M. Krennerich: Soziale Menschenrechte

Cover
Titel
Soziale Menschenrechte. Zwischen Recht und Politik


Autor(en)
Krennerich, Michael
Reihe
Reihe Politik und Bildung 70
Erschienen
Schwalbach 2013: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
526 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Schubert, terre des hommes, Osnabrück

Jahrzehntelang fristeten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (kurz: soziale) Menschenrechte ein Schattendasein, jedenfalls gemessen an der öffentlichen Aufmerksamkeit, die den als „klassisch“ betrachteten bürgerlichen und politischen Menschenrechten zuteilwurde. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist ihre Bedeutung zwar stetig gewachsen, dennoch besteht eine Reihe von Einwänden und Missverständnissen fort; die sozialen Menschenrechte sind uns im Grunde „immer noch wenig vertraut“.

Michael Krennerich hat nun eine Studie vorgelegt, die zu einem zeitgemäßen Verständnis der sozialen Menschenrechte beitragen und dadurch die öffentliche und akademische Debatte in Deutschland anregen möchte. Als Politikwissenschaftler weiß der Autor nur zu gut, dass gerade die eigene Disziplin „bei der Analyse sozial- und entwicklungspolitischer Probleme lange Zeit ohne menschenrechtliche Bezüge auskam“ (S. 11). Die sorgfältige Zusammenführung rechts- und politikwissenschaftlicher Sichtweisen im Rahmen der Studie dient daher auch dazu, ein junges Themenfeld in der Politikwissenschaft zu etablieren.

Im Zentrum der Analyse stehen die Prozesse der Normbildung, Norminterpretation und Normdurchsetzung im Bereich der sozialen Menschenrechte, denen der Autor jeweils einen ganzen Buchteil widmet. Die genaue Kenntnis (der Entstehungsgeschichte) einschlägiger Rechtstexte, daraus ableitbarer Ansprüche und Pflichten sowie entsprechender Durchsetzungsmechanismen ist Voraussetzung für ein problemorientiertes Verständnis der wsk-Rechte und bildet zugleich den Ausgangspunkt für die Anknüpfung an politikwissenschaftliche Erklärungsansätze. Auf beide Aspekte soll im Folgenden kurz eingegangen werden.

In der (Fach-)Öffentlichkeit halten sich bis heute hartnäckig Vorstellungen, die soziale Menschenrechte – in Abgrenzung zu bürgerlich-politischen Freiheitsrechten – im besten Fall als reine Leistungsansprüche gegenüber dem Staat verstehen und im schlimmsten Fall als Wunschzettel oder Gesinnungsappelle abtun. Die Studie setzt dieser Auffassung eine klare Botschaft entgegen: Es gibt keinen grundlegenden Wesensunterschied zwischen bürgerlich-politischen und sozialen Menschenrechten. Dem Autor zufolge lassen sich alle Menschenrechte gleichermaßen als Freiheits-, Gleichheits- und Solidarrechte beschreiben (S. 339). Sie stellen als solche sicher, dass jeder Mensch die gleiche Möglichkeit erhält, die „je eigenen, besonderen“ Lebensentwürfe – für sich und in Gemeinschaft mit anderen – in Freiheit zu finden und zu verwirklichen“1. M. Krennerich verwendet viel Mühe darauf, dieses umfassende Menschenrechtsverständnis mithilfe rechtshistorischer Verweise und empirischer Rechtsanwendungsbeispiele sowie anhand jüngerer rechtsdogmatischer Entwicklungen und Konkretisierungsanstrengungen im Bereich der sozialen Menschenrechte zu untermauern.

