M. Grunewald u.a. (Hgg.): Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschrift

Titel
Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1945-1955).


Herausgeber
Grunewald, Michel; Bock, Hans Manfred
Reihe
Reihe Convergences 18
Erschienen
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 78,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Müller, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Der französische Germanist Michel Grunewald leitet an der Universität Metz ein Zentrum zur deutschen Zeitschriftenforschung. Dort wurde auf vier Tagungen 1995-2000 der deutsche Europadiskurs im Zeitraum von 1870 bis 1955 behandelt. 1 Die publizierten Tagungsergebnisse erbringen wichtige Bausteine zu einer Sozialgeschichte der – vor allem politischen - Ideen in Deutschland. Viele Beiträge nutzen über eine reine Textanalyse und Zeitschriftenporträts hinaus andere Quellenbestände (wie Nachlässe und Redaktionsarchive). Die Beiträge sind überwiegend in deutscher Sprache, einige sind französisch - allerdings ohne deutsche oder englische Zusammenfassungen.

Die mit Personenregistern ausgestatteten Bände sind Fundgruben zur deutschen Ideen- und Kulturgeschichte vom Kaiserreich bis in die frühe Nachkriegszeit. Der Gebrauchswert erhöht sich noch durch die von Hans-Manfred Bock erstellten systematischen Bibliografien zu Kulturzeitschriften im Kontext der Gesellschafts-, Kultur-, Verlags- und Intellektuellengeschichte.

Der vorliegende vierte Band gilt dem Europadiskurs im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf die überblicksartig die wesentlichen Ergebnisse zusammenfassende Einführung von Michel Grunewald folgt ein anregender Einleitungsessay von Axel Schildt zum „Europagedanken in der westdeutschen Ideenlandschaft des ersten Nachkriegsjahrzehnts (1945-1955). Schildt betont die Revitalisierung der ideengeschichtlichen Kontinuitätslinien aus der Zwischenkriegszeit, die dann im Laufe der 50er Jahre ausliefen. Mit dieser relativen Einheit des Nachkriegsjahrzehnts verweist er auf die gegenüber der politischen Geschichte abweichenden Veränderungsrhythmen der Ideengeschichte.

In dieser Phase bedeutete nach Schildt das „nachdrückliche Hochhalten von Kultur und kultureller Bildung [...] zugleich politisches Postulat und existenziellen Fluchtpunkt in Abgrenzung von den als geistlos und barbarisch empfundenen Zumutungen des Dritten Reiches, aber auch der Indienstnahme durch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges“ (S. 16). Diese Phase des Rückbezugs auf deutsche Traditionen und der Trennung von machtlosem Geist und geistloser Macht versteht Schildt als eine „notwendige Übergangsphase für die Aufnahme liberaler und demokratischer westlicher Ideen“ (S. 16). In ihr kam zugleich noch einmal der Versuch der Intellektuellen zum Tragen, sich als geistige Elite von der argwöhnisch betrachteten Masse und den Gefahren einer uniformen Massengesellschaft abzusondern. Das Thema des Europas der Eliten und der Schaffung einer geistigen Gemeinsamkeit zwischen den europäischen Eliten war daher beherrschend. Statt deutschem Machtstaat fungierte nun der europäische Geist als rettender Halt.

Folgende Zeitschriften werden vorgestellt: „Aufbau“ (Frithjof Trapp), „Ost und West“ (Friedrich Albrecht), „Geist und Tat“ (Katja Marmetschke), „Der Ruf“ (Uwe Puschner), „Die Wandlung“ (François Beilecke), „Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ (Hans Manfred Bock), „Die Gegenwart“ (Jens Flemming), „Frankfurter Hefte“ (Michel Grunewald), „Der Monat“ (Thomas Keller), „Deutsche Rundschau“ (Michel Durand), „Neues Abendland“ (Vanessa Plichta), „Europa-Archiv“ (Philippe Alexandre), verschiedene Saarzeitschriften (Hans-Jürgen Lüsebrink) und die in Wien erscheinende „Europäische Rundschau“ (Ina Ulrike Paul).

Durch einige Beiträge zieht sich die Fragestellung nach der beabsichtigen oder erfolgreichen Amerikanisierung, Verwestlichung und schließlich nach der „Europäisierung“. Im Anschluss an Michael Hochgeschwenders Tübinger Studie über den „Kongreß für kulturelle Freiheit“ (CCF) sieht Schildt vor allem in der eng mit dem CCF verbundenen Zeitschrift „Der Monat“ ein intellektuelles Netzwerk für die ideelle Verwestlichung der politischen Kultur der Bundesrepublik. Der „Monat“ dient Schildt als Beleg für seine These von der pluralistisch gesonnenen Gegenelite, die sich als linksliberale, demokratische und ehemalige kommunistische Intellektuelle unter dem Einfluss der USA, oft von dort remigriert oder dort ausgebildet, gegen die Übermacht der Intellektuellen bildete, die noch in der gedanklichen Welt der Zwischenkriegszeit steckten.

