialgesättigte und vor allem auf Anschaulichkeit zielende Chronik des Alpenvereins. Die Darstellung setzt auf einen eingängigen journalistischen Stil, der – etwa in den Überschriften – leider bisweilen an die Beschriftung eines Fotoalbums erinnert: „Ein Start wie im Bilderbuch – Die Anfänge des Oesterreichischen Alpenvereins“, „Die Alpenbegeisterung kennt keine Grenzen“, „Sicher ist sicher – Bergführer begleiten die Alpinisten“. Der Gefahr, die Selbstbilder, Denkstile und Lesarten der Vereinsalpinisten nur wiederzugeben anstatt sie zu interpretieren, ist die österreichische Historikerin Anneliese Gidl leider häufig erlegen. Mitunter mag dies dem Adressatenkreis und der populären Darstellung geschuldet sein, ab und an stimmt es aber auch ärgerlich, etwa dann, wenn in der Zusammenfassung die Zivilisationsnörgelei des Bürgertums nachgeplappert und der Tugendkatalog vom „Gegenwicht zur schädlichen Überkultur und Möglichkeit zur Charakterbildung, zur Bewährungsprobe für Entschlossenheit, Wagemut und Geistesgegenwart“ (S. 363) nachgebetet wird. Hier ist kein Echo gefragt, sondern analytische Antwort. Und obendrein werden unbedacht Schlagwörter der zeitgenössischen Vergemeinschaftungsideologie in Kapitelüberschriften reproduziert: „Jeder braucht jeden – Der Alpenverein im Gebirgskrieg“ (S. 331).

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