Als besonders nachteilig für die Entwicklung der wsk-Rechte hat sich die historisch geleitete Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen „Generationen“ von Menschenrechten erwiesen, der zufolge die politischen und bürgerlichen Rechte zur ersten und die sozialen Menschenrechte zur zweiten Generation gehören. Die damit verbundenen Vorstellungen der Hierarchisierung und (Wesens-)Verschiedenheit spiegelten sich auf der politischen Ebene in den gegensätzlichen Menschenrechtsauffassungen (Freiheit vs. Gleichheit) in West und Ost nach 1945 wider und wurden mit Beginn des kalten Krieges immer stärker akzentuiert. Wirkmächtigster Ausdruck dieser ideologischen Einfärbung der Menschenrechte ist bis heute die Verabschiedung von zwei unterschiedlichen Menschenrechtspakten statt einer gemeinsamen Konvention geblieben. In den meisten westlichen Staaten gerieten die sozialen Menschenrechte in der Folge des Ost-West-Konflikts in Vergessenheit und entfalteten nur wenig rechtspraktische Bedeutung; die Ostblockstaaten machten sich zwar zu „Propagandazwecken“ für die wsk-Rechte stark, verbanden damit aber keineswegs individuelle Rechtsansprüche gegen den Staat (S. 36).

Ein großes Verdienst der vorgelegten Studie liegt darin, darauf aufmerksam zu machen, dass die historisch geprägten und durchaus nicht in Stein gemeißelten Menschenrechtsauffassungen in ihrer Fixierung auf Wesensunterschiede wichtige Gemeinsamkeiten der Menschenrechte überdecken. Indem er auf das in jüngerer Zeit im internationalen Recht entwickelte Konzept der „Pflichtentrias“ bezugnimmt, kann M. Krennerich zeigen, dass weder wsk-Rechte nur „Leistungsrechte“ noch bürgerlich-politische Rechte nur „Abwehrrechte“ sind. Aus allen Menschenrechten ergeben sich Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten für den Staat. Es gibt mithin keinen ersichtlichen Grund, warum soziale Abwehr- oder Freiheitsrechte (z.B. gegen Zwangsräumungen auf Grundlage des Rechts auf angemessene Unterkunft) nicht genauso wie die bürgerlichen und politischen Rechte sofort umsetzbar sein sollten. Umgekehrt lassen sich auch politische und bürgerliche „Leistungsrechte“ vielerorts nur schrittweise verwirklichen, wie die „schwierigen, langwierigen und kostenintensiven Prozesse des Aufbaus staatlicher und politischer Institutionen und Verfahren in vielen Entwicklungs- und Transformationsländern oder Post-Konfliktstaaten vor Augen führen [...]“ (S. 112).

Die Studie von M. Krennerich belegt eindrucksvoll, dass auch ein weiterer häufig gegen die wsk-Rechte erhobener Einwand, deren mangelnde Konkretisierbarkeit (bzw. Justiziabilität), widerlegt werden kann. Zwar verfügten die bürgerlich-politischen Rechte historisch bedingt über einen „Interpretationsvorsprung“, so Krennerich, doch könne für die Auslegung der sozialen Menschenrechte mittlerweile auf einen ordentlichen Fundus an Rechtsdokumenten, caselaw und autoritativen Rechtauffassungen zurückgegriffen werden. Das Buch stellt dafür reichlich Anschauungsmaterial bereit.

An der grundsätzlichen Einklagbarkeit der sozialen Menschenrechte kann dem Autor zufolge kein Zweifel bestehen. Es fehle vielmehr an faktischen Beschwerdemöglichkeiten (S. 123).

