Sprache der Menschenrechte und Sprachen des Rechts

Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hrsg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2010 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-0639-4 448 S. € 29,90

: The Language of Human Rights in West Germany. . Philadelphia 2012 : University of Pennsylvania Press, ISBN 978-0-8122-4448-9 277 S. € 55,13

Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Dominik Rigoll, Friedrich-Schiller-Universität Jena / Centre Marc Bloch, Berlin

Samuel Moyn, dessen Arbeiten die Historiographie der Menschenrechte in den letzten Jahren geprägt haben, sah sich unlängst zu einem wenig optimistischen Zwischenfazit veranlasst. Es sei alles andere als ausgemacht, dass sich die Geschichte der Menschenrechte dauerhaft als intellektueller Fixpunkt etabliert. Genauso gut sei es möglich, dass sie „ihre ergiebigste Zeit bereits hinter sich hat, wenn sie überhaupt je ein Forschungsfeld war, dessen Aufbau sich gelohnt hat“. Insbesondere stünde wohl zu erwarten, dass der in Gang befindliche „geopolitische Wandel“ nicht nur weg geführt habe vom Menschenrechtsoptimismus der 1990er-Jahre, sondern bald auch ganz „andere Ideologien und Praktiken als plausibler erscheinen lassen“ werde – „im Guten wie im Schlechten“. Dass es eine solche Entwicklung geben könnte, legt freilich nicht nur die Gegenwart einer „multipolaren Welt“ nahe, „die unter einer Wirtschaftskrise und dem Niedergang der USA und Europas leidet“, wie der an der Columbia Universität lehrende Historiker schreibt.1 Auch Moyns historische Analysen sprechen dafür. Hoben diese doch völlig zurecht stets hervor, dass human rights bis vor kurzem vor allem deshalb auf dem Vormarsch sein konnten, weil seit den 1970er-Jahren andere Utopien – zuerst die kommunistische, dann die des sozialen Nationalstaats – mehr und mehr in die Defensive gerieten.2

Auch Stefan-Ludwig Hoffmann geht in der von ihm herausgebenden „Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert“ davon aus, dass diese als das „Produkt einer globalen Gewalt- und Konfliktgeschichte“ geschrieben werden müsse, „die kein Telos besitzt und auch ganz anders hätte verlaufen können“. Die vierzehn Beiträge sollen denn auch zeigen, dass es in einem Zeitalter der Extreme „nicht einen, sondern mehrere, moralpolitisch konkurrierende Universen gab, die sich auf die Menschenrechte berufen konnten“ (S. 36). Da die englische Fassung des Bandes, die anstelle eines Beitrags über Menschenrechte und Sklaverei zwei Aufsätze über „Displaced Persons in Postwar Europe“ und „Soviet Rights-Talk in the Post-Stalin Era“ enthält, auf H-Soz-u-Kult bereits besprochen wurde3, fokussiert diese Rezension den konfliktgeschichtlichen Aspekt. Dies bietet sich nicht zuletzt deshalb an, da auch Lora Wildenthal in Westdeutschland nicht weniger als fünf konkurrierende languages of human rights identifiziert.

