Cover
Titel
Geschichtstheater. Formen der „Living History“. Eine Typologie


Autor(en)
Hochbruck, Wolfgang
Reihe
Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen / History in Popular Cultures 10
Anzahl Seiten
152 S.
Preis
€ 22,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Koch / Stefanie Samida, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Seit den 1990er-Jahren hat die erlebnisorientierte Darstellung und Vermittlung historischer Themen stetig zugenommen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist etwa die kürzlich in Leipzig von 6.000 Darstellern nachgestellte Völkerschlacht, die nicht nur mehrere tausend Zuschauer anzog, sondern auch ein enormes Medienecho auslöste.1 Neben solchen überregional aufsehenerregenden Aktionen finden wir solche Repräsentationen von Geschichte üblicherweise auf sogenannten ‚Mittelaltermärkten‘, historischen Stadtfesten und Spektakeln sowie in Freilichtmuseen. Mittlerweile ist diese körperliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit für alle Epochen kulturelle Praxis und damit auch zum Forschungsgegenstand zahlreicher kulturwissenschaftlicher Fächer geworden.2

Möchte man diese Geschichtsdarstellungen und Geschichtsaneignungen begrifflich fassen, bietet sich das Label ‚Living History‘ an, das im deutschen mehr schlecht als recht auch als ‚lebendige/wiederbelebte/belebte Geschichte‘ übersetzt wird. Mit der Monografie „Geschichtstheater: Formen der ‚Living History‘. Eine Typologie“ von Wolfgang Hochbruck liegt nun ein Buch vor, das sich unter dem Begriff ‚Geschichtstheater‘ mit verschiedenen Formaten beschäftigt, in denen historische Ereignisse, Personen und Zustände theatral vergegenwärtigt werden. Es geht dem Autor vor allem um die Etablierung einer – bislang fehlenden – Typologie des ‚Geschichtstheaters‘: Das „Oxymoron der Living History“ soll nach „Herkunft, Bandbreite ihrer Erscheinungsformen und Einordnung in die Mediengesellschaft“ (S. 15) präsentiert und kritisch gewürdigt werden. Motivationen der Darsteller (S. 11), Rezeptionsprozesse im Kontext der Living History (S. 15) oder Aspekte der in der Szene überaus wichtigen „Authentizität“ (S. 30) werden hingegen nicht behandelt.

Der Autor – Amerikanist an der Universität Freiburg – hat zwischen 1994 und 2002 nicht nur verschiedentlich selbst aktiv – also als Darsteller – an Reenactments in den USA, in Großbritannien, den Niederlanden und in Deutschland teilgenommen, sondern widmet sich auch wissenschaftlich schon seit Jahren diesem Thema. Hochbruck ist zweifellos ein Kenner der Materie. Darüber hinaus ist er Mitbegründer der Geschichtstheatergesellschaft e.V. und leitete von 2007 bis 2010 das Teilprojekt „Geschichtstheater: (Re-)Konstruktionen nordamerikanischer historischer Lebenswelten“ der Forschergruppe 875 Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität Freiburg (S. 10).

Das Buch ist in vier Kapitel von recht unterschiedlicher Länge gegliedert. Den Beginn macht eine knappe Einleitung (S. 7ff.), die eher an ein Vorwort erinnert und etwas kryptisch als „Das postmoderne Chronosyndrom“ überschrieben ist. Kapitel zwei (S. 11ff.) liefert eine kurze Einführung in das Thema und einen forschungsgeschichtlichen Abriss, in dem die historischen Vorläuferformen knapp vorgestellt werden. Hochbruck formuliert hier eine Trias der Ursprünge des Geschichtstheaters und leitet diese funktional her: er verortet sie im (quasi-)religiösen Ritual, beispielsweise den christlichen Passionsspielen, in der historisierenden Erinnerung, etwa in den sogenannten pageants des 19. Jahrhunderts, sowie im zirzensischen Spektakel, wie er es in den Naumachien der Römischen Kaiserzeit findet. Das dritte Kapitel stellt den Kern des Buchs dar (S. 33-129) und ist nochmals in sechs Unterkapitel gegliedert, in denen eine Typologie des Geschichtstheaters ausgebreitet wird. Den Abschluss bilden das Kapitel ‚Retro‘-Schluss (S. 131ff.) und die Bibliografie (S. 137ff.).

