: Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev. München 2012 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-70494-5 503 S. € 59,80

: Die Bajkal-Amur-Magistrale. Geschichte eines sibirischen Raumerschließungsprojektes. Berlin 2012 : Logos Verlag Berlin, ISBN 978-3-8325-3192-8 142 S. € 23,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Esther Meier, Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung Mittel- und Osteuropas, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

Die Breschnew-Ära steht seit einigen Jahren im Fokus der Forschung. Neueste Monographien stellen die Thesen der Überblicksdarstellungen, die unser Bild dieser Zeit als Epoche der „Stagnation“ und des „Zerfalls sowjetischer Werte“ geprägt haben, auf den Prüfstand. Zu ihnen zählen auch die Arbeiten von Johannes Grützmacher und Andreas Röhr, die sich mit dem Bau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) auseinandersetzen. Im Jahr 1974 verkündete Leonid Breschnew den Bau dieser Bahnlinie, die sich nach ihrer Fertigstellung über 3.000 Kilometer erstrecken sollte. Damit ging dieses gigantische Eisenbahnprojekt, das seine Anfänge in den Erschließungsplänen des 19. Jahrhunderts hatte und unter Stalin durch den Einsatz von GULAG-Häftlingen vorangetrieben worden war, in seine nächste Runde.

Grützmacher und Röhr zeichnen die Geschichte der nördlich der Transsibirischen Eisenbahn über Permafrostboden und durch seismisch aktive Gebiete verlaufenden Strecke von den Expeditionen im 19. Jahrhundert bis zur heutigen Situation nach. Röhr bietet auf 140 Seiten einen knappen historischen Abriss des Bauprojekts, der sich stark der Planungs- und Organisationsgeschichte zuwendet. Grützmacher setzt den Schwerpunkt seiner Untersuchung in der Breschnew-Ära, in deren Analyse das innovative Potential seiner als Dissertation vorgelegten Arbeit liegt. Mit sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen macht er sich auf die Suche nach dem „Mythos BAM“.

Als konstitutive Elemente dieses Mythos, der für eine positiv konnotierte Sowjetunion steht, benennt Grützmacher die Kategorien Raum, Zeit sowie Inklusion und Exklusion, die er für die verschiedenen Planungs- und Bauphasen miteinander in Beziehung setzt. So arbeitet er etwa für die Erschließung Sibiriens mit dem Konzept der frontier, das bereits mehrfach auf Russland und die Sowjetunion übertragen wurde, und kommt zu dem Schluss, dass die mentale Aneignung dieses Raums auch in der Breschnew-Ära noch keineswegs abgeschlossen war.

Für die BAM wurde in den 1930er-Jahren ein eigener Lagerkomplex geschaffen. Die Häftlinge, zu denen mit dem Zweiten Weltkrieg auch japanische Kriegsgefangene zählten, bauten die ersten Streckenabschnitte. Grützmacher untersucht ihre Arbeits- und Lebensbedingungen sowie den Bau der Stadt Komsomolsk-na-Amure unter der Leitung des Komsomol. In seiner Geschichte des Stalinismus wählt er jene Momente aus, die für das Verständnis der Breschnew-Ära zentral sind. So fanden etwa die Zwangsarbeiter des GULAG keinen Eingang in das Narrativ der 1970er-Jahre über den heroischen Aufbau der Trasse, während Presse und Künste die Helden von Komsomolsk mit viel Aufwand als Vorbilder für die Jugend der Breschnew-Ära beschworen. Im Stalinismus waren die Häftlinge durchaus noch Teil der Inszenierung gewesen – der Kriminelle wird im Lager zum Bestarbeiter „umgeschmiedet“ –, in der Breschnew-Ära hingegen wurden sie verschwiegen. Grützmacher zeigt sehr schön, dass es dennoch ein lokales Wissen über die Lager gab: Die Bauleute der 1970er-Jahre trafen auf Überreste von Wachtürmen und Baracken, auf Gräber, Briefe und ehemalige Häftlinge, die in der Region geblieben waren. Die Dekonstruktion des „Mythos BAM“ begann nicht erst mit der Perestrojka.

Darüber, wie Entscheidungen in der Breschnew-Ära gefällt und Herrschaft kommuniziert wurde, ist bislang noch wenig bekannt. Der Zugang zu den Quellen ist für diesen Bereich auch weiterhin nur einem eingeschränkten Kreis von Historikern erlaubt. Grützmacher vertritt – unter anderem auf der Grundlage von Erinnerungen hochrangiger Funktionäre – die These, dass Breschnews öffentliche Ankündigung zur Wiederaufnahme des BAM-Projekts im Jahr 1974 nicht auf einem Konsens beruht und es erhebliche Widerstände gegeben habe. Im sowjetischen Herrschaftssystem sei es jedoch nicht möglich gewesen, von oberster Stelle öffentlich deklarierte Entscheidungen zu revidieren.