Dagegen behauptet Thomas Keller in seinem Beitrag über den „Monat“, durch viele Namen und Verbindungen detailreich belegt, dass im Blickwinkel Hochgeschwenders und Schildts die Amerikanisierung nach 1945 viel zu stark in den Vordergrund gerückt werde. „Der Monat“ sei zwar unübersehbar ein Produkt der amerikanischen Besatzungsmacht. Doch würden die zahlreichen europäischen Bezüge in ihm übersehen, vor allem auch die französischen Komponenten. Keller sieht diese inhaltlich, durch die Exilerfahrung, durch Kontakte der Zwischenkriegszeit und durch Transformationen amerikanischer Ideen in europäischen Denkfabriken. Der Anteil europäischer Konzepte an der Westernisierung komme dabei zu kurz – so Kellers Kritik.

Daher überrascht am Ende sein etwas abruptes und überraschendes Fazit den Leser: „Der Monat hat erfolgreich verwestlicht, europäisiert hat er nur bedingt.“ (S. 282) Keller geht dabei von einer Europakonzeption aus, die auf ein deutsch-französisches Bündnis gegründet ist, wie es sich im Schuman-Plan 1950 konkretisierte. Es habe sich gerächt, so Keller, dass die Europa-Konzeption im „Monat“ „derart stark auf Großbritannien“ gesetzt habe und „nicht uneingeschränkt“ auf „den Monnet-Kurs eingeschwenkt“ sei. Dies habe zur „unvollständigen Europäisierung“ geführt (S. 280f.). Doch ist eine Europäisierung politisch, kulturell und intellektuell wirklich alleine über die deutsch-französische Achse und die Realisierung als Montanunion vorstellbar?

So stellt sich immer wieder die Frage, was eigentlich in dominanten intellektuellen Diskursen in Westdeutschland unter Europa verstanden wurde. Es fällt auf, dass dies mit dem realen Prozess der europäischen institutionellen Integration vom Marshall-Plan bis zu den Römischen Verträgen von 1957 kaum etwas zu tun hatte. Themen waren vielmehr die intensiven Debatten um den christlichen Humanismus und Sozialismus, um Moral und Werte, um den Föderalismus und um die europäische und die abendländische Kultur, aber auch um den „dritten Weg“ eines demokratisch-sozialistischen Europa, um die Bedeutung von Eliten, die Vergangenheit des Dritten Reiches und die Frage der deutschen Einheit.

Wirklich konsequent europäische Konzeptionen vertreten unter den vorgestellten Zeitschriften nur zwei. Einmal sind das die von Michel Grunewald analysierten föderalistisch-supranational ausgerichteten „Frankfurter Hefte“ (Eugen Kogon, Walter Dirks, Clemens Münster) – zum anderen das von Wilhelm Cornides edierte „Europa-Archiv“, das sich wissenschaftlich und ungebunden-informativ auf die Ausbildung eines Europabewusstseins ausrichtet (Philippe Alexandre). Die in Wien erscheinende Kulturzeitschrift „Europäische Rundschau“ bietet einen interessanten Sonderfall (Ina Ulrike Paul). Sie fällt in mehrfacher Weise aus dem Spektrum der übrigen deutschen Zeitschriften heraus. Sie war eine kulturpolitische Initiative der französischen Besatzungsmacht in Österreich und vertrat somit offen französische Interessen. Mit über 200.000 war es eine überdurchschnittlich auflagenstarke Kulturzeitschrift, die etwa dreimal so viel Abnehmer hatte wie „Der Monat“ oder die „Frankfurter Hefte“. Sie spielte eine wichtige Rolle im Brückenschlag nicht nur zwischen Österreich und den internationalen kulturellen Entwicklungen sondern auch generell zwischen der deutschen Kultur und der europäischen Moderne. Dies galt besonders in den Jahren 1946 bis 1948.

Die scharfe Trennung von Kultur und Politik war auch ihr Leitbild. Dies galt aber eben im Herbst einer bildungsbürgerlichen Spätblüte auch für die meisten Kulturzeitschriften des ersten Nachkriegsjahrzehnts. Zur konkreten Geschichte der europäischen Integration leisteten sie keinen Beitrag. Die deutschen Zeitschriften vertieften somit den Graben zwischen den Intellektuellen und den entstehenden europäischen Institutionen wie der europäischen Politik. Kultur und Wissenschaft im Dienste demokratischer und europäischer Politik schien nach 1945 zunächst in Westdeutschland unvorstellbar geworden. Nur wenige Intellektuelle wie Walter Dirks oder Wilhelm Cornides lösten sich bereits 1945/46 von dieser Vorstellung.

Anmerkung:
1 Vgl. die früheren Bände Grunewald, Michel (Hg.), Le discours européen dans les revues allemandes (1871-1914) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1871-1914), (Convergences 1), Bern 1996; ders. (Hg.), Le discours européen dans les revues allemandes (1918-1933) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1918-1933), (Convergences 3), Bern 1997; ders. (Hg.), Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), (Convergences 11), Bern 1999.

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