Hochbruck hat sich in den vergangenen Jahren in seinen Arbeiten immer wieder mit der unklaren Terminologie beschäftigt und darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff ‚Living History‘ semantisch unklar sei und, wie schon erwähnt, einen oxymoronischen Charakter habe. Er führte daher als Oberbegriff ‚Geschichtstheater‘ in die Diskussion ein, von dem zum Beispiel die Modi ,Museumstheater‘ und ‚Reenactment‘ zu trennen seien. Diesen Ansatz verfolgt er nun ausführlich in seinem Buch. Seiner Einschätzung nach ist der Begriff ‚Geschichtstheater‘ zwar klarer als ‚Living History‘, weil er zum einen die Geschichtlichkeit in den Vordergrund stelle und zum anderen mit ihm die „wesentliche Komponente der performativen Darstellung“ abgebildet werde (S. 11). Dennoch hält er am Begriff ‚Living History‘ fest, der einerseits nicht mehr rückgängig zu machen sei und andererseits deutlicher als die Bezeichnung ‚Geschichtstheater‘ das ‚Als-Ob‘ dieser Repräsentation akzentuiere (S. 13). Man mag hierin einen Widerspruch sehen, aber unabhängig davon ist es sinnvoll, den seit Jahrzehnten etablierten Begriff ‚Living History‘ nicht aufzugeben, zumal ein solcher Versuch in Anbetracht der anglophonen Dominanz in der Debatte ohnehin zum Scheitern verurteilt wäre.

Living History bzw. Geschichtstheater lässt sich nach Hochbruck grob in sechs Formate gliedern, wobei er weitere Differenzierungen einzelner Formate vornimmt. Zu den sechs von ihm klassifizierten Formen gehören die Experimentelle Archäologie (S. 37ff.), die Living History Interpretation (S. 42ff.), historische Festzüge (pageantries) (S. 81ff.), Reenactments (S. 92ff.), Rollenspiel im schulischen Kontext (S. 118ff.) sowie Doku-Soaps (S. 123ff.). Die Aufnahme der Experimentellen Archäologie in den Kanon der Living History-Formate ist allerdings abzulehnen, auch wenn sie von vielen Wissenschaftlern – und besonders auch von Darstellern und Zuschauern – immer wieder in den Kontext der Living History gestellt wird. Hochbruck vermischt hier das archäologische Spezialgebiet, das mithilfe von wissenschaftlichen Experimenten zu Einsichten über bestimmte ur- und frühgeschichtliche Gegebenheiten zu kommen versucht, mit der oft anzutreffenden Archäotechnik, in deren Fokus nicht die wissenschaftliche Dokumentation der Versuche, sondern in erster Linie das Produkt und der Weg dorthin stehen. Experimentelle Archäologie ist hingegen eine archäologische Methode, mit der unter kontrollierbaren Bedingungen Thesen experimentell überprüft werden; sie ist daher strikt von Living History-Formaten zu trennen.3 Die Hochbruck’sche ‚Typologie‘ ist – bis auf die genannte Ausnahme – durchaus plausibel, ob sie sich allerdings durchzusetzen vermag, steht auf einem anderen Blatt.