In Wirklichkeit freilich handeln die meisten der in „Moralpolitik“ versammelten Beiträge nicht nur von der Konkurrenz verschiedener Menschenrechtspolitiken, sondern von antagonistischen Formen des rights talk, die zwar oft, aber nicht immer mit den Formen und Inhalten des human rights talk kompatibel waren. Besonders spürbar ist dies im zweiten Teil des Bandes, der sich, stark vereinfacht ausgedrückt, an dem Spannungsfeld zwischen der „Verrechtlichung der Welt“ und dem Anspruch auf nationale Souveränität abarbeitet. So behandelt Kevin Grants Artikel über die staatliche Abschaffung der Sklaverei 1885–1956 zunächst den Antagonismus zwischen der britischen Regierung, die vor allem aus ökonomischen und machtpolitischen Gründen an Völkerrechtskonventionen zum Sklavenhandel interessiert war, und solchen Akteuren, die sich im Namen der Menschenrechte erfolglos für die Abschaffung der Sklaverei engagierten. Erst 1942 kam die Sprache der Menschenrechte auch bei rassistischen Machtpolitikern wie dem Buren Jan Smuts an, der nun keinen Widerspruch mehr darin sah, mit Begeisterung für die Menschenrechte der Afrikaner einzutreten und zugleich das Apartheidregime zur rechtfertigen. Auch bei der Kriminalisierung des Völkermords nach 1945 argumentierten zwar alle Akteure innerhalb des von Devon Penda analysierten „legalistischen Paradigmas“, jedoch taten sie dies bei weitem nicht immer mit dem Verweis auf die Existenz von Menschenrechten. Ähnliches gilt für die Debatte über Kriegsverbrecherprozesse gegen pakistanische Soldaten in Bangladesch (Dirk Moses) und die Kampagne gegen Chile nach 1973 (Jan Eckel), an der sich auch Staaten und politische Gruppen beteiligten, die ein marxistisches-leninistisches Rechtsverständnis. Fabian Kloses Beitrag handelt nicht nur von der vergleichsweise geringen Bedeutung der Menschenrechte in der Argumentation afrikanischer Befreiungsbewegungen, sondern auch von dem Bemühen der Kolonialherren, ihre Massaker und Foltermaßnahmen mit Mitteln des Rechts zu legalisieren. Die International Labour Organisation (ILO), mit der sich Daniel Maul befasst, schrieb sich nach ihrer Gründung in den 1920er-Jahren zunächst nur „soziale Gerechtigkeit“ auf ihre Fahnen und adaptierte die Sprache der Menschenrechte erst 1944. Die von Andreas Eckert porträtierten afrikanischen Nationalisten wandten sich oft sozialistischen Rechtsvorstellungen zu, nachdem sie dem Menschenrechtsdiskurs enttäuscht den Rücken zugekehrt hatten. Im Fall des von Celia Donert untersuchten Engagements von Angehörigen der Charta 77 für die Roma war es genau umgekehrt. Sie wandten sich den Menschenrechten zu und vom Staatssozialismus ab.

Im ersten Teil des Bandes, der sich mit der „Emergenz der Menschenrechte“ beschäftigt, ist der Fokus stärker auf human rights im engeren Sinne gerichtet, namentlich in Mikael Rask Madsens Beitrag über die europäische Menschenrechtskonvention im Kalten Krieg. Aber auch Mark Mazower kommt nicht umhin, in seinem Beitrag über das „Ende der Zivilisation“ und den „Aufstieg der Menschenrechte“ auf Juristen wie Carl Schmitt hinzuweisen, deren ganz eigener rights talk davon ausging, dass die „Sprache internationaler Zivilisation und Humanität“ bloß die „Machtansprüche der Sieger von Versailles“ verdeckte (S. 55). Und in den Artikeln von Samuel Moyn über Jacques Maritains, von Glenda Sluga über René Cassin, von Lora Wildenthal über Rudolf Laun steht ebenfalls nicht so sehr die Konkurrenz von Menschenrechtspolitiken im Vordergrund als die Hinwendung zur Sprache der Menschenrechte aus einem spezifischen historischen Kontext heraus. Für Jennifer Amos’ Beitrag über die UDSSR und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt letztlich ganz Ähnliches – nur dass die Sowjetunion ein wenig flexibler mit dem human rights talk umging als dessen intellektuelle „Gründerväter“.

