A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?

Cover
Titel
Ist die Zeit aus den Fugen?. Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne


Autor(en)
Assmann, Aleida
Erschienen
München 2013: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Seefried, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin

Erst in den letzten Jahren ist die „Zeit“ verstärkt in den Blickpunkt geschichtswissenschaftlicher Forschung gerückt.1 Das muss zunächst verwundern, denn der Forschungsgegenstand des Historikers ist die vergangene Zeit, eine seiner Aufgaben ist die Periodisierung des Vergangenen in Relation zu Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Doch fragt man nach historischen Zeitverhältnissen und Zeitverständnissen, so wurden die mittlerweile klassischen Arbeiten Reinhart Kosellecks aus den 1970er- und 1980er-Jahren zunächst nur punktuell weiter verfolgt.2 Indes erlebte mit dem Aufstieg der Kulturgeschichte seit den 1990er-Jahren die Erforschung der Erinnerungskultur einen Boom, und dies lässt sich nun in den weiteren Rahmen einer Zeit-Geschichte einordnen.3

Das gilt auch für das jüngste Buch der Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die seit vielen Jahren mit Grundlagenwerken zum kulturellen Gedächtnis hervorgetreten ist. Ihre Monographie „Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne“ ordnet in gewisser Weise ihre bisherigen Forschungen zeittheoretisch ein. Dabei versteht sie „kulturelles Zeitregime“ allgemein als einen „Komplex kultureller Vorannahmen, Werte und Entscheidungen, der menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deutung steuert, ohne dass diese Grundlagen vom Individuum selbst bewusst reflektiert werden“ (S. 19). Ihre übergreifende These, dass sich das moderne Zeitregime seit den 1980er-Jahren in ein neues, „spätmodernes“ Zeitregime gewandelt habe, bewegt sich im Kontext zeitphilosophischer und soziologischer Arbeiten etwa Paul Virilios oder Hartmut Rosas, die auf den „rasenden Stillstand“ bzw. die „Beschleunigung“ verweisen, aber auch des Historikers François Hartog, der einen neuen „Präsentismus“ zu erkennen meint.4 Assmanns kluge Thesen zielen derweil in eine etwas andere Richtung. Sie sieht das Zeitregime der Moderne gekennzeichnet von einer emphatischen Orientierung an der Zukunft und der Vorstellung eines Bruchs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit der Krise des Fortschrittsverständnisses seit den 1980er-Jahren scheine es, als sei „die Zeit aus den Fugen“ geraten. Doch im neuen, spätmodernen Zeitregime rückten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wieder zusammen, und aus der Verkopplung von Vergangenheit und Gegenwart resultiere auch die Konjunktur von Erinnerung und Gedächtnis seit den 1980er-Jahren.

In drei Kapiteln skizziert Assmann zunächst das Zeitregime der Moderne. Hierbei stützt sie sich auf Kosellecks Thesen zur „vergangenen Zukunft“: In der „Sattelzeit“ habe sich ein lineares Zeitverständnis entwickelt, das gewissermaßen auf einem Zeitstrahl Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anordnete. Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte seien auseinander getreten: Der moderne Fortschrittsbegriff entstand, und zugleich bildete sich das moderne Verständnis der „Geschichte“ aus, welches von Gegenwart und Zukunft „radikal abgeschnitten“ wurde (S. 79). So formte sich der Gegenstand der jungen Geschichtswissenschaft, wohingegen sich die Gesellschaft als Ganzes emphatisch Richtung Zukunft bewegte. Dabei identifiziert Assmann in einer bestechenden Systematisierung fünf Aspekte des modernen Zeitregimes: ein suggeriertes Brechen der Zeit als Separierung der drei Zeitebenen; die Fiktion des Anfangs, welche das moderne Aufbruch- und Fortschrittsverständnis spiegele; die kreative Zerstörung; die Erfindung des Historischen als Versuch, die Vergangenheit zu rekonstruieren und sie zugleich von Gegenwart und Zukunft abzuspalten; sowie schließlich die Beschleunigung als Befund oder Denkfigur, welche die moderne Zeitwahrnehmung dauernder Dynamisierung aufzeige. Darüber hinaus verweist Assmann, um die räumliche Dimension des modernen Zeitregimes einzufangen, auf die westliche Modernisierungstheorie, die weit über ein wissenschaftliches Paradigma hinausreichte. Diese Modernisierungskultur will Assmann am Beispiel der USA verdeutlichen. Dabei betrachtet sie vor allem das 18. und 19. Jahrhundert, ohne genauer auf die Bedeutung des Kalten Krieges für die amerikanischen Modernisierungsverständnisse einzugehen, was hier besonders naheliegend gewesen wäre.

Die drei folgenden Kapitel nutzt Assmann, um eine „Krise“ des modernen Zeitregimes und ihre Überwindung in Zeitkonzepten der Spätmoderne zu erläutern. Sie skizziert die „Kompensationstheorien“ der 1970er- und 1980er-Jahre, mit denen liberalkonservative Intellektuelle wie Odo Marquard und Hermann Lübbe die Problematik der dauernden „Gegenwartsschrumpfung“ (Lübbe) und die Notwendigkeit einer neuen Verklammerung von Herkunft und Zukunft (Marquard) hervorhoben. Den Kompensationstheorien, welche im Kern – so Assmann – den Denkmustern der Modernisierung verhaftet blieben, stellt sie die Gedächtnistheorie gegenüber. Diese erkenne in der Vergangenheit den Stoff, aus dem im Modus des Erinnerns Identität und Sinn gemacht würden und der sich durch seine Abhängigkeit von den Lebenden in der Gegenwart ständig ändere. In einem konstruktivistischen Verständnis stellt die Theorie des kulturellen Gedächtnisses damit die Existenz „der“ Vergangenheit in Frage. Zugleich hole die Erinnerungskultur die Vergangenheit in die Gegenwart herein, und auch die Zukunft suche nicht mehr im utopischen Sinne der Moderne nach dem „neuen Menschen“, sondern sei eigentlich eine Verlängerung von Gegenwärtigem und Vergangenem, die sich stark aus deren Sinndeutungen speise. So näherten sich Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte wieder einander an, ja die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überlappten sich.

