B. Rother (Hrsg.): Brandts Außenpolitik

Titel
Willy Brandts Außenpolitik.


Herausgeber
Rother, Bernd
Erschienen
Berlin 2014: Springer VS
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh

Ohne Zweifel gehört Willy Brandt zu den bedeutendsten deutschen Politikern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Eintrag in die Geschichtsbücher wird insbesondere von der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Ostpolitik überstrahlt. Dass die Außenpolitik des vierten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland nicht nur nach Osten, sondern auch nach Westen und Süden hin ausgerichtet war, blieb in Forschung und Öffentlichkeit lange Zeit unterbelichtet. Einen ersten Versuch, Brandts Außenpolitik in ihrer ganzen Breite "systematisch darzustellen und zu analysieren" (S. 11), unternimmt nun ein von Bernd Rother herausgegebener Sammelband. Im Gegensatz zu den in der Geschichtswissenschaft mittlerweile fast üblichen Kompendien mit Aufsätz(ch)en von 10 Seiten bestechen die vier Kapitel durch Beiträge, die den Autoren breiten Raum zur Entfaltung ihrer Thesen bieten. Allesamt bestens ausgewiesen durch eigene Publikationen zum Generalthema, geht es ihnen auf der Basis intensiver Archivstudien und der jüngst abgeschlossenen "Berliner Ausgabe" der Brandt'schen Werke um die langen außenpolitischen Linien von der Zeit im Exil bis zum Vorsitz in der Nord-Süd-Kommission.

Nach einer biographischen Skizze über die Lebensstationen und einer konzisen Einführung des Herausgebers erörtert Claudia Hiepel auf gut 70 Seiten Brandts "Europakonzeptionen und Europapolitik" (S. 21). Überzeugend legt sie dar, dass das Zusammenwachsen Europas bereits im Exil zu seinen wichtigsten politischen Zielen gehörte, der Weg zum aktiven Gestalter der Europapolitik aber "keineswegs geradlinig" verlief (S. 25). Als Außenminister und Kanzler begriff Brandt die europäische Einigung stets als "westliche Komponente seiner Friedenspolitik für Europa" (S. 91) und musste erkennen, dass das Tempo seiner Visionen mit der Realität nicht in Einklang zu bringen war.

In der Frühphase der Bundesrepublik präsentierte Brandt mit seiner positiven Einstellung zu einer kleineuropäischen Gemeinschaft gleichsam "den Gegenentwurf" zum Kurs des SPD-Vorsitzenden Schumacher (S. 32). Dass er überdies ein enges Zusammengehen mit den USA befürwortete, machte seine Position in der Partei nicht einfacher. Wie Judith Michel in ihrem nicht minder ausführlichen Beitrag nachweist, entsprang Brandts Einstellung zur westlichen Vormacht nicht nur aus der in der ersten Berlinkrise gewonnenen Überzeugung, dass die USA die "Verteidigerin der Freiheit" seien (S. 158). Sie war auch Teil einer Selbstinszenierung und wurde in erheblichem Maße von den Verpflichtungen seiner jeweiligen Ämter mitbestimmt. Trotz aller "wirkliche[n] Werte- und Interessenidentität" weisen Brandts Amerikabild und -politik denn auch eine bemerkenswerte "Ambivalenz" auf (S. 160). Seit Anfang der 1980er-Jahre übte der SPD-Vorsitzende im Rahmen einer "hybriden Form von Nebenaußenpolitik" (Rother, S. 348) eine scharfe Kritik an der Sicherheitspolitik des Präsidenten Ronald Reagan. Ob Brandt an der Notwendigkeit des nordatlantischen Bündnisses dennoch "nie zweifelte" (Rother, S. 14), scheint keineswegs ausgemacht. Die deutsche NATO-Mitgliedschaft, beteuerte er Anfang Oktober 1982 im Deutschen Bundestag, müsse so lange aufrechterhalten bleiben, "bis eine Ordnung des Friedens für Europa die Auflösung der Militärbündnisse erlaubt oder sogar gebietet" 1. Als Fernziel, so schrieb er Petra Kelly wenige Tage später, sei der "Abbau beider Militärblöcke" anzustreben 2.