Lora Wildenthal bezieht sich in ihrer Einleitung ausdrücklich auf Stefan-Ludwig Hoffmann, der mittlerweile in Berkeley lehrt, und Samuel Moyn, dessen Arbeiten im US-amerikanischen Kontext vor allem auch deshalb wichtig waren, weil sie triumphalistisch-normativen – und damit letztlich ahistorischen – Menschenrechtsgeschichten eine Absage erteilten. So hebt auch Wildenthal hervor, dass sich in der Bundesrepublik nicht nur Gruppen wie Amnesty die Menschenrechte auf die Fahnen schrieben. Vielmehr repräsentiere die heute wohl bekannteste deutsche Menschenrechtsorganisation nur eine von fünf „Sprachen der Menschenrechte“, die zwischen 1945 und 1990 in Westdeutschland gesprochen wurden.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, also lange bevor die westdeutsche Sektion der britischen Organisation das Licht der Welt erblickte, versuchten einstige Mitglieder der 1933 verbotenen Deutschen Liga für Menschenrechte eine Neugründung (Kap. 1). Die DLM war 1923 mit tatkräftiger Unterstützung der Ligue française pour la défense des droits de l‘homme et du citoyen gegründet worden. In der Weimarer Republik war sie vor allem für Bürgerrechte und die Aussöhnung des Deutschen Reiches mit seinen Nachbarn eingetreten. Sehr erfolgreich waren die Versuche einer Neugründung nicht, was zum einen am linkssozialistischen Programm der Liga lag, zum anderen an der Bedeutung, die sie der Aufklärung über NS-Verbrechen beimaß. Offiziell wurde die Liga vor allem deshalb von Alliierten und Aufbaupolitikern gleichermaßen skeptisch beäugt, weil einige ihrer Mitglieder trotz des Kalten Krieges an der Zusammenarbeit mit den Kommunisten festhalten wollten. Nur etwas mehr Erfolg konnte in der frühen Nachkriegszeit Rudolf Laun verzeichnen, der den Begriff des „Rechts auf Heimat“ prägte und so die Sprache der Menschenrechte in der Debatte um Flucht und Vertreibung zu etablieren versuchte (Kap. 2; der Text entspricht in etwa dem Beitrag Wildenthals in „Moralpolitik“). Allerdings verlor der Staatsrechtler, der im Dritten Reich mutig gegen den Strom geschwommen war, nach Gründung der Bundesrepublik rasch an Bedeutung, da seine weniger mutigen Kollegen nun Stichwortgeber wie ihn nicht mehr brauchten. Einen langsamen, aber stetigen Aufschwung erfuhr die Sprache der Menschenrechte dann erst seit 1959 wieder, als von der Godesberg-SPD enttäuschte Intellektuelle wie Ossip K. Flechtheim, Margherita von Brentano und Wolfgang Fritz Haug die Internationale Liga für Menschenrechte ins Leben riefen.

Dieser erneute Versuch einer Handvoll vergleichsweise isolierter Intellektueller, an die sozialistisch-radikaldemokratische Tradition der DLM anzuknüpfen, fiel auf fruchtbareren Boden als 1945, da sich im Kampf gegen die Notstandsgesetze viele Angehörige der 68er-Generation mit den Älteren verbündeten, von denen viele NS-Verfolgte gewesen waren. Ungleich stärker auf bürgerrechtliche Themen fokussiert – und damit offener für Menschen jenseits des linken Spektrums – war die 1961 ins Leben gerufene Humanistische Union. Im gleichen Jahr wurde bekanntlich auch Amnesty Westdeutschland gegründet, wobei Wildenthal hervorhebt, wie fließend die personellen Übergänge zwischen den drei Organisationen anfangs waren. So hätten sich selbst die westdeutschen Amnesty-Gründer nicht etwa wegen im Ausland begangener Verbrechen entsprechend engagiert, sondern aufgrund der Defizite, die sie in Westdeutschland beim Umgang mit der NS-Vergangenheit oder in puncto Bürgerrechte identifizierten (Kap. 3). Als insbesondere Amnesty in den siebziger Jahren mehr und mehr Zulauf fand, wurde auch das „Recht auf Heimat“ wieder breiter rezipiert – und von den „deutschen Ostgebieten“ weg hin auf andere Weltregionen wie Biafra und Palästina projiziert. Stichwortgeber war nun allerdings nicht der längst vergessene NS-Gegner Laun, sondern der 1932 im Sudetenland geborene Völkerrechtler Otto Kimminich, der in seinen Schriften nicht nur völkisch argumentierte, sondern auch für die Validität des Münchner Abkommens plädierte (Kap. 4). Bei Kimminich, der sich in den neunziger Jahren mit Nachdruck gegen die faktische Abschaffung des Asylrechts wandte, können radikale Rechte ebenso fündig werden wie linksliberale Gruppierungen wie Terre des Femmes. Der Fokus der Frauenrechtlerinnen auf Ehrenmorde in muslimischen Familien und Klitorisbeschneidungen in afrikanischen Ländern erklärt sich Wildenthal zufolge nicht allein aus der Unmenschlichkeit dieser Praktiken, sondern auch aus dem Selbstbild der engagierten Frauen (Kap. 5).