Bei aller Sympathie für die sozialen Menschenrechte argumentiert M. Krennerich stets besonnen: So fügt er in diesem Zusammenhang einschränkend hinzu, dass soziale Leistungsrechte – anders als soziale Abwehrrechte – durch Handlungsgebote gekennzeichnet seien und daher einen größeren politischen Gestaltungsspielraum ließen. Juristisch sei die Einhaltung von Leistungsrechten – auch bürgerlich-politischen – daher mitunter nur begrenzt überprüfbar. Aber selbst dann können soziale Menschenrechte immer noch ein „kritisches Potential“ entfalten, wie der Autor betont, in dem sie als Berufungsgrundlage für die Anprangerung soziale Missstände genutzt werden (S. 475). Ohnehin sieht M. Krennerich eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion darin, die sozialen Menschenrechte „in ihrer ganzen Interpretationsweite zu entfalten“, damit sie vollumfänglich umgesetzt werden und neue und vernachlässigte menschenrechtliche Aspekte Gehör finden (S. 144). Eine übermäßige Verrechtlichung der Politik durch die sozialen Menschenrechte sei also weder gewünscht noch zu befürchten: Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bezwecken „keineswegs, den – im Idealfall demokratisch legitimierten – politischen Institutionen die Verantwortung über die konkrete Ausgestaltung ihrer Wirtschafts- und Sozialsysteme oder ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitiken zu entziehen“ (S. 106). Sie verpflichteten Staaten jedoch zur „Ergreifung konkreter Maßnahmen, um im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Voraussetzungen für eine freiheitliche, selbstbestimmte Lebensgestaltung herzustellen, und über die eingeleiteten Schritte Rechenschaft abzulegen“ (ebd.). In diesem Sinne sei der soziale Menschenrechtsschutz in der Tat noch viel zu wenig verrechtlicht (S. 477).

Nun erschöpft sich der Zweck der vorgelegten Studie nicht darin, ein zeitgemäßes Verständnis der sozialen Menschenrechte zu vermitteln. Der Autor hat sich vielmehr zum Ziel gesetzt, die Grundlagen für eine stärker fachspezifische Auseinandersetzung mit den sozialen Menschenrechten in der Politikwissenschaft zu legen. Es gelte die unter Politikwissenschaftlern nach wie vor bestehenden Berührungsängste gegenüber dem (normativen) Konzept der sozialen Menschenrechte zu überwinden.2 Ansonsten laufe die eigene Disziplin Gefahr, universell gültige Mindestvorgaben an staatliche Politik weitgehend unbeachtet zu lassen. Immerhin könne die interdisziplinäre bzw. politikwissenschaftliche Herangehensweise auch den Rechtsdiskurs bereichern, da die Prozesse der Normsetzung, Norminterpretation und Normdurchsetzung „im Bereich der wsk-Rechte maßgeblich durch gesellschaftliche und politische Akteure mitgeprägt und vorangetrieben werden“ (S. 12).

Eine Schlüsselrolle bei diesen „politischen“ Prozessen schreibt M. Krennerich Nichtregierungsorganisationen zu. Denn für die erfolgreiche Artikulation von Unrechtserfahrungen in der Sprache der Menschenrechte sei das organisierte Handeln wirkkräftiger kollektiver Akteure entscheidend. Wie der Autor an verschiedenen Stellen belegt, haben NGOs in letzten beiden Jahrzehnten tatsächlich ganz wesentlich auf die Norm(weiter-)entwicklung im Bereich der wsk-Rechte Einfluss genommen (S. 90/ 328). Gleichzeitig wirken sie angesichts kaum verfügbarer Zwangsmittel maßgeblich an der Durchsetzung der sozialen Menschenrechte mit, indem sie staatliches Fehlverhalten öffentlich anprangern und damit Kommunikations-, Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck erzeugen.

M. Krennerich weist in diesem Kontext auch auf die zahlreichen politischen und strukturellen constraints hin, mit denen besonders marginalisierte Bevölkerungsgruppen bei der Artikulation und Übersetzung ihrer Unrechtserfahrungen in die Sprache der Menschenrechte zu kämpfen haben. Die Erfolgsaussichten ihrer Bestrebungen steigen natürlich, wenn sie die Unterstützung größerer „gatekeeper“-NGOs wie zum Beispiel FIAN International erhalten.3

In den theoretisch gehaltenen Kapiteln seines Buches zeigt M. Krennerich schließlich, wie politische Prozesse der Kodifizierung, Auslegung und Durchsetzung der sozialen Menschenrechte im „eklektizistischen“ Rückgriff auf unterschiedliche Theorietraditionen der Politik- und Sozialwissenschaft und die für sie zentralen Begriffe wie Macht, Interesse, Habitualisierung und Überzeugung im Einzelnen verständlich gemacht werden können.