Im Abschlusskapitel ‚Retro‘-Schluss zieht Hochbruck nicht nur ein Resümee, sondern listet in einer Tabelle diverse „Präsentationsformen historischer Lebenswelten“ auf, die in den Kategorien „Wissenschaftlicher Erkenntnisansatz“, „Reflektion und Dokumentation“, „Vermittlungsanspruch“, „Einsatz speziell ausgebildeter Fachkräfte“ sowie dem „Entertainment-Faktor“ bewertet werden (S. 131ff.). Er betont die „zentrale Rolle [des Geschichtstheaters] bei der Definition dessen […], was Geschichte gewesen sein wird“ (S. 136) und schließt nicht gänzlich zu Unrecht mit dem Appell, dass „akademische Historiker Geschichtstheater ernst nehmen sollten“ (ebd.). Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Geschichtswissenschaft ebenso wie das Geschichtstheater ein weites, heterogenes Feld ist. Es stellt sich also die Frage, welcher Funktion des Geschichtstheaters Hochbruck mehr Aufmerksamkeit durch die akademische Geschichtswissenschaft wünscht: Ist das Geschichtstheater ein geschichtskulturelles und damit gesellschaftliches Phänomen? Stellt es eine Methode des Historischen Lernens – diesen Feldern widmen sich die Geschichtsdidaktik und die Public History mit zunehmendem Interesse – dar?4 Oder ist es ein Forschungsfeld der zumeist genuin der Geschichtswissenschaft zugeschriebenen Vergangenheitsforschung? Hier sollte der Appell nicht nur in die Richtung der Historiker gehen, sondern gleichfalls die Archäologien und die Historischen Kulturwissenschaften zu einem kritischen Diskurs anregen. Dabei muss man jedoch bedenken, dass sie neben methodologischen Differenzen gegenüber dem Geschichtstheater grundsätzlich unterschiedliche Fragestellungen verfolgen.

Es kann abschließend nicht ausbleiben, noch kurz auf die äußerst nachlässige Redaktion des Buchs einzugehen. Fehler bleiben, selbst wenn ein intensives Lektorat durch den Verlag vorgenommen wird, selbstverständlich in keinem Buch aus. Gerade aber bei Publikationen, bei denen kein Lektorat mehr durch den Verlag durchgeführt wird – wie das etwa beim transcript Verlag in der Regel der Fall ist –, ist der Autor in der Pflicht, diese Aufgabe zu übernehmen. Es ist daher mehr als störend, wenn man – gefühlt – auf nahezu jeder fünften Seite auf Trennstriche in Wörtern stößt, wo keine sein sollten. Mehr als unschön ist auch, dass zahlreiche im Text zitierte Autoren nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt werden und der Leser ein ums andere Mal umsonst nach hinten blättert. Die Hinweise sind für den Leser ‚tot‘ und müssen langwierig anderweitig recherchiert werden. Nicht einmal auf das Inhaltsverzeichnis kann man sich hinsichtlich der letzten beiden Abschnitte verlassen: hier stehen falsche Seitenangaben.

Das ändert freilich nichts daran, dass das Buch für ‚Neulinge‘ einen informativen Überblick bietet, für Kenner der ‚Szene‘ hingegen reichlich Diskussionsstoff.

Anmerkungen:
1 Zur Völkerschlacht z.B. Monika Fenn, 200 Jahre Völkerschlacht – Was bleibt nach der Eventisierung?, in: Public History Weekly 1 (2013) 2, DOI: <dx.doi.org/10.1515/phw-2013-192> (02.12.2013).
2 Das Thema ‚boomt‘, das zeigen die in den letzten Jahren zahlreiche Sammelbände und Aufsätze. Darüber hinaus widmet sich derzeit ein fachübergreifendes am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und an der Eberhard Karls Universität Tübingen angesiedeltes Forschungsprojekt diesem Thema, <http://www.livinghistory.uni-tuebingen.de> (09.12.2013).
3 Zur Unterscheidung von Experimenteller Archäologie und Living History z.B. Ulrike Weller, Quo vadis Experimentelle Archäologie?, in: Experimentelle Archäologie in Europa. Bilanz 2010, Oldenburg 2010, S. 9–13, hier: S. 11f.
4 Vgl. z.B. Berit Pleitner, Kundschafter in einer anderen Welt? Überlegungen zur Funktion der Emotionen in Living-History-Darstellungen, in: Juliane Brauer / Martin Lücke (Hrsg.), Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 223–238.

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