Also wurde gebaut. Grützmacher untersucht, wer baute, welche Motive die Arbeitskräfte bewogen, ihr Glück in Sibirien zu versuchen, und wie der Alltag an der BAM aussah. Spannend sind seine Funde zu den Eisenbahnsoldaten, die für den gesamten Ostabschnitt von Tynda bis Komsomolsk verantwortlich waren. Diese „Bausoldaten“, reguläre Einheiten der sowjetischen Armee, wurden bei den spätsowjetischen Großprojekten für jene Arbeiten eingesetzt, die die Freiwilligen auch für höhere Löhne und Autos nicht machen wollten. Der Themenkomplex Arbeit, und insbesondere unfreiwillige Arbeit, zählt zu den großen Forschungsdesiderata der spätsowjetischen Geschichte. Grützmacher kann hier neue Erkenntnisse liefern.

Die BAM beinhaltete auch ein städtebauliches Konzept, das jedoch, wie Grützmacher zeigt, weitgehend unrealisiert blieb. Der Städtebau in Sibirien war ein Produkt der „Entstalinisierung“. Unter Stalin waren die Häftlinge entlang der Trasse interniert worden, unter Breschnew sollten die Arbeiter hier angesiedelt werden. Forschungen zu anderen Großprojekten der Breschnew-Ära haben den Städtebau als zentralen Mobilisierungsmotor benannt. Jene Projekte, die mit einem rasanten Wohnungsbau einhergingen, vermochten die Bevölkerung viel umfassender für die Sache zu gewinnen als dies bei der BAM der Fall war.1 Die neuen Städte boten mit ihren Bildungseinrichtungen soziale Mobilität, Wohnungen und langfristige Perspektiven, die auch für Familien attraktiv sein konnten, während die BAM eine Baustelle der Männer blieb. Inwiefern die BAM, die Grützmacher überzeugend als gescheitert darstellt, repräsentativ für die Großprojekte der Breschnew-Ära ist, wird ein Vergleich noch zu zeigen haben.

Die sowjetischen Großprojekte sind ideale Untersuchungsgegenstände für die Erforschung der Interaktion von Zentrum und Peripherie. Von den Planern im zumeist fernen Moskau erdacht, durften sich die lokalen Akteure mit den Widrigkeiten vor Ort herumschlagen. Insbesondere in der Breschnew-Ära verstanden es Letztere durchaus, ihre eigenen Wege zu gehen. Es ist zu fragen, ob Grützmacher die Bedeutung regionaler und lokaler Akteure nicht unterschätzt, weil er überwiegend mit Akten aus den Moskauer Archiven arbeitet. Dokumente aus lokalen Archiven, aus Privatbeständen sowie Interviews könnten hier Aufschluss geben, und Zahlen zu den Arbeitskräften ließen sich auf individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen herunterbrechen. Angesichts der enormen geleisteten Arbeit ist es Grützmacher jedoch nachzusehen, dass er sich nicht noch weitere Jahre an der BAM verpflichten wollte.

Zumal seine Studie auf einer Fülle an Quellen basiert: Dokumente der Planungsbehörden, Parteiakten, Presse, sowjetische wissenschaftliche Literatur aus unterschiedlichen Disziplinen, Gemälde und Egodokumente aus den 1930er-Jahren. Für den Stalinismus unterscheidet Grützmacher zwei Quellenkorpora. Zum einen die publizierten „eindeutig propagandistischen Schriften“, zum anderen die nicht publizierten Archivdokumente mit ihren Berichten über die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen an der BAM. Für die Zeit nach Stalin stellt er dann eine Annäherung dieser zwei Korpora und, in Anlehnung an Alexei Yurchak, eine Standardisierung der Sprache fest. „[In den 1930er-Jahren] gibt es noch nicht den einheitlichen Text der späten Sowjetunion.“ (S. 153) Auf der Grundlage dieser These untersucht Grützmacher die von ihm unterschiedenen beiden Quellenkorpora für den Stalinismus getrennt. Hiermit bleiben die Erkenntnisse jener Stalinismus-Forscher wie Thomas Lahusen, die auf die Verflechtung dieser Texte verwiesen haben, letztendlich unberücksichtigt, auch wenn Grützmacher sie mehrfach zitiert.2 Für die Breschnew-Ära hingegen setzt Grützmacher Publiziertes und Nichtpubliziertes auf produktive Weise miteinander in Beziehung, so etwa im Hinblick auf die Kritik an dem Projekt und die Themen Ökologie und autochthone Völker. All dies und noch viel mehr präsentiert uns Grützmacher in einer gut lesbaren Sprache, die des rhetorischen Paukenschlags nicht bedarf, um zu wirken.