Besonders anschaulich wird dies am Beispiel des Bedeutungswandels der sozialen Menschenrechte seit Anfang der 1990er-Jahre. Mit dem Öffnen politischer Räume nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nutzten NGOs, die sich für wsk-Rechte einsetzten, zunehmend die gewachsenen Beteiligungsmöglichkeiten für nichtstaatliche Akteure in den Diskursforen der globalen Menschenrechtspolitik, um zeitgemäße Deutungsangebote der sozialen Menschenreche zu machen. Häufig gelang ihnen dies durch die Einbindung in transnationales kollektives Handeln. Transnationale advokatorische Netzwerke und Koalitionen (bzw. Diskurskoalitionen), in denen neben NGOs auch „gleichgesinnte“ akademische Experten, Vertreter/innen staatlicher Institutionen und internationaler Organisationen zusammenfanden, wirkten in vielen Fällen erfolgreich auf die Neuinterpretation („re-framing“) sozialer Menschenrechte hin (S. 329). Die Einbettung staatlicher Akteure in den internationalen Menschenrechtsdiskurs löste dann Lernprozesse aus und brachte in einigen Fällen die allmähliche Übernahme und Akzeptanz neuer Begriffsverständnisse durch „routinehafte Habitualisierung“ mit sich, wie der Autor am Beispiel der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik illustriert. Dasselbe Beispiel zeigt aber auch, dass Verständigungs- und Internalisierungsprozesse begrenzt sind, wo Wertvorstellungen und politische Handlungsziele anders gewichtet bzw. handfeste Interessen im Spiel sind. Die deutsche Innenpolitik hat der Diskurswandel im Bereich der sozialen Menschenrechte jedenfalls noch nicht recht erfasst.

Leider ist der Überblick über die Anknüpfungsmöglichkeiten an die Theorien der Politik- und Sozialwissenschaft insgesamt etwas kurz geraten. Die Aussagen des Autors sind teils so stark verdichtet, dass nicht mehr als ein Eindruck vom „heuristischen Nutzen“ bestehender Theorieangebote und relevanter Schlüsselbegriffe bleibt. Vielleicht wäre es da anschaulicher gewesen, theoretische Anknüpfungspunkte in die jeweils relevanten deskriptiven Teile des Buches zu integrieren. Man hätte sich auch mehr Hinweise auf konkreten politikwissenschaftlichen Forschungsbedarf im Bereich der wsk-Rechte erhofft.

Ungeachtet dieses Mankos ist M. Krennerich eine wirklich überzeugende Studie gelungen. Das Buch eignet sich hervorragend als Nachschlagewerk für alle, die einen schnellen Zugang und aktuellen Überblick zur Thematik suchen. Dafür sorgt schon der eindrucksvolle Überblick über die mittlerweile „solide völkerrechtliche Grundlage“ der sozialen Menschenrechte. Erhellend ist auch die ausführliche Zusammenschau der einzelnen sozialen Menschenrechte. Vergleichbares dürfte jedenfalls im deutschsprachigen Raum kaum zu finden sein. Am meisten überzeugt die Studie jedoch durch ihr modernes Verständnis der sozialen Menschenrechte, die nicht mehr in Abgrenzung zu den politischen und bürgerlichen Rechten definiert werden. Sie kann als Ausgangspunkt für einen sachlicheren Umgang mit dem Thema dienen und eröffnet zugleich Perspektiven für eine differenziertere Auseinandersetzung mit den sozialen Menschenrechten in der Öffentlichkeit und Wissenschaft.

Anmerkungen:
1 Heiner Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen, Freiburg 2011, S. 123 [zitiert nach Krennerich, S. 338].
2 Siehe auch Michael Freeman, Human Rights, 2. überarb. Aufl., Cambridge 2011 (1. Aufl. 2002), S. 7.
3 Für eine eher kritische Sicht auf die Rolle der NGOs siehe Clifford Bob, The International Struggle for New Human Rights, Philadelphia 2009; ders., The Marketing of Rebellion: Insurgents, Media, and International Activism, New York 2005.

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