Gerade weil Wildenthal nicht nur die üblichen Verdächtigen im Blick hat, sondern alle möglichen Gruppen und Einzelpersonen, die sich in den Jahren 1945 bis 1990 in Westdeutschland die Verteidigung der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben haben, sollten ihre Studie nicht nur Leute lesen, die sich für die Geschichte der Menschenrechte interessieren. Letztlich hilft das Buch nämlich auch dabei, einige der politischen Ambivalenzen und moralischen Absurditäten sichtbar zu machen, die für die bundesdeutsche „Erfolgsgeschichte“ so charakteristisch sind. Dass die Grundrechte hierzulande einen so großen Stellenwert einnehmen konnten, hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass Bürgerinnen und Bürger, die diese Rechte zwölf Jahre lang mit Füßen traten, sie nach 1949 erfolgreich für sich in Anspruch nehmen konnten. Auch Hoffmanns Band ist nicht nur deshalb ein Standardwerk, weil der Herausgeber ein wahres Panoptikum an nationalen und transnationalen Moralpolitiken versammelt hat, sondern auch, weil er in seiner Einleitung ein Forschungsprogramm skizziert, das weit über diese Einzelgeschichten hinausweist.

Auf der anderen Seite zeigt gerade der über das Menschenrechtsthema hinausweisende Mehrwert beider Bücher, wie problematisch der Fokus auf Menschenrechtsdiskurse ist, wenn man erklären will, warum diese in bestimmten historischen Kontexten auftauchten und in anderen nicht. Denn wenn man mit Moyn davon ausgeht, dass die Sprache der Menschenrechte gleichsam in einem ständigen politischen Wettbewerb mit anderen Utopien stand, wird man, wenn man zum Beispiel den Siegeszug der human rights seit den siebziger Jahren verstehen will, auch ganz andere Sprachen des Rechts in den Blick nehmen müssen. Neben den von Wildenthal mit einbezogenen Bürgerrechtsdiskursen der Humanistischen Union wären hier zum einen kommunistische Rechtsvorstellungen zu untersuchen, die es ja nicht nur in der DDR gab und die ebenfalls Überschneidungen zur Sprache der Menschenrechte aufwiesen, etwa im Umfeld der Zeitschrift Die Justiz oder in den Kampagnen gegen Berufsverbote.4 Zum anderen wäre die Sprache der Rechtsstaatlichkeit in den Blick zu nehmen, deren weltweiter Siegeszug wohl ebenfalls in den siebziger Jahren begann, weil sie von linksliberalen Aktivisten aus der Amnesty-Gruppe und erzkonservativen Innenministern gleichermaßen gesprochen werden konnte.5 Möglicherweise hilft dieser Blick auf den Zusammenhang „zwischen der Existenz miteinander konkurrierender Internationalismen und der Dynamisierung der Menschenrechtsdebatte“6 auch dabei, den eigenen Untersuchungsgegenstand nicht mehr als ein Moment des „bewussten Wegsehens von der nahen Zukunft“ wahrzunehmen, sondern als „entschiedener Schritt in diese“.7

Anmerkungen:
1 Samuel Moyn, Die neue Historiographie der Menschenrechte, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 545–572, hier S. 570ff.
2 Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010.
3 Stefan-Ludwig Hoffmann (ed.), Human Rights in the Twentieth Century, Cambridge 2011; William Michael Schmidli: Rezension zu: Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hrsg.): Human Rights in the Twentieth Century. Cambridge 2011, in: H-Soz-u-Kult, 18.05.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=15759> (11.11.2013).
4 Vgl. Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013, S. 371–396; ders., Erfahrene Alte und entradikalisierte 68er. Menschenrechte im roten Jahrzehnt, in: Norbert Frei / Annette Weinke (Hrsg.), Toward A New Moral World Order. Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen 2013, S. 182–192.
5 Vgl. Michel Foucault, Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France (1978–1979), Paris 2004, S. 184; Detlef Georgia Schulze u.a. (Hrsg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne, 2 Bde., Münster 2010.
6 Annette Weinke, Vom „Nie wieder“ zur diskursiven Ressource. Menschenrechte als Strukturprinzip internationaler Politik seit 1945, in: Frei/dies., Anm. 4, S. 12–39; hier: S. 14.
7 Moyn, wie Anm. 1, S. 572.

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