Diese Verschiebung habe Unbehagen ausgelöst. Doch die „Krise“ des modernen Zeitregimes sei eigentlich keine Krise, sondern nur eine Normalisierung und Rehabilitierung jener Aspekte, die das moderne Zeitregime ausgeschlossen habe. Die Thesen François Hartogs, der in der Erinnerungskultur, die nicht mehr mit der Vergangenheit korrespondiere, vor allem eine allgegenwärtige Gegenwart identifizierte, deutet Assmann um: Die Gegenwart sei im kulturwissenschaftlichen Verständnis der Ort, an dem Menschen sich Zukunft und Vergangenheit selbst erschüfen. Doch dies bedeute nicht das Ende „der“ Vergangenheit, nur das Nachdenken über das Vergangene habe sich mit der Erinnerungskultur vervielfältigt. Diese sei neben die geschichtswissenschaftliche Forschung getreten, die sich dadurch ihrer Verwurzelung in der Gegenwart stärker bewusst werde, und beide Zugänge könnten sich gegenseitig befruchten. Im Kern liefert sie so mit ihrer Einordnung der Gedächtnistheorie in ein erneuertes Zeitregime eine zeithistorische Legitimation des eigenen erinnerungskulturellen Zugangs.

Assmann bettet ihre überzeugenden Thesen versiert in einen großen zeittheoretischen Kontext ein und reichert sie vor allem mit literaturhistorischen Zitaten an. Offen bleibt zum einen die Frage nach inneren Gegenkräften und Ambivalenzen im modernen Zeitregime. Die Autorin verweist zwar darauf, die Moderne sei durch diskontinuierliche „Modernisierungsschübe“ (S. 92) gekennzeichnet gewesen, doch sie verzichtet auf eine Binnendifferenzierung. Zum anderen stellt sich die Frage, warum sich das moderne Zeitregime abschliff. Assmann verweist etwa auf den Umbruch 1989/90, der eine neue Welle der Identitätssuche und Identitätsbildung ausgelöst habe. An anderer Stelle nennt sie die Globalisierung mit dem Aufstieg Chinas, während Europa und der Westen ihre „Rolle als Zeitgeber und zentrale Steuerinstanz des Fortschritts verloren haben“ (S. 285). Auf die geschichtswissenschaftliche Diskussion um die „Hochmoderne“ und die Ära „nach dem Boom“5 geht sie nur am Rande ein. An dieser Stelle wäre ein Verweis auf die neuen zeithistorischen Forschungen zu den 1970er- und 1980er-Jahren wichtig gewesen, der auch geholfen hätte, jene Phase als Wasserscheide neuer Zeitwahrnehmungen und Zukunftsverständnisse auszumachen. Denn nicht erst in den 1980er-Jahren, sondern schon Anfang der 1970er-Jahre, mit der Erosion des Steuerungsparadigmas und der Infragestellung bisheriger Fortschrittsverständnisse, kamen Zeitdeutungen und Zukunftserwartungen ins Wanken. Der Umschwung von der emphatischen Orientierung an der Zukunft zum Gedächtnis hätte sich so präziser zeithistorisch greifen lassen. Ob auch die „Spätmoderne“ so eindeutig zuzuordnen ist, wäre in weiteren Forschungen zu prüfen: Wird in den 1990er-Jahren nicht ein neuer Technikoptimismus fassbar und damit ein Fortschrittsverständnis, das Verbindungslinien zu den 1960er-Jahren aufweist? Freilich war es auch nicht Assmanns Ziel, eine zeithistorische Studie vorzulegen, sondern eine kulturwissenschaftliche Einordnung zu liefern; und diesen Anspruch hat sie mit ihrem thesenstarken, sehr anregenden Buch voll und ganz eingelöst.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012; Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version 2.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 22.10.2012, URL: <http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2.0_R.C3.BCdiger_Graf?oldid=84945> (18.2.2014); TRIVIUM 9 (2011): Das Tempo des Lebens. Zeit und Zeitwahrnehmungen, hrsg. von Alexandre Escudier und Ingrid Holtey, URL: <http://trivium.revues.org/4027> (18.2.2014); Achim Landwehr (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012; Chris Lorenz / Berber Bevernage (Hrsg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future, Göttingen 2013 (rezensiert von Achim Landwehr, in: H-Soz-u-Kult, 17.12.2013: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-4-219> [18.2.2014]).
2 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979; vgl. aber Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main 1999 (rezensiert von Alexander Schmidt-Gernig, in: H-Soz-u-Kult, 10.2.2000: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=252=252> [18.2.2014]); ders., Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003.
3 U.a. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003; Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen, in: Docupedia-Zeitgeschichte, Version 2.0, 22.10.2012, URL: <http://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Corneli.C3.9Fen?oldid=84892> (18.2.2014).
4 Paul Virilio, Rasender Stillstand, Frankfurt am Main 1998; Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005; François Hartog, Régimes d'historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003.
5 U.a. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl. Göttingen 2012.