Schon seit den 1950er-Jahren, dies belegt die fast monographische Studie von Wolfgang Schmidt, suchte Brandt ungeachtet seiner prinzipiellen Westorientierung nach Wegen zur Überwindung des Ost-West-Konflikts. Nach dem Berliner Mauerbau und der Kuba-Krise arbeitete er mit Unterstützung Egon Bahrs an einem Konzept zur Revision der Deutschland- und Ostpolitik, in dessen Zentrum die Begriff "Koexistenz" und "Transformation" (S. 252) standen. Die Wiedervereinigung Deutschlands galt ihm dabei als ein zentrales Ziel, an dessen Erreichbarkeit er aber seit 1969 "im Grunde nicht mehr glaubte" (S. 254). Wenn er den Gewinn der deutschen Einheit 1990 im Gegensatz zu manch anderem Parteifreund dennoch entschieden begrüßte und das Ende des Ost-West-Konflikts gewissermaßen als eines seiner Lebensziele begriff, so darf dabei, wie Rother in Erinnerung ruft, nicht vergessen werden, dass zu diesem Ergebnis "viele Faktoren" mitgespielt hatten, "die nicht Brandts Politik zuzurechnen sind" (S. 15). Dazu gehörten, wie Schmidt ungeschminkt zugibt, nicht zuletzt der "Wandel von unten" in den ostmitteleuropäischen Staaten, der im ostpolitischen Konzept der SPD in den 1980er-Jahren "nicht mehr vorgesehen" war, und die NATO-Nachrüstung, die Brandt mit großen Teilen der SPD massiv bekämpft hatte (S. 256).

Nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler 1974 wandte sich der SPD-Vorsitzende neuen außenpolitischen Aufgaben zu – der transatlantischen Zusammenarbeit und dem Abbau des Nord-Süd-Konflikts. Als institutionelles Fundament diente ihm vor allem die Sozialistische Internationale, die er als Präsident "von einer starren, einer Partei ähnlichen transnationalen Organisation zu einem Kommunikationsnetzwerk" umformte (Rother, S. 15). Wie Rother in einer gut 70-seitigen Abhandlung zu zeigen vermag, erhob er "die Errungenschaften des europäischen Wohlfahrtsstaates" dabei zum "globalen Orientierungspunkt" (S. 333). Als die beiden wichtigsten Bausteine in seinem "globalen Konzept einer sozialdemokratischen Alternative" fungierten Portugal und Nicaragua (S. 334).

Brandts Außenpolitik, dies unterstreicht Rothers luzides Schlusskapitel, zeichnete einige markante Grundlagen, Methoden und Formen aus: "die 'kleinen Schritte' und die Suche nach gemeinsamen Interessen der Beteiligten als Methode" (S. 19) sowie die "Friedenssicherung und die Verbesserung des Loses der Menschen" als wesentlicher Inhalt (S. 356). Seine außenpolitische Gedankenwelt war keineswegs "nur 'idealisiert'" (S. 357), nationale Interessen galten ihm aber nie als "einziger Fixpunkt" (S. 336). Auch wenn Brandts Außenpolitik kein "vorbedachtes Grand Design" umfasste, fügt sie sich zumindest in der Rückschau "zu einem Ganzen", nämlich dem "Bemühen, den Weltfrieden zu sichern und sozialdemokratischen Werten globale Geltung zu verschaffen" (S. 357).

Mit ihren durchaus wohlwollenden, aber nie unkritischen Untersuchungen gelingt es den Autoren, den zentralen Tätigkeitsfeldern der Außenpolitik Willy Brandt prägnante Kontur zu verleihen. Dem in der Reihe "Akteure der Außenpolitik" erschienenen Band wünscht der Rezensent daher zahlreiche Leser. An den Verlag gerichtet, erlaubt er sich den doppelten Hinweis, Informationen über bereits vorhandene Bände der Reihe vergebens gesucht und die Angaben zu deren Herausgeber als außerordentlich spartanisch empfunden zu haben: "T. Jäger, Köln, Deutschland" (S. 1).

Anmerkungen:
1 Bundestagsrede Brandts, 1.10.1982, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Stenographische Berichte, Bd. 122, S. 7185–7192, S. 7190.
2 Archiv der sozialen Demokratie, Willy-Brandt-Archiv, SPD/Parteivorsitzender/Parteipräsidium/Parteivorstand, Persönliche Korrespondenz, Mappe 134, Brandt an Petra Kelly, 11.10.1982; vgl. Ulrich Lappenküper, Willy Brandt, Frankreich und die Ost-West-Beziehungen (1974–1990), in: Horst Möller/Maurice Vaïsse (Hrsg.), Willy Brandt und Frankreich, München 2005, S.257–277.

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