Viele der bislang genannten Themen finden sich auch in Andreas Röhrs knappem Überblick über die Geschichte der BAM wieder. Er gliedert seine Arbeit in vier chronologische Abschnitte, denen er mehrere Karten zu den Streckenverläufen voranstellt. In einem ersten Teil behandelt er die Planungen in der Zarenzeit, in der unter anderem die Niederlage im Krimkrieg dem Eisenbahnbau Auftrieb verschaffte. In den weiteren Abschnitten legt Röhr die Planungen und Umsetzungen in sowjetischer Zeit dar, wobei er für die Breschnew-Ära auch die Arbeits- und Lebensbedingungen an der BAM und die an der Trasse lebenden autochthonen Völker kurz skizziert. Röhr stützt sich weitgehend auf dieselbe sowjetische, russische und westliche Literatur, die auch Grützmacher heranzieht. Die Dissertation von Grützmacher konnte Röhr nicht mehr berücksichtigen, wohl aber Grützmachers früher publizierte Aufsätze. So erstaunt es wenig, dass Röhr in vielen Punkten zu denselben Ergebnissen kommt wie Grützmacher. Röhrs Arbeit ist im Wesentlichen eine Bestandsaufnahme bisheriger Forschungen. Röhr, der zurzeit an einer Dissertation mit dem Titel „Zastoj – Stillstand? Die Beschreibung der Breschnew-Ära am konkreten Beispiel der Baikal-Amur-Magistrale“ arbeitet, wird zu zeigen haben, welche neuen Erkenntnisse seine weiteren Untersuchungen in dieser Hinsicht erbringen können.

In seinem Buch deutet er bereits an, welche Geschichten der BAM sich noch erzählen lassen. Die BAM öffnet den Blick zum Pazifik, der im Vergleich zum Blick nach Westen in der Forschung bislang nur wenig berücksichtigt wurde. Röhr behandelt die BAM auch im Beziehungsgeflecht Russlands bzw. der Sowjetunion zu China, Japan und der Mandschurei.

Sowohl Grützmacher als auch Röhr verorten die BAM in den unterschiedlichen Phasen der sowjetischen Geschichte und zeigen Kontinuitäten und Brüche auf. Röhr sieht die Klammer, die die Expeditionen des 19. Jahrhunderts mit den sibirischen Lagern des Stalinismus und den Mobilisierungskampagnen der Breschnew-Ära verbindet, vor allem in einem imperialen Denken. Grützmacher betont die Kontinuität stalinistischer Modelle und Narrative in der Breschnew-Ära. Durch den breit angelegten Untersuchungszeitraum grenzen sich Grützmacher und Röhr von Christopher Ward ab, der sich in seiner vor wenigen Jahren erschienenen Monographie zur BAM auf die Jahre 1974 bis 1984 konzentrierte und die Vorgeschichte unberücksichtigt ließ. Auch wählte Ward andere thematische Schwerpunkte (Verbrechen, Korruption, Frauen und Ausländer an der BAM).3

In ihrem Fazit sind sich allerdings alle drei Autoren einig: Die BAM ist sowohl als Erschließungs- wie auch als Mobilisierungsprojekt gescheitert. Gleise enden symbolträchtig im Nichts und Bahnhöfe fehlen. Die Jugend der 1970er-Jahre war für den Aufbau des Kommunismus nicht mehr zu begeistern. Somit fügen sich die Studien zur BAM in das Bild der stagnierenden, dem Untergang geweihten Sowjetunion ein. Neuere Untersuchungen zu anderen Bereichen und Projekten der Breschnew-Ära demontieren diese Sicht auf die 1970er- und frühen 1980er-Jahre indes. Wie sich so unterschiedliche Ergebnisse einer äußerst dynamischen Forschung zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen, ist derzeit noch offen. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass Grützmacher zu den Pionieren dieser Forschung zählt.

Anmerkungen:
1 Verwiesen sei auf den Forschungsverbund „Second World Urbanity“, URL: <http://www.secondworldurbanity.org/> (28.02.2014).
2 Thomas Lahusen, How Life Writes the Book. Real Socialism and Socialist Realism in Stalin’s Russia, Ithaca 1997.
3 Christopher J. Ward, Brezhnev’s Folly. The Building of BAM and Late Soviet Socialism, Pittsburgh 2009.

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